Tichys Einblick
Regierungserklärung

Angela Merkel und „wir“ und der Sieg über „das Virus“

Nach ihrem von den Landesregierungen erzwungenen Teilrückzug versucht die Bundeskanzlerin im Bundestag wieder die Reihen zu schließen – und spricht wie die Anführerin eines Krieg führenden Landes.

Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrer Regierungserklärung im Bundestag am 11. Februar 2020

IMAGO / Political-Moments

Angela Merkel gibt befremdliche Sätze von sich. So auch in ihrer Regierungserklärung vor dem Bundestag zu den am Mittwoch mit den Länderregierungschefs getroffenen Beschlüssen. „Das Virus richtet sich nach Infektionszahlen“. Was soll man von dieser Aussage der Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung vor dem Bundestag halten? Das Virus als rationaler Akteur, der sich nach etwas „richtet“? Den Satz sollte man sich vielleicht merken für den Fall, dass noch einmal jemand behauptet, Merkel betreibe als promovierte Physikerin eine sachlich-rationale und keinesfalls sentimentale Politik.

Den Satz sagte sie im Zusammenhang mit ihrer Linie, die Lockerungen der Anti-Corona-Maßnahmen nicht auf bestimmte Termine festzulegen, sondern an Inzidenzwerte zu binden. Offenbar will sie in ihrer eigenen nebelhaften Diktion den Eindruck vermitteln, dass sie nach ihrem nun rund ein Jahr langen Kampf gegen das Virus, dieses nun sozusagen persönlich durchschaut habe und seine Kniffe kenne. Das Virus als „Gegner“ oder gar „Feind“ zu bezeichnen, das ist auch bei Jens Spahn längst zu einem Leitnarrativ geworden. Als ob ein Virus – ein mikroskopisch kleiner Krankheitserreger ohne Nervensystem – von so etwas wie einem „Willen” zum Sieg getrieben wäre, und sich zu diesem Zweck immer neue, perfide Taktiken einfallen ließe.

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Umso absurder ist diese Darstellung des Virus, als Merkel – allerdings nicht nur sie – zugleich eine evolutionsbiologische Selbstverständlichkeit wie eine besondere Perfidie dieses Virus-Feindes darstellt: nämlich die Tatsache, dass es sich nach dem Schema der Evolution verändert. Das tun übrigens nicht nur Viren, sondern tut alles Leben auf Erden: Alle heutigen Arten, auch Homo sapiens, sind das Ergebnis von Mutationen früherer Arten. Ohne Mutation keine Evolution. Bei Viren geht es nur sehr viel schneller als bei Menschen. Wer dahinter einen Willen oder ein „sich nach irgendetwas Richten“ vermutet oder behauptet, hat die Funktionsweise der Evolution nicht begriffen – oder überschreitet die Grenze zur Metaphysik.

Aber ums Begreifen geht es in Merkels Regierungserklärung vermutlich am wenigsten. Wohl eher darum, ihren gestrigen Teilrückzug zu konsolidieren. Erzwungen wurde der nicht etwa vom Virus, sondern von den Länderregierungschefs und dem hinter diesen wachsenden Unmut in der Bevölkerung. Nach so einem Rückzug muss man, wie jeder Heerführer weiß, vor allem die eigenen Truppen wieder fest um sich versammeln und zum weiterkämpfen motivieren.

Darum war das Wörtchen „wir“ ein zentrales Stilmittel bei Merkels Auftritt im Bundestag. Es ist dieses unbestimmte Merkel-Wir, das die CDU, die Bundesregierung oder auch buchstäblich alle Menschen, zumindest alle in Deutschland (von den Deutschen ist bekanntlich bei ihr schon lange nicht mehr die Rede) umfassen kann. Sie sagte also Sätze wie: „Noch ist nicht alles auserforscht, aber wir tun gut daran, an den Annahmen vieler Expertinnen und Experten aus dem In- und Ausland nicht zu zweifeln, wenn sie uns erklären, alle drei Mutationen sind deutlich aggressiver, also ansteckender, übertragen sich leichter als das Ursprungsvirus.“

Wo es ein Wir gibt, gibt es in der Regel auch „die anderen“. Viele Historiker behaupten sogar, dass „othering“, also die Definition der nicht dazu Gehörenden immer notwendig sei, um ein Wir überhaupt zu „konstruieren“. Dass dies der Ursprung des Nationalismus und allen Übels in der Weltgeschichte sei, versteht sich nach dieser Theorie von selbst, weshalb die „Dekonstruktion“ von Nationen und anderen historischen Hinterlassenschaften von vielen als Hauptaufgabe moderner Kulturwissenschaft begriffen wird. Aber natürlich kommt es immer darauf an, wer konstruiert – und wen oder was. Die Konstruktion des Proletariats und der Bourgeoisie durch Marx und Engels ist zum Beispiel noch nicht dekonstruiert worden.

Merkel versucht sich nun im letzten Jahr ihrer Regierung in einer ganz neuen Variante des Othering: Nicht fremde Menschen sind „die anderen“, sondern das Virus. Und so inszeniert sich die unkriegerische Merkel wie die Anführerin eines Krieg führenden Landes, wenn sie im Schlusssatz vor dem Bundestag sagt: „Am Ende können wir es gemeinsam schaffen, diese Pandemie zu besiegen und unser Land wieder in bessere Zeiten zu führen.“

Wenn sie dazu wenigstens erklärt hätte, worin dieser Sieg bestehen soll. Weiß sie es denn selbst?

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