Tichys Einblick
Diskussion um die Bluttat von Frankfurt

Deutschland auf dem Weg zum Meinungs-Totalitarismus?

"Warum sind so viele Deutsche statt auf den Täter von #FrankfurtHbf wütend auf die, die auf ihn wütend sind? Warum haben sie Angst vor denen, die Angst haben vor solchen Taten?» Das fragen mich ausländische Freunde. Hier der Versuch einer Antwort.

imago images / Ralph Peters

Dass der mutmaßliche Killer von Frankfurt schon vor der Tat per Haftbefehl gesucht wurde, in der Schweiz, wirft zwingend die unbequeme, ja schmerzliche Frage auf, ob Grenzkontrollen und eine bessere Zusammenarbeit die Tat hätten verhindern können. Und es macht eine Meldung vom Mai noch beängstigender: Dass die Zahl offener Haftbefehle in Deutschland 2019 mit fast 186.000 einen neuen Höchststand erreicht hat. Im Juli warnte der Berliner Oberstaatsanwalt Knispel bei Markus Lanz, dass unser Rechtsstaat teilweise funktionsunfähig sei, und Kriminelle die überforderte Justiz auslachten. Auch gefährliche Täter blieben auf freiem Fuss.

Wir sind es dem toten Achtjährigen von #Frankfurt und seinen Angehörigen schuldig, nüchtern und sachlich und vor allen ohne jede Polemik und Ideologie (was in diesen Tagen vielen leider schwer zu fallen scheint) die Frage zu stellen, welche Lehren wir ziehen können, was wir falsch machen und was wir besser machen können.

Wir müssen endlich die Sorgen und Nöte von Polizei und Justiz, wie sie Oberstaatsanwalt Knispel ausdrückte, ernst nehmen. Wir müssen sie wieder voll handlungsfähig machen in ihrem harten Kampf gegen die Kriminalität, bei der sie für uns alle den Kopf hinhalten, und sich allzu oft allein gelassen fühlen, von der Politik, von den Medien.

Wer solche Fragen und Themen jetzt wegwischt, verhält sich unverantwortlich. Wer sie gar mit dem Hinweis abtut, wie im Internet gesehen, im Straßenverkehr kämen mehr Menschen zu Tode, der ist zynisch, ja menschenverachtend.

Tat und Motiv
Frankfurt: Achtjähriges Kind vor einfahrenden Zug gestoßen
Die heimtückische Ermordung eines achtjährigen, noch dazu von jemanden, dem Schutz und Zuflucht geboten wurde, rührt an Urängsten. Sie wirkt wie Terror, und die erste Reaktion ist die Angst um die eigenen Angehörigen und die Frage: «Was kann man tun, damit sich so etwas nicht wiederholt». Diese Ängste sind eine natürliche Reaktion. Wer die Ohren offen hat und nicht überlagert von Ideologie, hört sie im ganzen Land. Oft hinter vorgehaltener Hand – was sie noch größer macht. Wir müssen diese Ängste endlich ernst nehmen, endlich offen über sie reden, statt sie zu stigmatisieren.

Ausländische Freunde fragen mich verwundert in diesen Tagen, warum so viele Deutsche in einer Art reagieren, die sie zutiefst befremdet: „Warum sind so viele Deutsche statt auf den Täter von #FrankfurtHbf wütend auf die, die auf ihn wütend sind? Warum haben sie Angst vor denen, die Angst haben vor solchen Taten?“

Ich finde keine befriedigende Antwort, die rational wäre. Nur sicher recht laienhafte Erklärungsversuche.

Dass bei vielen heute Ideologie die Emotionen zu überlagern scheint.

Dass viele lieber die Fakten an das eigene Weltbild anpassen als umgekehrt.

Dass viele die eigenen Ängste und Wut verdrängt haben, und das zu einem Überspringen dieser ganz natürlichen Gefühle auf diejenigen führt, die eben diese verdrängten Gefühle artikulieren und damit wach werden lassen.

All das hinterlässt bei meinen ausländischen Gesprächspartnern großes Unbehagen. Und Kopfschütteln.

Eine zweite Demokratie haben wir nicht
Es ist 2019 und in Deutschland bekennt man sich wieder öffentlich zur politischen Gewalt
Ich finde auch keine Antwort auf andere Fragen meiner ausländischen Freunde (und es ist mir unheimlich, dass es vor allem die ausländischen Freunde sind, die mir diese Fragen stellen, während die deutschen eher schweigen): Warum wurde nach dem schrecklichen Tot des Kindes Alan Kurdi im Mittelmeer das Bild der Leiche in so vielen Medien gezeigt, verbunden mit der Forderung nach Konsequenzen, und bei Frankfurt verhalten sich die gleichen Leute umgekehrt – sagen, es sei ein Einzelfall, und wer Konsequenzen fordert, instrumentalisiere diese Tragödie?

Solche Fragen tun weh. Und es tut auch weh, dass sie, obwohl berechtigt, öffentlich kaum gestellt werden können, ohne Diffamierungen. Dass eine sachliche Diskussion darüber kaum noch denkbar scheint.

«Deutschland macht mir wieder Angst», sagte eine jüdische Freundin betroffen: «Viel zu vielen ist die Rationalität abhanden gekommen, und sie merken das nicht einmal. Es geht hin bis zur Negierung einfacher Kausalzusammenhänge, und Rückfall in einen Moralismus, der infantil, ja fast mittelalterlich wirkt.“

„Dieses Land fällt langsam, aber sicher dem Meinungs-Totalitarismus zum Opfer», schrieb mir eine andere ausländische Freundin, Hinterbliebene von Opfern des Kommunismus und des Nationalsozialismus, die seit vielen Jahren in Deutschland lebt und inzwischen wieder weg möchte, weil ihr nicht mehr geheuer ist, was hier passiert.

Beklemmende Eindrücke
Pressespiegel zum Mord an einem Achtjährigen in Frankfurt
Aber vielleicht könnte dieser grausame, herzzerreißende, sinnlose Tod des Achtjährigen ein zaghafter Ansatz für eine Besinnung sein. Für einen Wendepunkt zur Wiederherstellung eines konstruktiven, nicht-ideologie-beherrschten Dialogs und Umdenkens in diesem Land, das zusehends auseinander driftet, und in dem die Ideologen längst die Meinungshoheit über den öffentlichen Diskurs erobert haben und erbittet verteidigen.

Wenn wir es schaffen, wie erwachsende Menschen, ohne Scheuklappen, ohne Ideologie über die großen Tabu-Themen wie Sicherheit und Migration zu reden. Ohne diejenigen, die sich diesbezüglich Sorgen zu machen, zu diffamieren und auszuschließen.

Wenn wir es schaffen, die unterschiedliche Sozialisierung von Menschen, insbesondere auch in Folge von Gewalt und Krieg nicht mehr zu negieren und nach Lösungen für die damit verbundenen Probleme zu suchen, ohne deshalb in Pauschalurteile oder Vorverurteilungen zu verfallen.

Wenn wir es schaffen, dass in Medien Berichte über solche Taten nicht mehr faktisch herunter gespielt werden – wie in der ARD-Tagesschau am Tag der Tat um 20 Uhr. Da lief nur ein Kurzbericht von 35 Sekunden, als siebte Meldung, nach 11,5 Minuten. Ein derartiges Ereignis, das die Menschen massiv aufwühlte, darf nicht im „Kleingedruckten“ eines per Gebühren finanzierten Senders marginalisiert werden. Das schürt massives Misstrauen der Bürger und untergräbt damit Grundpfeiler unserer Gesellschaft.

Wenn wir es schaffen, dass endlich die schweigende Mehrheit lauter wird, die weder wie die Lautsprecher von den Rändern entweder generelle Vorurteile gegen Fremde hat, noch umgekehrt die großen Probleme mit massiver Migration als reine Bereicherung schönredet.

Die Hoffnung ist leider gering. Aber, wie das alte russische Sprichwort besagt – sie stirbt zuletzt.


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