Tichys Einblick
Hessen zeigt: Es geht doch

Abitur in Corona-Zeiten: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los“

Alle möglichen Varianten von Nicht- oder Alternativ-Abitur geistern nun durch die Landschaft. Obendrein gibt es Briefe an die Kanzlerin. Es gibt Anwälte, die Schüler zu Klagen vor Gericht ermuntern. Eine Berliner Abiturientin rief das Verwaltungsgericht an.

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Das wirksamste Mittel gegen politisch und medial inszenierte Hysterie-Epidemien ist die Begegnung mit der Realität. Das gilt auch für die angeblich riesige Aufregung um Abiturprüfungen in Zeiten von Corona. Alle möglichen Varianten von Nicht- oder Alternativ-Abitur geistern hier durch die Landschaft: ein Verschieben um zwei oder drei Wochen, eine Verschiebung in die womöglich verkürzten Sommerferien oder ins neue Schuljahr hinein, ein gänzliches Wegfallenlassen der Abschlussprüfungen, ein Hochrechnen bisheriger Schulleistungen zu einer fiktiven Abiturnote usw.

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Selbst Schulministerinnen waren bzw. sind nicht ganz frei von letzterer Idee. Schleswig-Holsteins Kultusministerin Karin Prien (CDU) ist damit Mitte März vorgeprescht. Die linke Lehrergewerkschaft GEW unterstützte Priens Vorstoß als „sinnvolle und vernünftige Entscheidung“, die Vereinigung der Berliner Oberstudiendirektoren ebenfalls. Sogar die Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes liebäugelte damit vorübergehend. Siehe hier. Schlussendlich wurde Prien von der Kultusministerkonferenz und von ihrem Ministerpräsidenten Daniel Günther (CDU) zurückgeholt. Die Abiturprüfungen beginnen dort jetzt doch am 21. April. Alles andere wäre absurd gewesen, zumal Günther ankündigte, sein Land wolle Veranstaltungen bis zu 1.000 Leuten wieder zulassen.
Wer rief die „Geister“, die man nun nicht los wird?

Am 25. März hatte die Kultusministerkonferenz festgehalten, dass eine Absage der Abiturprüfung und ein Ersatz der Abiturprüfung durch bereits zuvor erbrachte Leistungen nicht zur Debatte stünden. Kaum war dies vereinbart und Ministerin Prien zurückgepfiffen, preschte NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) wieder vor und meinte am 6. April, Abiturnoten sollten notfalls ohne Abschlussprüfung errechnet werden. Sie berief sich dabei auf Schüler: „Bei den Abiturienten gibt es viele Vorschläge, wie beispielsweise eine Gesamtnote ohne Abiturprüfung zu ermitteln“, sagte sie.

„Die ich rief, die Geister, werd‘ ich nun nicht los.“ An diesen Hilferuf aus Goethes „Zauberlehrling“ müsste sich Gebauer jetzt schmerzhaft erinnern. In NRW sollen die Abiturprüfungen nach dreiwöchiger Verschiebung jedenfalls am 11. Mai beginnen. Und eben dagegen formiert sich spektakulär und medial orchestriert Widerstand. Zum Schulboykott wird aufgerufen – mit drastischen Sprüchen („Was nützt mir ein Abitur, wenn ich tot bin.“) und maßlosen Bildern (etwa eines fingierten Gefallenenfriedhofs mit den Grabkreuzen für die „besten Schüler des Abiturjahrgangs 2020“). Siehe hier.

Lange nichts von „Friday for Future“ vernommen? Offensichtlich unter dem Entzug medialer Präsenz leidend, springt die „Bewegung“ nun ebenfalls auf das Corona-Trittbrett auf. Man will streiken. Hier gilt ebenfalls: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.“ Hatten die Schulschwänzer nicht Lob von höchster Stelle erfahren!? Kanzlerin und Bundespräsident hatten die Schulschwänzer für ihr Engagement gelobt. „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut“ – Das war einer der verbalen Hochkaräter der Freitagshüpfer, die sich jetzt fragen müssten, ob sie sich nicht selbst die Zukunft klauen.

Obendrein gibt es Briefe an die Kanzlerin. Es gibt Anwälte, die Schüler zu Klagen vor Gericht ermuntern. Eine Berliner Abiturientin rief das Verwaltungsgericht an. Ergebnis gottlob: Sie muss am 20. April trotz Corona-Angst ihre erste Prüfung schreiben. Bisher sei nicht zu erkennen, dass sie gefährdet sei, so die Richter in einem Eilentscheid vom 17. April. Im Detail sagten die Richter: Die Abiturientin habe nicht glaubhaft machen können, dass die Abstandsregelung von mindestens eineinhalb Metern zwischen den Schülern nicht eingehalten werde (Aktenzeichen VG14L59.20). Und weiter: Die Abnahme der Prüfung sei unter seuchenrechtlichen Gesichtspunkten zulässig. Die Senatsverwaltung habe den Schulen strenge Schutzmaßnahmen vorgeschrieben. Dazu zähle die gleichzeitige Anwesenheit von höchstens acht, in Ausnahmefällen zehn Personen pro Prüfungsraum, heißt es in der Entscheidung. Der Abstand zwischen den Arbeitsplätzen müsse sogar bei zwei Metern liegen – mehr, als nach wissenschaftlichen Erkenntnissen nötig sei. Ende der richterlichen Durchsage.

Ja, es wäre fatal, wenn Politik und Rechtsprechung vor der gepamperten Generation Schneeflocke einknickten. Zudem wäre es Aufgabe von Eltern, Lehrern und Kultusministern, diesem Teil (!) der Generation einmal den Unterschied klar zu machen, der besteht zwischen dem Aufenthalt für dreimal vier Stunden Klausur innerhalb zweier Wochen in eigens präparierten Schulräumen und der wahrlich riskanten Arbeit von Hunderttausenden von Ärzten, Krankenpflegern, Altenpflegern und Supermarktkassiererinnen an 40 bis 60 Stunden pro Woche.

Hessen hat gezeigt, dass es geht

Und es geht doch: Das Land Hessen mit seinen aktuell rund 24.000 Aspiranten hat die schriftlichen Abiturprüfungen durchgebracht, wiewohl Corona bereits massiv im Anzug war. In Hessen fanden die schriftlichen Prüfungen vom 19. März (Fach Englisch) bis 2. April (Fach Biologie), also noch vor den anschließenden Osterferien statt. In diesem Zeitraum waren die Schulen deutschlandweit für andere Jahrgänge bereits geschlossen. Das Hessen-Abitur wurde – vorbehaltlich mündlicher und Nachholprüfungen – abgeschlossen. Und, das ergab eine Anfrage des Autors dieses Berichts bei der Presseabteilung des Hessischen Kultusministeriums vom 17. April: Dem Ministerium liegen keinerlei Erkenntnisse vor, dass es dabei und danach zu Corona-Ausbrüchen oder -Ansteckungen gekommen wäre.

Dass es zu keinen nachgewiesenen Infektionen bzw. zu keinem Ausbruch der Erkrankung im Zusammenhang mit dem hessischen Abitur kam, hat mit dem Alter der Prüflinge zu tun, aber auch mit den Vorkehrungen bei der praktischen Durchführung der Prüfung. Daran sollten sich andere deutsche Länder ein Beispiel nehmen. Es betrifft die Sitzordnung und die Raumgestaltung, die zeitliche Staffelung des Prüfungsbeginns, hygienische Maßnahmen, den Ausschluss von Schülern mit bestimmten Symptomen, die Abwesenheit aller anderen Klassenstufen an Prüfungstagen usw. Siehe hier.

Auch gegen das Abitur in Hessen hatte es Gegenaktionen von rund 7.000 Petenten gegeben. Wer auch immer die 7.000 Unterzeichner waren. Die Prüflinge selbst waren indes erleichtert, alles hinter sich zu haben. Sogar die sonst betont regierungsunkritische Frankfurter Rundschau zitierte einen Schüler mit den Worten: „Bin froh, dass das Hin und Her jetzt vorbei ist.“

Damit eines klar ist: Die allermeisten der in Deutschland 2020 anstehenden rund 350.000 Abiturienten (nicht mitgerechnet die Absolventen anderer Schulformen) möchten die Prüfungen ablegen und hinter sich bringen. Nur eine Minderheit von Schülern kommt sich wie eine Elite von Widerstandskämpfern vor. Das Gros aber möchte rechtzeitig das Abschlusszeugnis in Händen halten, weil es der Anschluss zur nächsten Station in der Vita ist: zu Berufsbildung oder Studium.

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