Tichys Einblick
Ägäis der Migranten

Wo Griechenland und die EU an ihre Grenzen kommen

Die griechische Regierung will neue Abschiebezentren auf den Ägäis-Inseln. Aber vor allem die Inselbürger sind dagegen. Dies und die offene Grenze zur Türkei ergibt einen Teufelskreis der misslingenden Migration. Horst Seehofer will derweil die Ära Merkel mit einem neuen EU-Asylsystem krönen.

Zusammenstoß zwischen Demonstranten und Polizei vor einem Militärlager auf Lesbos am 26 Februar 2020.

MANOLIS LAGOUTARIS/AFP via Getty Images

Auf den Inseln der nördlichen Ägäis ist gerade etwas passiert, was ohne Vorbild in der jüngeren Geschichte Europas sein dürfte: Die lokalen Autoritäten wagten – aus rein politischen Motiven, nicht solchen des Separatismus – einen Aufstand und gewannen. Das lässt sich zumindest am heutigen Donnerstag so feststellen. Ebenso hat die Zentralregierung in Athen eine Schlacht mit den örtlichen Gemeinschaften gewagt und sie verloren: Die Sonderkräfte, die den Bau der neuen »geschlossenen« Asylzentren überwachen sollten, werden von den Inseln Lesbos und Chios abgezogen, da die Lage andernfalls und paradoxerweise nicht mehr zu kontrollieren wäre.

Zuvor hatte die Regierung – offenbar sehr kurzfristig – beschlossen, am Dienstag mit den Bauarbeiten zu drei Asylzentren in der nördlichen Ägäis zu beginnen. Sie schiffte Baumaschinen ein, vergaß aber nicht, jeweils einige Einheiten der griechischen Bereitschaftspolizei mitzunehmen, die sonst eher gegen Hauptstadt-Anarchisten eingesetzt werden. Man ahnte offenbar, was kam. Im Hafen von Mytilini auf Lesbos versuchten die Inselbürger zunächst, die Entladung des polizeilich geschützten Bautrupps zu verhindern. Als das misslang, begann eine Art Straßenkampf in den Wäldern der Insel: mit Steinen von der einen Seite, mit Tränengas und Leuchtgranaten von der anderen Seite, wodurch wiederum vereinzelte Waldbrände ausbrachen. Letztlich umzingelten die Bürger die Spezialeinheiten und forderten sie sehr eindringlich auf, den Ort der Schlacht zu verlassen. Am Ende soll man die Spezialkräfte sogar noch in ihren Hotels besucht haben und ihnen auch körperlich deutlich gemacht haben, wie sehr sie unerwünscht sind. So schnell kann das Gewaltmonopol eines Staates also zerbröseln.

Auf den Nachbarinseln sieht es nicht viel anders aus: Auf Chios stimmten Bürger die Nationalhymne an, während sie den Spezialeinheiten den Weg versperrten. Die Polizei antwortete mit Tränengas und Wasserwerfern. Insgesamt gibt es eine zweistellige Zahl von Verletzten. Auf Samos steht schon der erste Teil einer Containersiedlung. Die Samier wirken etwas konzilianter als die Bewohner der beiden Nachbarinseln, aber auch sie wollen kein europäisches »Guantánamo« (laut Demo-Plakat) auf ihrer Insel und haben die Bauarbeiten fürs erste gestoppt. Regionalgouverneur Kostas Moutzouris zeigte sich entsetzt über die Gewalt und forderte den sofortigen Abzug der Spezialkräfte: »Es ist eine Schande für alle und vor allem für diejenigen, die diese Maßnahmen angeordnet haben. Es ist eine Schande, dass Inselbewohner geschlagen werden und Tränengas erdulden müssen. Nicht einmal die Junta [der Obristen, 1967–1974] hat solche Dinge getan.«

Der ägäische Löwe sollte gebändigt werden, doch vorerst behält er wohl sein Fell. Ungewiss bleibt, ob die Inselbürger den Konflikt letztlich gewinnen können. Doch ihrer Widerständigkeit begegnet man auf Schritt und Tritt: Berichtet ein Reporter live von Lesbos, so steht neben ihm schon ein besorgter Bürger, der das Wort verlangt – es aber nicht immer bekommt. Am Mittwoch trat die gesamte Region Nord-Ägäis erneut in einen Generalstreik.

Ein Signal?
Griechenlands Plan: Seebarrieren gegen Einwanderer
Die Regierung in Athen wollte die neuen Asylzentren eigentlich bis zum Sommer fertigstellen, hat nun aber einen Rückschlag erlitten. Die geprügelten Spezialeinheiten sollen am Donnerstag abziehen. Ungeklärt ist damit, wie Athen die alltäglich ankommenden Migrationswellen bewältigen soll. In den letzten Wochen und Monaten wurden immer wieder Migranten von den Inseln aufs Festland gebracht. Der Zustrom aus der Türkei machte diese »Entlastung« der Inseln aber immer wieder zunichte. Es ist ein Teufelskreis der misslingenden Migration, dem das Land nicht allzu bald entkommen dürfte.

Laut Frontex hatte Griechenland im verstrichenen Jahr über 80.000 illegale Ankömmlinge auf den Inseln der Ägäis und an der Landesgrenze zur Türkei zu verzeichnen. Hinzu kamen originellerweise auch noch 1.900 illegale Grenzübertreter von Albanien nach Griechenland. Auch in den ersten beiden Monaten diesen Jahres ist der Ansturm nicht versiegt. Im Gegenteil, aus dem steten Tropfen der vergangenen Monate ist ein dauerhafter Zufluss geworden. Das zentrale Mittelmeer (Malta und Italien mit 13.800 Ankünften) und die iberische Halbinsel (mit 23.700) standen 2019 deutlich hinter der Ägäis zurück. Nach Mitteleuropa gab es angeblich 14.200 illegale Grenzübertritte vom westlichen Balkan aus und 600 von Osteuropa aus.

Der Syrer ist sicher: »Alle wollen nach Deutschland«

Wenn Horst Seehofer vor einem »zweiten 2015« warnt, dann geben die Zahlen das im Moment vielleicht noch nicht her. Aber man darf auch die Dauerbelastung der europäischen Sozialsysteme durch die illegale Immigration der vergangenen Jahre nicht vergessen. In Nordwestsyrien sollen nun erneut fast eine Million Menschen in Aufruhr, vielleicht sogar durch Luftangriffe ohne Heimstatt sein, jedenfalls aber auf gepackten Koffern sitzen. Man kann sich denken, dass die Verdienstmöglichkeiten nach acht Jahren Bürgerkrieg begrenzt sind. Da aber auch die türkischen Aufnahmelager überfüllt sind, das Land zudem mit wirtschaftlichen Problem zu tun hat, dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis noch mehr kleine Boote in der Ägäis aufkreuzen werden.

Ägäis-Inseln
Griechenland zwischen den Fronten
Doch die Lage auf den griechischen Inseln bedarf offenbar keiner Zuspitzung mehr – wohin sollte das auch noch führen? Den Gedanken, Hot-Spot für das griechische und europäische Festland zu sein, hat man dort eindrücklich zurückgewiesen. Diese Entscheidung der Bürger müsste jetzt akzeptiert werden. Denn offenbar zerstört dieses Unterbringungsmodell nicht nur den Tourismus auf den Inseln, sondern auch das Leben der Bauern und Bürger. Akzeptiert die Regierung diese Entscheidung, dann landen die ankommenden Migranten offenbar direkt auf dem Festland in wieder neuen und größeren Lagern.

Klar ist aber auch, dass die Migranten im Grunde gar nicht in Griechenland bleiben wollen. »Alle wollen nach Deutschland«, erfuhr das Handelsblatt  nun wiederum von einem Syrer. Vom Festland aus gelange man schon irgendwie – mit Schleusern oder einem gefälschten Pass – nach Mitteleuropa. Dagegen dürften die in Griechenland verbleibenden, folglich frustrierten Glücksritter ein zunehmend explosives Potential entfalten. Schon jetzt (und nicht erst seit gestern) fragen die Athener, wer die arbeitslosen Zuwanderer auf ihren Straßen einsammelt. In Griechenland gibt es im Gegensatz zu den begehrten Zielländern kein ausgebautes Sozialsystem.

Griechenland fordert einen migrationspolitischen Plan der EU

Aus dieser ganzen Gemengelage heraus wird verständlich, dass Vertreter der griechischen Regierungspartei mit wachsender Intensität einen europäischen Plan für die Asyl- und Migrationspolitik fordern. So schlug die frühere Außenministerin Dora Bakogianni vor, man solle international mit der Verhandlungsmacht der EU auftreten und so auch Abschiebungen in sich sperrende Herkunftsländer ermöglichen.

Daneben setzen auch die Athener Konservativen immer noch auf eine »Umverteilung« der ankommenden Bootsmigranten. Das dürfte freilich illusorisch bleiben – zumindest solange Heimatminister Horst Seehofer nicht sein berühmtes »Viertel« einfordert. De facto ist in der EU das Einstimmigkeitsprinzip in dieser Frage wieder etabliert, und so kann kein Beschluss gegen die Visegrád-Staaten gefällt werden, die eine solche Verteilung von Asylbewerbern ablehnen. Der stellvertretende Minister für Asyl und Migration, Georgios Koumoutsakos, setzt seine Hoffnungen dennoch auf die deutsche EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte.

Tatsächlich hat Seehofer aber angekündigt, die europäische Asylpolitik und den EU-Grenzschutz zu Schwerpunktthemen der deutschen Ratspräsidentschaft zu machen. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex sei noch nicht da, wo »wir sie haben wollen«, sagte der Innenminister Anfang Februar auf dem Europäischen Polizeikongress in Berlin.

Neben den genannten Solidaritätsadressen an die EU bemüht sich der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis um eine schlüssigere Asylpolitik auch im eigenen Hause. So gibt es seit Jahresbeginn ein neues Asylgesetz (inklusive Neugründung des passenden Ministeriums), das die Verfahren beschleunigen und so auch schnellere Abschiebungen ermöglichen soll. Aus der Schweiz hört man von »sehr guten Erfahrungen« mit »kurzen, fairen Verfahren«. Allerdings gibt es auch eine Frage: Wie schnell wird eine immer noch unterbesetzte griechische Verwaltung die 60.000 offenen Asylanträge zum Abschluss bringen können? Um das wie angekündigt in Jahresfrist zu schaffen, bräuchte man angeblich zehn Mal so viele Sachbearbeiter, als derzeit da sind. Die Reform könnte also an der puren Mathematik scheitern.

Der griechische Staat und die Herrschaft der NGOs

Daneben will Mitsotakis den Nicht-Regierungs-Organisationen auf die Finger schauen. Die Anregung dazu kam offenbar von den Ägäis-Inseln und dem unbequemen Gouverneur Moutzouris. Der stellte fest, dass sicher viele der Hilfsorganisationen ihrem Namen gerecht würden, manche aber durchaus obskur seien: »Wir wissen nicht, woher sie kommen, was sie mit ihrem Geld tun und woher dieses Geld überhaupt kommt. Darum haben wir die Regierung gebeten, aktiv zu werden und die Aktivitäten dieser NGOs zu kontrollieren.« Hier müssen die Schafe offenbar noch von den Böcken getrennt werden. Der Bürgermeister des Dörfchens Moria fasste es treffend zusammen: Die einen NGOs helfen der Gesellschaft, die anderen helfen den Migranten beim Protestieren. Sicher sei nur, dass da mehr ist, als man mit bloßem Auge erkennen könne.

Tatsächlich muss man hier auch von griechischem Staatsversagen sprechen, mindestens einem Rückzug aus hoheitlichen Aufgaben, der zu weit geht. Das Land erhielt seit 2015 allein 2,2 Milliarden Euro an EU-Mitteln für den Grenzschutz und die Kosten der Migration. Dieses Geld hätte man in ein funktionierendes Asylsystem investieren müssen, was offenkundig nicht gelang. Zum Vergleich: Deutschland erhielt im selben Zeitraum 840 Millionen Euro, Spanien 800 Millionen, Österreich und Ungarn je um die 150 Millionen, Italien allerdings mehr als eine Milliarde (alle Factsheets hier).

Die UN rufen nach der EU – es antwortet die Bundesregierung

Da der griechische Staat die mehr als 40.000 Migranten auf den Ägäis-Inseln nicht ordentlich unterbringt und versorgt, erhalten die NGOs ein freies Feld zum Beackern. So agieren statt des staatlichen Gesundheitssystems die »Ärzte ohne Grenzen«; andere NGOs verkaufen den Migranten Zelte, und irgendwoher müssen sie wohl auch die Nahrungsmittel für das selbstgekochte Essen erhalten, da das Lageressen nicht ausreicht. Der Präsident der griechischen Sektion von »Ärzte ohne Grenzen« zeigte sich bestürzt über die Lage: »Es ist empörend, diese Bedingungen in Europa zu sehen und zu wissen, dass sie nicht Folge eines Unglücks, sondern das Ergebnis gezielter politischer Entscheidungen sind.« Die Situation sei vergleichbar mit Zuständen in Kriegsgebieten oder nach einer Naturkatastrophe.

Griechenland wird nun von höchster Stelle dazu aufgerufen, diese Zustände in Ordnung zu bringen. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, Filippo Grandi, rief zu sofortigem Handeln des Landes und der EU auf. Doch in der Europäischen Union herrscht bekanntlich keine Einigkeit, was man in dieser Frage eigentlich will.

Fehler und Folgen
Standortbestimmung: 10 Jahre „Griechenland-Rettung“
Schon Anfang Februar hat Innenminister Seehofer Teile eines neuen EU-Asylkonzepts veröffentlicht, das Dublin-II ersetzen soll. Wichtig scheinen zumal zwei Punkte: Neben einer »Vorprüfung« der Asylwürdigkeit an den EU-Außengrenzen (bedeutet das eine Zuständigkeit des Grenzschutzes für Zurückweisungen?) soll es ein »faires Zuständigkeitsregime« geben, das die Verteilung der Asylbewerber sicherstellt. Dass dieses neue EU-Asylsystem in seiner Gesamtheit eine Mehrheit im EU-Rat findet, ist nach Lage der Dinge nicht zu erwarten. Vielleicht werden sogar beide Teile – von jeweils unterschiedlichen Akteuren – abgelehnt. Die Asyl- und Migrationspolitik der EU gleicht im Moment eher einer Lernäischen Schlange als dem endlich geordneten Augiasstall.
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