Tichys Einblick
Hybride Bedrohung zur See

Türkische Schlepper drängen ins Ionische Meer

In der Schweiz, den skandinavischen Länder und den Niederlanden wird Kritik an Frontex laut. Die griechischen Behörden erinnern derweil an die Schwierigkeiten des Grenzschutzes. Weil die Ägäis-Inseln inzwischen so gut abgeschirmt sind, drängen die türkischen Schlepper neuerdings nach Italien.

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Die Behörden auf den Inseln der Nordägäis werden immer wacher. Das ist vielleicht auch eine Folge der Überprüfung der Tätigkeit von hunderten NGOs, mit der die Regierung Mitsotakis begonnen hat. Vor einigen Tagen geschah etwas sehr Merkwürdiges an der Küste von Lesbos. Um die Mittagszeit näherte sich ein Schnellboot der Küste im Norden der Insel bei Agios Stefanos. Es kam von der Türkei und setzte zwei Ausländer an der Küste ab, bevor der Steuermann sich eilends wieder verabschiedete und zurück zur türkischen Küste fuhr.

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Die beiden ausgestiegenen Passagiere wurden, so berichtet die Tageszeitung To Vima, schon von einem PKW erwartet, in dem wiederum zwei Ausländer (33 und 35 Jahre) saßen, von denen einer einen Taucheranzug trug. Bei den beiden eingeschleusten Männern (29 und 33 Jahre) handelt es sich angeblich um vom Erdogan-Regime verfolgte Rechtsanwälte, die gegen Geldzahlung ins westliche Ausland gelangen wollten. Die Taucherausrüstung des Fahrers diente wohl der Tarnung. Das Hafenamt Mytilini beschlagnahmte den Wagen und die Taucherausrüstung ebenso wie einen Photoapparat, sechs Handys sowie gefälschte Reisepapiere. Die beiden Schleuser waren laut den Behörden über die Evros-Grenze ins Land gekommen. Seit dem Oktober mieteten sie zwei Häuser auf der Insel, vermutlich um die von ihnen ins Land Geschleusten für eine Zeit zu verstecken, bevor ihre Reise weitergehen kann.

Die Wochenzeitung Proto Thema berichtet außerdem von einer Holzbaracke, in der ein 45-jähriger Kanadier zusammen mit 25 illegalen Migranten afrikanischer Herkunft und drei deutschen Journalisten lebte. Die Baracke stand ganz in der Nähe des Landeortes der beiden türkischen Anwälte – aber vermutlich gibt es keinen Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen.

Poker um die Pushbacks

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Solche Vorfälle sind der Hintergrund, vor dem man die jüngsten Diskussionen um Frontex und den griechischen Küstenschutz sehen muss. Das türkische Festland ist nah, und die Schlepper werden möglicherweise von höchsten Stellen gedeckt und unterstützt. In der Tageszeitung Kathimerini spricht man inzwischen von einer »diplomatischen Pokerpartie« um die angeblichen Pushbacks in der Ägäis.

Die EU-Grenzschutzagentur Frontex hat inzwischen ein Komitee ins Leben gerufen, das die Vorwürfe gegen sie untersuchen soll. Angeblich haben Frontex-Leute griechische Grenzschützer bei illegitimen Pushbacks beobachtet. An dem Untersuchungsausschuss sind Vertreter aus acht Ländern beteiligt. Drei davon gelten dabei als »Gegner« Griechenlands: Neben dem EU-Mitglied Schweden sind das die Vertreter Norwegens und der Schweiz, die aufgrund des Schengen-Systems im Management-Board von Frontex sitzen. Kritik wegen der Vorfälle in der Ägäis kam auch von den Regierungen der Niederlande und Dänemarks, die trotzdem selbst keinen Vertreter in das Frontex-Komitee entsenden wollten. Unterstützung erfährt die griechische Regierung dagegen von Rumänien und Ungarn. Deutschland und Frankreich sollen – wollen? – angeblich die ausgleichende Mitte des Komitees bilden.

Bei den Beratungen soll es dabei auch um den Artikel 6 der EU-Verordnung Nr. 656/2014 über die Überwachung der Seeaußengrenzen gehen, der unter anderem besagt, dass die »beteiligten Einsatzkräfte« einem Schiff, das offenkundig zur »Schleusung von Migranten auf dem Seeweg« benutzt wird, die Anweisung geben können, die EU-Gewässer wieder zu verlassen. Dieses Detail sehen die griechischen Vertreter als positiv an. Die konkreten Fälle, um die es geht, waren zunächst sechs, ihre Zahl ist inzwischen auf 20 angestiegen. Teils wurden sie durch Überwachungsflüge von Frontex festgehalten, teils von Partner-Schiffen beobachtet. In einem Fall stammt die Meldung von einer Nichtregierungsorganisation auf der griechischen Insel Kos.

Auch Frontex erinnert an hybride Bedrohungen

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Laut Frontex-Chef Fabrice Leggeri hat die Agentur schon wichtige Schritte unternommen, um die Angelegenheit aufzuklären. Zum einen habe man eine interne Untersuchung eingeleitet, zum anderen auf Fragen des Management-Boards geantwortet. Die Aufzeichnung ernster Vorfälle will Leggeri verbessern – ebenso aber den Umgang mit »hybriden Bedrohungen«, denen sich die Mitgliedsländer ausgesetzt sähen.

An genau eine solche hybride Bedrohungslage erinnern derzeit auch griechische Diplomaten und Küstenschützer ihre europäischen Freunde und die EU-Partner. Schon seit einiger Zeit gibt es Hinweise darauf, dass die Schlepper von der türkischen Küste neuerdings einen Bogen um die griechischen Inseln machen und versuchen, durch die Ägäis und das Ionische Meer nach Italien zu kommen. Ausgangspunkt scheint der südwestliche Küstenabschnitt der Türkei rund um Bodrum zu sein. Die Umstellung begann schon im Juni. Bis Ende September sollen 26 Schiffe in Italien angekommen sein, inzwischen sind noch einmal so viele dazugekommen.

Das Anlanden auf den ägäischen Inseln scheint inzwischen so schwierig geworden zu sein, dass die Schleuser und Schlepper zu diesem extremen Mittel greifen. Laut der griechischen Regierung ebenso wie gemäß der norwegischen NGO »Aegean Boat Report« sind die Zahlen inzwischen um über 90 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gefallen. Das ist ein unzweifelhafter Erfolg. In Erinnerung bleibt das Fahnden nach »Lücken« im Seegrenzschutz, an dem sich auch der Gouverneur der Nordägäis, Kostas Moutzouris, mit dem ein oder anderen Post beteiligte. Die griechische Küstenwache hat laut eigenen Angaben 127 Handelsschiffe rekrutiert, um die griechischen Seegrenzen zu sichern.

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Die neue Route führt zwischen Kos, Rhodos und Kreta hindurch auf das offene Meer. Dazu sind größere und motorisierte Boote nötig. Dass sie beschafft werden, ist ein starker Hinweis auf die Tätigkeit der Menschenschleuser.

»Schlepperkreise gefährden das Leben von Migranten«, so kommentiert das traditionsreiche Hafen-Corps – so der offizielle Name der griechischen Küstenwache – diesen Umstand. Letzte Woche wandten sich die Küstenschützer an verschiedene internationale Organisationen, um auf diesen Umstand aufmerksam zu machen. Gleichlautende Briefe wurden an die EU-Kommission, die Internationale Seeschifffahrts-Organisation (IMO) und den UN-Hochkommissar für Flüchtlingsfragen versandt. Das Hafen-Corps – und mit ihm griechische Diplomaten – fordert abgestimmte Maßnahmen, um die Türkei dazu zu bringen, ihre Grenzschutzverpflichtungen endlich wieder ernst zu nehmen. Der Hauptadressat dieser Aufforderung ist zweifellos die EU-Kommission, deren Blatt gegen die Türkei eigentlich gar nicht so schlecht wäre – wenn sie es nur spielen würde.

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