Tichys Einblick
Eine neue Demokratie für Europa?

Viktor Orbán: Was er will, haben andere längst geschafft

Nicht Johnson oder Salvini, sondern Orbán ist der wichtigste Widersacher der etablierten politischen Elite in Europa. Was der jetzt versucht, haben jene schon erreicht: Demokratie in ihrem Sinne neu zu definieren.

ATTILA KISBENEDEK STF/AFP/Getty Images

Ungarn ist zwar nur ein kleines Mitgliedsland der Europäischen Union. Aber die Bedeutung des ungarischen Premierministers Viktor Orbán geht über die seines Landes weit hinaus. Mit der „illiberalen Demokratie“ hat Orbán ein eigenes politisch-gesellschaftliches Konzept entworfen, das den Deutungsanspruch der Etablierten in ganz Europa in Frage stellt. In seiner traditionellen Rede während der ungarischen Sommeruniversität im rumänischen Tusnádfürdö (Băile Tuşnad) am 27.7. hat Orbán diese seine zentrale Idee jetzt ausführlich dargestellt: Den „imperialen“ Ambitionen der EU und der Einebnung nationaler Traditionen und Interessen im Dienste einer „liberalen Internationale“ will er seine „christliche Freiheit“ entgegenstellen.

Das ist nicht weniger als der Versuch einer Neuinterpretation des Begriffs der Demokratie. Orbán fordert jene etablierten politischen Eliten, die sich gegenseitig gerne als „überzeugte Europäer“ und „Demokraten“ bezeichnen, auf dem entscheidenden politischen Schlachtfeld zum Kampf heraus, nämlich da, wo um die Bedeutung der Worte und Begriffe gefochten wird. Orbán will zwei zentrale, positiv miteinander verknüpfte Begriffe – „liberal“ und „Demokratie“ – auseinander reißen und neu werten.

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Gefährlich? Vielleicht durchaus. Zumindest besteht in Orbáns Konzept die Gefahr einer Verengung des Demokratiebegriffs, wenn er „das Verhältnis von Gemeinschaft und Individuum“ neu denken und ordnen will – mit Schwergewicht auf der Gemeinschaft. Zweifellos zeichnet Orbán ein Zerrbild des Liberalismus, wenn er in seiner Rede von einem „liberalen System“ spricht, in dem „Gesellschaft und Nation nichts anderes als Aggregate miteinander konkurrierender Individuen“ seien, die nur „von der Verfassung und der Marktwirtschaft zusammengehalten“ werden. Das ist vielleicht eine zutreffende Beschreibung jener Verbindung von Habermasianismus und (durchaus nicht marktliberalem) Ökonomismus, die das Denken und mehr noch das Handeln der Eliten in den Metropolen des Westens prägt. Ein System kann man das vielleicht nennen, aber ist es wirklich „liberal“?

Der Riss, der Europa und den Westen (nicht nur die EU) zunehmend zertrennt und die Verständigungsfähigkeit und den politischen Frieden gefährdet, ist aber nicht nur mit Blick auf die Herausforderer zu verstehen. Denn nicht nur Orbán, die so genannten Populisten, Brexiteers und neue Politikerphänomene wie Donald Trump und Boris Johnson verändern, was wir unter „Demokratie“ verstehen sollen.

Deren Aufstieg ging eine frühere Uminterpretation von „Demokratie“ durch das politisch-mediale Establishment der Post-68er-Epoche voraus. Auch diese, weitgehend erfolgreiche Uminterpretation, bedeutet eine Einengung. Nämlich weg von einem Demokratiebegriff, der in erster Linie die Gegensätzlichkeit von Interessen und das geregelte Prozedere der Entscheidungsfindung durch Abstimmungen und dann des Schutzes der unterlegenen Minderheiten bezeichnet. Hin zu einem Verständnis von Demokratie als Sammelbegriff für moralische Werte, zum Beispiel „Weltoffenheit“. Eine so verstandene Demokratie bedeutet dann nicht mehr in erster Linie die Akzeptanz von politischer Interessenvielfalt, sondern eine „Haltung“.

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Eine „demokratische Partei“, das ist also nach Lesart der Berliner Mitte nur eine, die diese Haltung zeigt und in politische Positionen umsetzt. Demokratisch zu sein, das bedeutet dann nicht mehr unbedingt, die Regeln von Mehrheitsentscheidung und Minderheitenschutz zu befolgen und diese Ordnung nicht zu bekämpfen. Sondern demokratisch zu sein, das bedeutet neuerdings in erster Linie für möglichst unbegrenzte Zuwanderung zu sein, am Nutzen der europäischen Währungsunion ebenso wenig zu zweifeln wie an der Notwendigkeit radikaler Klimaschutzmaßnahmen. Und nicht zuletzt: den Nationalstaat für weitgehend überlebt zu halten. Wer diese Haltung nicht zeigt, kann demnach nicht mehr den Anspruch haben „demokratisch“ genannt zu werden, sondern wird zumindest als „umstritten“ oder im schlimmeren Fall als „rechts“ gebrandmarkt.

Auffällig in Orbáns jüngster Rede ist, dass er seinen „liberalen“ Gegnern mehrfach denselben Vorwurf macht, den auch diese ihm und den Populisten immer wieder machen: „Hass“. Die Antwort auf den Widerstand gegen die „Ideologie der universellen Glückseligkeit und des universellen Friedens“, die Orbán seinen Gegnern unterstellt, sei „nicht Diskussion, sondern Hass“.

Hier sind sich offenbar zwei Gegner ähnlicher als sie es meinen. Beide Seiten werfen der jeweils anderen vor, an Verständigung nicht interessiert zu sein. Man gräbt den Graben und wirft dem anderen vor, dass er auch gräbt. So zerbrechen Gemeinwesen. Hass – das ist keine Kategorie der friedlichen, demokratischen Politik. Wer Hass in die Politik einführt, der macht aus dem friedlichen Wettstreit und geregelten Gegen- und Miteinander von Interessen und Positionen einen radikalen moralischen Konflikt zwischen Gut und Böse. Wer den anderen hasst (oder glaubt, dass dieser ihn hasst), der glaubt auch ihn vernichten oder zumindest in die Knie zwingen zu müssen.

Überwunden werden kann dieser Graben, der Europa, fast jedes europäische Land, ja sogar Familien zu zerreißen droht, weder allein durch die Rezepte der einen Seite noch der anderen. Weder Orbáns „illiberale Demokratie“ mit der Rückkehr zum Christentum als Basis der Gemeinschaft, noch die Ersatzreligion der Etablierten mit ihrer Moralisierung der Politik und ihrem universalistischen EU-Gigantismus können einen totalen Sieg davontragen. Wenn beide Seiten nicht die Lebenswirklichkeiten und Interessen der anderen als legitim akzeptieren, wird die Spaltung für Europa und jedes seiner Länder selbstzerstörerisch werden.

Dokumentation
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An mindestens zwei Stellen des Grabens müssen sich beide Seiten, die Orbánisten und die „überzeugten Europäer“, entgegenkommen, nämlich auf Radikalpositionen verzichten, die gerade eben nicht europäisch sind. Notwendig ist die Akzeptanz des nationalen und des liberalen Erbes Europas. Beide sind übrigens historisch eng miteinander verbunden und keineswegs widerstreitende Kräfte.

Gerade wer sich ernsthaft als „überzeugter Europäer“ sieht, wird schließlich einsehen müssen, dass der Nationalstaat Europa nicht im Weg steht, sondern im Gegenteil: Er ist eine einzigartige, erfolgreiche und wertvolle europäische Erfindung, Europas erfolgreiches „Markenzeichen“, wie es in der „Pariser Erklärung“ heißt, die dreizehn liberal-konservative und christliche Philosophen aus zehn europäischen Ländern 2017 verfassten.

Der Nationalstaat war das politische Gehäuse, in dem in der europäischen Geschichte all jene Errungenschaften wirklich wurden, die zu erhalten auch unter den heutigen Verächtern des Nationalstaats Konsens ist: Soziale Solidarität, individuelle Freiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, politische Mitwirkung. Er ist schließlich, wie die dreizehn Philosophen schreiben, „jene Staatsform, welche Souveränität und Volk verbindet“.

Andererseits: Gerade wer sich wie Orbán auf Christentum und Nation beruft, muss nicht ausgerechnet in der Illiberalität das Heil Europas sehen. Wenn es jenen, die von ihren Gegnern Populisten genannt werden, ernst ist mit ihrem Anspruch, ohne Hass gehört und verstanden zu werden, dann sollten sie nicht „illiberal“ argumentieren, sondern den „wahren Liberalismus“ einfordern, wie es die Pariser Erklärung tut:

„Dafür müssen wir die verlogene Sprache ablehnen, die der Verantwortung ausweicht und ideologische Manipulation stärkt… Die Rückgriffe auf die Denunziation sind ein Zeichen der Dekadenz der heutigen Zeit. Wir dürfen Einschüchterungen durch Sprache nicht tolerieren, und noch viel weniger die Androhung physischer Gewalt. Wir müssen diejenigen unterstützen, die vernünftig sprechen, auch wenn wir ihre Ansichten für falsch halten. Die Zukunft Europas muß im besten Sinne liberal sein, was das Bekenntnis zu einer robusten öffentlichen Auseinandersetzung, frei von Gewaltandrohung oder Nötigung, bedeutet.“

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