Tichys Einblick
Engel Aloisius

G8 oder G9 – Vom Ende einer Realsatire

So hoffen wir denn im Interesse des gymnasialen Anspruchs sowie seiner Schüler in Bayern und über Bayern hinaus auf gute Eingebungen des Münchners Alois Hingerl im Himmel, der angeblich als Götterbote die bayerische Staatsregierung berät.

© Caiaimage/Sam Edwards/Getty Images

Acht Jahre Gymnasium oder neun? Kein bildungspolitisches Thema hat die Öffentlichkeit seit Jahrzehnten so in Atem gehalten wie diese Streitfrage. Nun, es gibt – wenige – ökonomische Gründe für ein G8; und es gibt – viele – pädagogische, entwicklungspsychologische Gründe pro G9. Diese Gründe abzuwägen, reichen 4.000 Zeichen an dieser Stelle nicht aus. In der „hohen“ Politik spielen Gründe und Argumente ohnehin eher selten eine Rolle. Hier geht es um sachfremde Motive, die mit Pseudoargumenten kaschiert werden. Zum Beispiel das Motiv, dass man ja Wahlen verlieren könnte und deshalb urplötzlich wieder Sachargumente vorgibt.

Was also sind bzw. waren die Motive, einem ehemals vergleichsweise intakten Gymnasium die 13. Klasse wegzuamputieren? Bei Reichsminister Bernhard Rust war das Motiv 1936/37 eine entsprechende Anordnung Hitlers: Man wollte mit einer Verkürzung des Gymnasiums mit einem Schlag zwei Jahrgänge an Abiturienten und damit an Offiziersanwärtern haben. In der DDR war das Motiv ab 1949 die Anpassung des Bildungssystems an das sowjetische Vorbild mit zwölf Jahren bis zum Studium. Die Länder der 1949 gegründeten Bundesrepublik stockten das Gymnasium – übrigens gegen den Willen der Westalliierten – ab Beginn der 1950er Jahre wieder auf neun Jahre auf. Für Helmut Kohl waren es bei einem entsprechenden CDU-Parteitagsbeschluss 1981 und im Kontext mit der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) von 1987 europapolitische Motive für eine Kappung der 9. Gymnasialklasse: Angeblich kamen alle anderen europäischen Länder schneller zum Abitur (wenn man es denn mit diesem Begriff so benennen wollte). Dann kam die Wiedervereinigung. Ein paar neue Länder waren stolz auf „ihre Errungenschaft“ (siehe 1936/37!) einer zwölfjährigen Schulzeit bis zum Studium mit acht (!) Prozent eines Jahresganges. Andere neue Länder lavierten je nach Farbkonstellation der Landesregierung zwischen acht und neun Jahren hin und her.

Nun, steter Tropfen höhlt den Stein. Und so machten sich bald nach der Jahrtausendwende alle „alten“ Länder (Ausnahme: Rheinland-Pfalz mit 12,5 Jahren) auf zum G8. Besonders hervortat sich dabei Bayerns damaliger Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU), der zwar selbst 14 Schuljahre bis zum Abitur benötigt hatte, der aber ab Herbst 2003 nach einem 60-Prozent-Ergebnis bei der Landtagswahl vor lauter Kraft nicht mehr meinte laufen zu können. Kopf- und konzeptionslos zog er im Frühjahr 2004 das G8 für Bayern durch. Stoibers Durchpeitscher war sein damaliger Staatskanzleichef Erwin Huber, später selbst vorübergehend CSU-Vorsitzender, der alle Einsprüche gegen ein G8 mit so umwerfenden „Argumenten“ wie den folgenden plattmachte: „Wenn man einen Sumpf trockenlegen will, darf man nicht die Frösche fragen.“ Oder nochmals Huber: „Wenn ich meine Tochter in der 12. Klasse an einem Schultag erst um 9 Uhr aus der häuslichen Dusche kommen sehe, dann weiß ich, dass es im neunjährigen Gymnasium Leerlauf gibt.“ (Vater Huber war sich da wohl seiner erzieherischen Verantwortung nicht so ganz bewusst.)

Nun also gilt in Sachen Gymnasium nach 13 Jahren permanenter Reformen der Reformen der Reformen: „ROMA LOCUTA, CAUSA FINITA“. (Rom, in diesem Fall Horst Seehofer höchstpersönlich, hat gesprochen, die Sache ist beendet.) Endlich, möchte man erleichtert aufatmen. Ehe man aber jetzt glaubt, dass nun alles wieder in Butter ist, sollten noch einige entscheidende Fragen geklärt werden: Ist es wirklich sinnvoll, dass die vermutlich maximal zehn Prozent Schüler, die nach acht Jahren Abitur machen wollen, ausgerechnet die 11. Klasse auslassen? Wird das neue G9 ein in die Länge gezogenes G8 light? Was ist 2025, wenn es in Bayern außer ein paar „Springern“ gar keinen Abiturjahrgang gibt, weil die letzten „G8er“ 2024 mit Abitur verschwinden und erst 2026 die ersten „G9er“ ihr Abitur machen?

So hoffen wir denn im Interesse des gymnasialen Anspruchs sowie seiner Schüler in Bayern und über Bayern hinaus auf gute Eingebungen des Münchners Alois Hingerl im Himmel, der angeblich als Götterbote die bayerische Staatsregierung berät. Er möge die Einsichten mitbringen, dass wir deutschlandweit wieder ein Gymnasium brauchen, das Atteste der Studierbefähigung und nicht nur der Studierberechtigung vergibt.