Tichys Einblick
Die Stimmen gegen den Lockdown mehren sich

Wird Johnson auf Ioannidis hören? Ein Epidemiologe bezweifelt den Nutzen der Lockdowns

Der Stanford-Mediziner, Statistiker und Meta-Forscher John Ioannidis warnt vor Arbeitslosigkeit, Kollateraltoten und einer »Ära der Massenüberwachung«.

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Großbritannien hat derzeit noch einen der strengsten Lockdowns in Europa. Johnson will ihn vorsichtig lockern. Auf mutigere Schritte dringen Teile seiner Partei und ein international anerkannter Epidemiologe. Der Stanford-Mediziner, Statistiker und Meta-Forscher John Ioannidis warnt vor Arbeitslosigkeit, Kollateraltoten und einer »Ära der Massenüberwachung«.

Trotz aller Wendungen seiner Corona-Politik scheint Boris Johnson das Glückskind der britischen Politik, seine Popularität ungebrochen zu sein. Die von ihm geführten Konservativen haben sich seit dem offiziellen Brexit bei einem Wähleranteil um die 50% stabilisiert und liegen damit dauerhaft über ihrem Wahlergebnis vom vergangenen Dezember. Ist das nun ein Beweis für die Popularität des EU-Austritts? Oder Folge der Pandemie, die am Ende eine starke Exekutive begünstigt? Vielleicht ein bisschen von beidem.

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Wenn man bedenkt, dass Johnson sich noch Anfang März damit brüstete, Covid-19-Patienten die Hände geschüttelt zu haben, dann gibt das einen guten Einblick von der Wendigkeit und dem Geschick des Premiers in allen Lebenslagen. Seine eigene Erkrankung, die viele im Land zunächst als PR-Stunt sehen wollten, löste am Ende sicher eine gewisse Solidarisierung aus. Zugleich ergab sich die Chance, die Krankheit und den Lockdown weniger als ein von den »Eliten« verhängtes Diktat zu sehen, sondern als eine einigende Erfahrung.

Schließlich war auch Johnson zwischen März und April zur vorsichtigen ›Corona-Taube‹ geworden. Die Klagen über den zu späten Lockdown und eine nachlässige Vorbereitung auf die Pandemie, die die Opposition und einen Teil Presse vereinen, lösten sich angesichts eines Premiers, der die Infektion selbst durchmachte und in der Folge zum Fürsprecher eines maßvollen Lockdowns wurde, teils in Luft auf. Labour-Führer Keir Starmer hat nun bei der Befragung des Premierministers ein respektables, wenn auch etwas hölzernes Debüt gegeben und mit kritischen Fragen vor allem an die Opfer der Pandemie erinnert. Für eine strikte Fortsetzung des Lockdowns setzte sich dabei vor allem der Vertreter der schottischen Nationalisten ein.

Die eigentliche Opposition

Die politische Opposition gegen den Lockdown der Regierung sitzt damit in der konservativen Partei. Schneidende Worte fand in dieser Sache vor kurzem der einflussreiche Anführer der konservativen Hinterbänkler, Graham Brady. In einer Unterhaussitzung forderte er den Premier zur schnellstmöglichen Aufhebung der »willkürlichen Regeln und Freiheitsbeschränkungen« auf. Graham machte sich damit zur Stimme der Unternehmen und beklagte stellvertretend für sie, dass die Briten inzwischen schon etwas »zu bereitwillig« zu Hause blieben. Das Kurzarbeitergeld wird als Hemmschuh gegen die Rückkehr an den Arbeitsplatz gesehen. Nur wenn man den Lockdown jetzt lockere, sei einigermaßen sicher, dass diese Arbeitsplätze auch nach dem Sommer noch existierten.

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Am Mittwoch wurde Johnson mit einem halbwegs vertraulichen Dokument photographiert, das er unvorsichtigerweise offen mit sich herumtrug. Darin riet ihm ein Mitarbeiter, Vier-Augen-Treffen mit Graham einstweilen zu vermeiden. Offenbar will sich die Regierung derzeit zu nichts drängen, auf nichts festnageln lassen. Der Impuls der Hinterbänkler war dennoch in Johnsons Ansprache vom vergangenen Sonntag zu spüren, als Johnson den britischen Lockerungsfahrplan vorstellte. Seit Mittwoch ist es danach den Briten erlaubt, ihre Wohnung so lange, wie sie wollen, und ohne Angabe bestimmter Gründe zu verlassen. Ja, Johnson ermutigte die Briten sogar »aktiv« dazu, wieder zur Arbeit zu gehen, wenn sie nicht von zu Hause arbeiten können.

Der Rest des Landes – wie Schulen, Läden, Hotels – soll in den kommenden Monaten und in mehreren Schritten wieder geöffnet werden. Was den Zeitpunkt für jeden Öffnungsschritt angeht, will Johnson sich noch nicht festlegen. Anfang Juni könnten Geschäfte und schrittweise die Schulen öffnen. Schüler der höheren Klassen werden wohl erst in einem zweiten Schritt folgen. Erst als dritter Schritt wird dann die vollständige Öffnung von Gastronomie und Hotels erwogen – alles unter der Bedingung, dass die über allem thronende Reproduktionszahl (R), wie unsicher auch immer sie ist, nicht gestiegen ist.

Das Verantwortungsgefühl der Bürger

Johnsons Ansprache hat natürlich für zahlreiche Kommentare gesorgt, die sich häufig mit der Sprache aufhielten. Was bedeutet beispielsweise das neue Motto »Stay Alert« im Gegensatz zum bisher gepredigten »Stay Home«? Andere verstanden sehr wohl, was Vorsicht im täglichen Leben bedeuten könnte. Natürlich folgt Johnson damit im Grunde nur einem in anderen Ländern vorgeprägten Sprachgebrauch. Fürs erste hat er sich offenbar für einen vorsichtigen Weg hinaus aus dem Lockdown entschieden. Aber indem Johnson – wenn auch ohne Gewähr – einen abgestuften Lockerungsplan vorstellte, der bis in den Juli reicht, bietet er den Bürgern und Unternehmen eine Perspektive.

In der Zwischenzeit will sich die Regierung wieder etwas mehr auf das Verantwortungsgefühl der Bürger verlassen. Für manchen politischen Kommentator ist aber schon das zu viel. Die Kritiker fordern von Johnson, was er ihnen wieder und wieder versprochen hat: »test, trace and isolate« – Testen, Verfolgen, Isolieren. Der Infektionsschutz ist zum allgemeinen Menschenrecht geworden, und dahinter erscheint das Phantom des Überwachungsstaats, das der britische Premier als erster erkennen und bannen müsste. Derzeit nutzt es ihm vielleicht etwas beim Ausgleichen der Gegensätze.

Die Aufregung vieler vermeintlich linker oder »liberaler« Geister – die indes vor allem staatsgläubig sind – ist dabei eigentlich unverständlich. Wenn Johnson beispielsweise dazu aufruft, »den Kontakt mit anderen Menschen« so weit als möglich einzuschränken, sehen sich einige außerstande, selbst zu entscheiden, zu wie vielen Menschen sie sinnvollerweise Kontakt halten wollten, und fragen Twitter nach der Antwort. Viele der Erwiderungen spießten dann allerdings die Unselbständigkeit der Fernsehmoderatorin auf.

Mutigere Schritte

Boris Johnson hat den Briten eine allmähliche Rückkehr zu einem normalen Leben in Aussicht gestellt, die ihm noch immer Raum zum Rangieren gibt. Dagegen fordern grundsätzliche Kritiker noch deutlich mutigere Schritte in Richtung Öffnung vom britischen Premier und seinen Amtskollegen weltweit. Zu ihnen gehört einer der Vordenker dieser Öffnungsdiskussion, der Stanford-Professor John Ioannidis, der schon am 17. März – als viele Länder einschließlich dem UK noch gar nicht heruntergefahren waren – vor einem »fiasco in the making«, einem schon damals abzusehenden Fiasko also, warnte.

Der griechisch-amerikanische Mediziner und Statistiker hat sich auf die Erforschung der Forschung oder Meta-Forschung spezialisiert, hinterfragt also den Wert wissenschaftlicher Studien, vor allem in seinem engeren medizinischen und epidemiologischen Fachgebiet. Diese Tätigkeit übt er seit letztem Jahr auch als Visiting Fellow am Berliner Einstein-Forum aus. Laut Google Scholar gehört er zu den 100 am häufigsten zitierten Wissenschaftlern. Mittlerweile wird er sogar von griechischen Priestern angeführt, die an der Weisheit der dort verhängten Ausgangsbeschränkungen zweifeln und dabei liberaler und rebellischer gesinnt sind als viele ihrer Zeitgenossen.

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In seinem Artikel von Mitte März wies Ioannidis vor allem auf die schmale Datenbasis hin, auf deren Grundlage vor zwei Monaten überall auf der Welt und von den verschiedensten Regierungen weitreichende Maßnahmen ergriffen wurden. Schon damals warnte er besonders vor einem langwährenden Lockdown, der unabsehbare wirtschaftliche und politische Folgen – darunter öffentliche Unruhen oder eine neue globale Finanzkrise – haben könnte. Ein zentrales Argument des Forschers war und ist, dass wir nicht wissen, wie viele Menschen wirklich mit dem Virus SARS-CoV-2 infiziert sind, so dass man auch keine sinnvollen Aussagen über die Letalität und Gefährlichkeit der damit verbundenen Krankheit machen kann. Mit der in der Sterberate ausgedrückten Gefährlichkeit des Virus steht und fällt offenbar die Verhältnismäßigkeit des Lockdowns.

So war die Sterblichkeit von 3,4%, die die WHO im Frühjahr veröffentlichte, nach Ioannidis »bedeutungslos« und eine »astronomisch falsche Zahl«, weil ohne sichere Datenbasis erhoben. Gegen diesen Wert sprach zumal, dass schwerer Erkrankte natürlich häufiger getestet werden als Infizierte mit leichten oder gar keinen Symptomen. Schon Mitte März wies Ioannidis auf das Kreuzfahrtschiff »Diamond Princess« hin, auf dem sich in einer relativ betagten Population eine deutlich geringere Rate von rund 1% ergab. Insbesondere geißelt Ioannidis die apokalyptischen Prognosen des britischen Epidemiologen Neil Ferguson vom Imperial College, der inzwischen ironischerweise wegen eines relativ banalen Bruchs der Lockdown-Regeln von seinem Regierungsamt zurücktreten musste. Ferguson hatte bis zu 500.000 Corona-Tote in Großbritannien vorausgesagt.

Wie weit ist die Pandemie vorangeschritten?

Nun hat Ioannidis seine Kritik in einem Beitrag für die Londoner Times erneuert und aktualisiert. Die wenig überraschende Überschrift: »Die Wissenschaft wird klarer – Lockdowns sind nicht mehr die richtige Medizin«. Kein Wunder, sie waren es ja nach Ioannidis nie. In dem gemeinsam mit einem Londoner Unternehmer und Publizisten verfassten Artikel verweist er auf die neuen Studien mit Antikörper-Tests, die eine viel höhere Verbreitung von SARS-CoV-2 als zuvor angenommen erbrachten. Im deutschen Gangelt sind bekanntlich 15% der Bevölkerung infiziert, auf der »Diamond Princess« waren es 19%, eine New Yorker Studie ergab sogar 25% Infizierte in der stark betroffenen Metropole.

In Großbritannien stehen den offiziellen Angaben von derzeit etwa 240.000 Infizierten inzwischen wissenschaftliche Schätzungen von bis zu 29% Infizierten in der Gesamtbevölkerung gegenüber, das wären knapp 20 Millionen Menschen und eine Differenz, die die Mortalität massiv nach unten (auf etwa 0,015%) korrigieren würde. Manch anderer Grippe- und Coronavirus verursacht eine ähnliche Sterblichkeit, konnte sich aber bisher aus durchaus verständlichen Gründen keiner ähnlichen Aufmerksamkeit erfreuen. Auch Ioannidis geht von einer 50 bis 85 Mal höheren Zahl an Infizierten weltweit aus. Das entspricht der genannten britischen Schätzung.

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Neben der Sterblichkeit müsste man allenfalls noch die gesundheitlichen Einschränkungen und Komplikationen – darunter die Überlastung der Gesundheitssysteme – bedenken, die sich im weiteren Verlauf der Pandemie ergeben könnten. Die überproportionalen Todesraten im New Yorker Stadtteil Queens oder auch im italienischen Bergamo seien im wesentlichen auf nosokomiale Infektionen zurückzuführen. Schuld an den schlimmen Zuständen sei also unter anderem die Überfrequentierung der Krankenhäuser durch anfangs nicht übermäßig kranke, aber umso mehr angsterfüllte Patienten. Hygienemängel hätten dann den Rest getan.

Die unzureichende Versorgung erkrankter Menschen in britischen Pflegeheimen kritisiert er durchaus. Aber ebenso schwer wiegen in seiner Analyse die gesundheitlichen, gesellschaftlichen und zuletzt auch wirtschaftlichen Folgeschäden der Virusabwehr, die sich unter anderem in der ausbleibenden Therapie anderer Krankheiten, in Arbeitslosigkeit und den psychischen Auswirkungen des Lockdowns an sich zeigt.

In einem Interview sagt Ioannidis dazu: »Ich denke, die Schäden können extrem sein, viel schlimmer sein als alles, was das Coronavirus anrichten kann. Ich muss diese Aussage mit der Aussage einschränken, dass wir so etwas noch nie zuvor gesehen haben. Wir müssen also aus den Erkenntnissen früherer Wirtschaftskrisen und wirtschaftlicher Zusammenbrüche, die dennoch anders waren, extrapolieren. Wir haben noch nie eine so akute Kernschmelze gesehen, wir haben noch nie eine solche Ansammlung von Elementen eines ›perfekten Sturms‹ gesehen.« Für jeden Prozentpunkt, um den die Arbeitslosigkeit steigt, steige auch die Selbstmordrate um 1%. Durch Armut werden Krankheiten begünstigt

Droht eine »Ära der Massenüberwachung«?

Zudem warnt der Arzt und Statistiker vor einer neuen »Ära der Massenüberwachung«, die durchaus auch entlang der Parole »testen, testen, testen« und am Ende auch mittels Kontaktverfolgung und Immunitätszertifikaten eingeläutet werden könnte. Die Kontaktverfolgung fällt dabei seines Erachtens schon wegen der großen Zahl der Fälle als wirksames Mittel weg.

Daneben muss man Ioannidis’ Argumente hier sehr genau verfolgen: Ein Immunitätspass ergäbe demnach wegen der Unsicherheit der verfügbaren Tests keinen Sinn. Sinnvoll sei das Testen aber dort, wo es als Stichprobe und statistisches Werkzeug einen Blick in den Epidemiefortgang erlaubt und so eventuell weiteren steuernden (lockernden oder verschärfenden) Maßnahmen zugutekommt. Auch könnten verletzliche Teile der Bevölkerung mit einem Sicherheitscordon aus getestetem Personal umgeben werden. Für die Schließung von Schulen sieht Ioannidis allerdings keinen Grund. Die neuen Nachrichten aus der Wissenschaft, so schließen die Autoren, sind gute Nachrichten.

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Zu diesen guten Nachrichten gehört auch, dass das britische Gesundheitssystem am Ende eben nicht überlastet wurde, selbst wenn es in Pflegeheimen auch ungute Zustände gab. Es dürfte auch diese aufrechterhaltene Ordnung sein, die die Briten – darin den Deutschen gar nicht so unähnlich – ihrem Premier zugutehalten. Schon bei Johnsons Rückkehr nach Downing Street lag die Reproduktionszahl im Königreich bei 0,75. Inzwischen ist sie in London sogar auf 0,4 gesunken, während das restliche England um die 0,7 liegt. Die Londoner scheinen so terrorisiert vom Virus gewesen zu sein, dass sie sich freiwillig stärker isoliert haben, als es die Bürger in kleineren Städten und auf dem Land für nötig hielten. Vielleicht gibt das auch einen Eindruck vom disziplinierenden Einfluss des metropolitanen Lebensstils (man könnte auch von panischer Wokeness sprechen, die hier einmal etwas im Ansatz Gutes vollbracht hätte).

Wie dem aber auch sei, so ganz traut man in Großbritannien dieser Reproduktionszahl noch nicht, was angesichts ihrer vielfältigen Bedingtheit eigentlich verständlich ist. Dass Johnson die Öffnung langsam und schrittweise vorantreibt, mag seine guten Gründe haben: Zum einen hatte er auch den Lockdown später eingeführt als andere Länder, zum anderen bleibt den Briten so noch etwas Zeit, um den Erfolg unterschiedlicher Modelle bei ihren Nachbarn zu studieren und die Wirkung der einzelnen Lockerungsmaßnahmen zu erwägen.

Dieses Verfahren wäre vielleicht sogar im Sinne von Prof. Ioannidis, der sich als Meta-Forscher ganz konkret mit der permanenten Selbstkorrektur der wissenschaftlichen Forschung beschäftigt. In einem Interview vom 17. April spricht er von seinem Berufsethos: »Ich bin ein einfacher Wissenschaftler, der versucht, seine eigenen Fehler zu korrigieren […], die Dinge richtig zu benennen und Leben zu retten.« Dieselbe Verpflichtung haben in gewisser Weise die Staaten und ihre Lenker.

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