Tichys Einblick

Spiegel Nr. 26: dasswidan’ja Angela

Was zehn Redakteure der Titelstory bieten, ist spektakulär für das Hamburger Blatt: Merkels bleierne Zeit würde noch schwerer wiegen als die von Helmut Kohl.

Wahrscheinlich müsste beim Spiegel Ausgabe Nr.26/2018 mit einer Besprechung des Titelbilds begonnen werden. Mit einer Grafik von Lennart Gäbel, die Merkels Raute als Sanduhr zeigt samt Textzeile „Endzeit.“

Einen Tag nach dem epischen Fußballspiel gegen Schweden fällt eine Unterzeile auf dem Titel allerdings fast noch mehr ins Auge, beweist sie doch, wie schnell die Nachricht von heute eine von gestern sein kann – noch mehr für ein Wochenmagazin. Die Schlagzeile lautet: „Toni Kroos – Löws umstrittener Taktgeber.“ Eine heute vakante Headline. Quasi ein überschrittenes Verfallsdatum aufgedruckt auf dem Titelblatt wie ein 30%-Aufkleber auf dem Gehackten im Kühlregal beim Penny.

Über Kroos grandios daneben

Im Text auf Seite 94 setzen zwei Spiegel-Autoren Toni Kroos als großen Zweifler ins Bild. Als einen, der zwar wider Willen im Mittelpunkt der Elf steht, der als Schaltzentrale im defensiven Mittefeld agiert, der aber vor der WM den Teamgeist noch nicht aktiviert sieht. Der sagt: „Wir müssen wie 2014 in Brasilien das Gefühl entwickeln, eine Einheit zu sein.“ Nichts ahnend, dass er es sein würde, der in der letzten Minute der Nachspielzeit gegen Schweden mit einer makellosen wie fabelhaften Einzelleistung den Grundstein eben für diese Einheit legen sollte. Einheit aus Brillanz. Für Merkel allerdings eine unbekannte Größe.

Die Spiegelredakteure waren ebenso ahnungslos, als sie den Versuch unternahmen, Kroos über zwei Seiten hinweg subtil zwar, aber am Zeug zu flicken, wenn sie ihn am Schluss damit zitieren, er sehe in den deutschen Spielern selbst die größte Gefahr, um die Titelverteidigung gebracht zu werden.

Entmerkelung
Deutsches Fußballwunder ... und dann kam Toni Kroos!
Ein paar Seiten zuvor hat Feuilleton-Autor Alexander Osang etwas von der WM als Ort der „Völkerverständigung“ erzählt und aufgeschrieben: „Jetzt schon werden Merkel und Löw miteinander verglichen. Obwohl die eine eine humanitäre Krise lösen will und der andere Schweden schlagen.“ Und noch eine Seite weiter darf eine Professorin der Kommunikation erklären: „Warum die Fußball-WM nicht ohne Frauen funktioniert“ und aufschreiben, das in Zeiten der Quote in Aufsichtsräten auch der Fußball auf eine höhere Stufe zu hieven sei.

Aber kurz zurück zum Artikel mit dem überschrittenen Ablaufdatum, der noch auf eine andere Weise bemerkenswert erscheint, wenn er den Versuch unternimmt, Toni Kroos als so etwas wie ein anachronistisches Gewächs aus einem ostdeutschen wie deutschtümelnden Habitat zu erzählen. Ein Schuss, der von der Gegenwart auf schmerzhafte Weise in Knie der Autoren zurückgelenkt wird, die schreiben – und dass soll hier in ganzer Länge zitiert werden:

„Kroos ist in Mecklenburg-Vorpommern aufgewachsen, in Greifswald an der Ostsee, dem Geburtsort von Caspar David Friedrich und Hans Fallada. Es gibt in der Stadt eine wunderbare Sportanlage, das Volksstadion. Das Spielfeld auf dem der Greifswalder FC seine Heimpartien austrägt, ist umgeben von hohen Bäumen, die Zuschauer sitzen auf Holzbänken, in die Liebesschwüre geschnitzt sind.“

Spiegel-Vorurteil Hinterwäldler

Oder anders: eine süffisante Umschreibung der Welt deutsch-provinzieller Hinterwäldler, in der diese schon länger hier lebende Familie Kroos verwurzelt ist, wo ein Toni Kroos aufgewachsen ist, der dann eben letztlich auch ein verwurzelter Hinterwäldler sein muss. Der Spiegel am Abgrund nun auch auf der Sportseite, die allerdings war hier nie von Bedeutung: Hinterwäldler lesen keinen Spiegel. Und sie haben gute Gründe dafür.

Blick zurück - nach vorn
Blackbox KW 25 – Von Scheinheiligen und Weinseligen
Raten wir mal, wessen Endzeit eher gekommen ist: Die des Spiegels oder die von Angela Merkel. Für das Magazin mit den zwar schwindenden Abo-Zahlen spricht die hohe Akzeptanz des Spiegel-Online-Auftritts. Für Merkel spricht diese ominöse grünspanige Mitte der deutschen Gesellschaft, die sich so Mühe gibt, bloß nicht etwa für so etwas, wie einen hinterwäldlerischen Greifswälder gehalten zu werden. Hier allerdings hat die Bundeskanzlerin ihren Wahlkreis, die SPD liegt hinter der AfD, diese hier quasi gleich auf mit der Linkspartei. Und der Leiter des Spiegel-Online-Büros schreibt im Leitartikel analog zum Titelbild, es spreche viel dafür, dass die AfD erst dann wieder schrumpfen würde, wenn Merkel das Kanzleramt räumt. Jan Fleischhauer allerdings ist unter „Meinung“ der Meinung, dass Merkel die Regierungskrise viel weniger zusetzt, „als vermutet wird.“
Königinnenmord mit abgestumpftem Messerchen

So viel dazu, was der Spiegel für so etwas, wie eine interne Pluralität hält. Ja und dann muss eben sein, was sein soll: Die irgendwie schräge Spiegel-Variante des Merkel-muss-weg-Gesangs, der Abgesang auf eine Kanzlerin, deren Zuwanderungsagenda das Blatt so lange an vorderste Front gestützt hatte; der Königinnenmord mit abgestumpftem Messerchen.

SPD: Ein Umfrage-Alarm nach dem anderen
Immerhin die Einleitung zum Titelthema ist klasse, eine schöne Recherche-Leistung, wenn das Magazin Angela Merkel anno 1999 zitiert, die damals auf die Frage antwortete, welche Träume sie für die Zeit nach der Politik hätte: „Tja, ich möchte irgendwann den richtigen Zeitpunkt für den Ausstieg aus der Politik finden. Das ist viel schwerer, als ich mir das früher immer vorgestellt habe. Aber ich will kein halbtotes Wrack sein, wenn ich aus der Politik aussteige.“ Merkel muss also schon 1999 gewusste haben, dass eine Abwahl für sie keine Option ist. Also für Merkel denkbar allenfalls als so etwas, wie ein päpstlicher Amtsverzicht a la Ratzinger.

Eine Seite weiter die Ergebnisse einer Spiegel-Umfrage: 57 Prozent wollen, dass es „Flüchtlingen“ erschwert wird, nach Deutschland zu kommen. 61 Prozent wollen Zurückweisungen an der Grenze, allerdings wollen auch 58 Prozent, das Merkel am Ruder bleibt (sic!) und Flüchtlingsprobleme im Rahmen der EU zu lösen seien. Gleichwohl erkennt der Spiegel dazu, dass „die meisten EU-Partner versuchen, dieser Tage auszureizen, welchen Preis die Kanzlerin zu zahlen bereit ist.“ So soll Macron mühelos Merkels Zusage für sein Eurozonenbudget bekommen haben, wenn er nur brav abliefert in Sachen Zuspruch für Merkel gegen Seehofer. Fazit des traditionell EU-freundlichen Spiegel: „Merkel ist so erpressbar wie selten zuvor in ihrer Kanzlerschaft.“

Merkels bleierne Zeit wiege noch schwerer als die von Kohl

Zehn Spiegel Autoren waren beteiligt, diese sechs Seiten zusammenzuschustern. Und es liest sich dann tatsächlich so, als wolle nicht ein Einzelner verantwortlich sein. Ein Nachruf auf Merkel und somit letztlich auch auf ihre Zuwanderungsagenda und eine Entschuldigung der versammelten Spiegel-Redaktion ohne, dass freilich das Wort „Entschuldigung“ explizit geschrieben wird. Was die Redakteure dafür bieten ist trotzdem spektakulär für das Hamburger Blatt: Merkels bleierne Zeit würde noch schwerer wiegen, als die von Helmut Kohl.

Fähnchen im Zeitwind
Fußball-WM: Liebe Deutsche, mässigt euren Jubel
Schauen wir also mal, ob die angeschlagene Angela aus der Uckermark unseren Toni mit dem goldenen Fuß aus Greifswald bald in der Garderobe des Moskauer Luschniki-Stadions beim Duschen zuschauen darf, um anschließend ein paar neue frisch geföhnte Selfies in die Welt zu schicken. Gewissermaßen als Finale ihrer Karriere. Und als finaler Marschbefehl für hunderttausende weitere begeisterte Hobby-Kicker aus aller Welt, die an dieser erneuerten deutschen Glückseligkeit teilhaben wollen. Die Politisierung des Fußballs. Und vor den Bildschirmen Hackbällchen aus Rindermett mit 30%-Aufkleber aus dem Kühlregal beim Penny. Guten Appetit und dasswidan’ja Angela.
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