Tichys Einblick
Sein erster Coup: Sturgeons Rücktritt

Großbritanniens Premier Rishi Sunak öffnet eine Chance gegen die „Woke Culture“

In Großbritannien ist nicht alles düster. Der Rücktritt Nicola Sturgeons könnte Hoffnung bieten, gilt er doch als erster Coup Rishi Sunaks. Der konservative Premier hat sich damit einer lästigen Konkurrentin entledigt. Die Stimmung auf den Inseln könnte sich drehen, die „Woke Culture“ vor einem abrupten Ende stehen.

Britischer Premierminister Rishi Sunak, 25. Januar 2023

IMAGO / ZUMA Wire

Der Rücktritt Nicola Sturgeons gilt vielen als definitives Signal, dass die britische Wokery ihren Zenit bald überschritten haben wird. Wie ein Kartenhaus scheinen die Gedankentürme der woken Geister in sich zusammenzustürzen, sobald eine einzige ihrer Ideen dem Realitätstest und dem prüfenden Blick der Mehrheit ausgesetzt wurde. Schon besteht Hoffnung, dass die Generation Z nicht die Fehler ihrer Vorläufer wiederholen wird – zweifellos, weil sich die intellektuellen Grundlagen der Bewegung einfach als zu dürftig erwiesen haben, so die angeblich permanente Unterdrückung fest definierter Opfergruppen, Kulturaustausch als kulturelle Aneignung und Vergehen, Intersektionalität als die Salatbar des Opferstatus (jeder bekommt einen ab), schließlich die falsche Innerlichkeit der Transgender-Theorie, die letztlich die traditionellen Rechte von Frauen wie auch Männern in Frage stellt.

Im britischen Spectator trendete nun der Text einer jungen Frau und Theater-Autorin, die Urenkelin des Schriftstellers Evelyn Waugh, die von Wokeness wie von einer scheiternden Revolution spricht, die ihre eigenen Kinder auffrisst: „Wir haben eine Kulturrevolution daraus gemacht – und uns selbst traumatisiert.“ Weiter unten dann noch deutlicher: „Wir verbrachten unsere Universitätslaufbahn in einem Zwischenzustand erbärmlichen Schreckens. Wir hatten Angst vor kultureller Aneignung, davor zu vergessen, unsere Er-Sie-Aufkleber zu tragen, davor, Triggerwarnungen zu übersehen und ‚safe spaces‘ zu kontaminieren. Wir hatten Angst vor uns selbst.“

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Im Nachhinein bewundern viele die Treffsicherheit von Rishi Sunak. Denn bei dieser Entscheidung ließ sich der Premier angeblich nicht beirren. Mindestens zweimal war er nach Schottland zu Gesprächen mit Sturgeon gereist, hatte dort ein freundliches Gesicht gezeigt. Aber im Hintergrund setzte er das Messer an die verrückte Identitätspolitik der schottischen Politikerin. Kurz vor ihrem Rücktritt verweigerte er dem Edinburgher Selbstbestimmungsgesetz (Gender Recognition Reform Bill), das es Menschen in und aus Schottland erlaubt hätte, ihr Geschlecht ab einem Alter von 16 Jahren durch schlichte Setzung zu wechseln, die Zustimmung der Londoner Regierung. Damit kann auch König Charles seine Unterschrift nicht unter den Gesetzentwurf setzen. Indem Sunak der schottischen Regierungsmehrheit aus SNP und Grünen an diesem einen, offenbar verfehlten Punkt ihres politischen Programms Widerstand entgegensetzte, brachte er das ganze Haus zum Einsturz.
Ideologen werden als „Experten“ präsentiert

Es ist die erste politische Tat Sunaks, die in der konservativen Presse gefeiert wird. Man dankt ihm, dass er die Selbsttäuschung der woken Eliten aufgezeigt hat. Nun liegt offen da, dass es für diese Politik keine Mehrheiten gibt, weder in England oder Schottland noch in Wales oder Nordirland, vermutlich in keiner europäischen Landschaft, um von der Welt zu schweigen.

Die Zeit ist gekommen, um zu sehen, in welchem Maße Aktivisten das öffentliche Bild dieses Themenkomplexes „Transsexualität / Transgender“ dominiert haben. Das gilt natürlich auch für andere Themenfeldern, die ebenso von Ideologen und interesse- wie erwerbsgeleiteten Aktivisten beherrscht werden. Das gilt für die Gender-Klinik Tavistock mit ihren Transgender-Aktivisten, das gilt aber auch für den Ärmelkanal mit der dort aktiven britischen NGO Care4Calais, die eben auch nur das Geschäft der Schlepper antreibt, wie der stellvertretende Vorsitzende der konservativen Partei Lee Anderson sagt.

Lobbyisten dominieren so den öffentlichen Diskurs, und alle Gegenpositionen, so zahm sie sich auch geben, müssen „gecancelt“ werden. Aber, wie Janet Daley im Telegraph schreibt, berührt all das „nicht die fundamentale Rationalität der normalen Menschen“. Am Ende erwies es sich als unmöglich, diesen Menschen die „sechs unwahrscheinlichen“ Glaubenssätze der Woke-Bewegung noch vor dem Frühstück einzuimpfen, so dass sie für den Rest jedes Tages daran glaubten.

Alle Medienfachleute können wissen, welche Techniken dazu angewandt werden, von gefälschten oder bemüht interpretierten Umfragen bis hin zur selektiven Einladung in Fernsehsendungen. Hinzu kam die Erklärung der Aktivisten und Minderheitenvertreter zu „Experten“ durch dieselben öffentlichen und sozialen Medien, letztlich durch einen kleinen Zirkel von Übereinstimmenden, nicht viel anders als in der Oktoberrevolution, als sich die elitären Anführer aus dem Westen an die Spitze russischer Bauern stellten.

Nun wollen Biologen „männlich“ und „weiblich“ abschaffen

Ja, dieses (meist öffentlich-rechtliche) Fernsehen mit seinem ideologischen Weltverständnis… es ist erfrischend zu sehen, dass seine Macht noch nicht ungebrochen ist und dass ein guter Teil der Briten noch selbst gedacht hat, als ein zweifacher Vergewaltiger in ein Frauengefängnis überführt wurde (das er kurz darauf wieder verlassen musste). Janet Daley stellt in den Raum, dass auch die Bot-Armeen, von denen in den letzten Jahren so viel die Rede war, nicht so sehr konservative Ziele befördern, sondern eher die links-woke Blase vergrößern, sie so lange aufblasen, bis sie nun bald am Platzen ist.

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So hat allen Ernstes eine neue Kleinstgruppe aus dem Feld der Evolutionsbiologie, das „Ecology and Evolutionary Biology Language Project“, gegründet von Biologen aus Kanada und den USA, vorgeschlagen, in Zukunft auf die Begriffe „weiblich“ und „männlich“ zu verzichten, wofür man „eier-erzeugend“ und „spermien-erzeugend“ bevorzugen solle – natürlich im Sinne der Inklusion all derer, die sich durch tief eingreifende Operationen von dieser Art biologischer Funktionen verabschiedet haben oder sich – ohne diese Eingriffe – nicht als weiblich oder männlich definieren mögen. Die Anfänge auch dieser Idee verdankten sich natürlich einer Social-Media-Diskussion auf Twitter.

Auch der Begriff „invasive Art“ steht übrigens auf dem Index der Akademiker, weil er xenophob und „militaristisch“ sei. Sie schlagen stattdessen „neu angekommene Art“ oder – merkwürdigerweise – „Störspezies“ (nuisance species) vor. Der Evolutionsbiologe Richard Dawkins – sicher kein Konservativer im engeren Sinne – widersprach und kündigte an, sich kein Wort seiner Muttersprache verbieten zu lassen: „Die einzig mögliche Antwort ist Spott und Verachtung. Ich werde weiterhin jedes einzelne der verbotenen Wörter verwenden. Ich lasse mir nicht von einer jugendlichen Version von Mrs Grundy vorschreiben, welche Wörter meiner Muttersprache ich verwenden darf und welche nicht.“ Mrs Grundy ist der Name einer konventionellen Tugendwächterin aus einem Stück von 1798.

Nebenbei scheiterte auch die schottische Industriepolitik

Nun kann man Politiker wie Nicola Sturgeon nicht für alle Entgleisungen der „Woke Culture“ verantwortlich machen, wohl aber für die Kanonisierung absurder Gesellschaftsideen durch die politische Praxis. Sturgeon und ihresgleichen – die Beispiele wie Jacinda Ardern, Justin Trudeau, Bettina Jarasch liegen auf der Hand – haben sich offenbar entschieden, nicht durch Überzeugung zu regieren, sondern mittels Ideologie, das heißt durch Unterwerfung der Vielen unter ein unverständliches Regime der Gebote und Verbote, im Denken wie im Handeln. Derweil hat sie sich als weitgehend unfähig da erwiesen, wo es um reale Interessen ihres Landes ging.

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Die schottische Regierung scheiterte daran, das Land im Norden zu einem führenden Produzenten von Offshore-Windturbinen zu machen. Die dazu mit dutzenden Millionen Pfund unterstützte Firma Burntisland Fabrication (Bifab) endete in mehrfachen Pleiten und einer massiven Verschuldung des nun teil-verstaatlichten Betriebs. Vermutlich sind 52 Millionen Pfund Staatsgelder auf immer futsch.

Auch eine Aluminiumfabrik in den Highlands scheiterte, ebenso die Wiederbelebung der schottischen Schiffsbauwirtschaft durch staatliche Interventionen. Vermutlich offenbart sich hier einfach das programmierte Scheitern staatlicher Industriepolitik. Aber offensichtlich fehlten Sturgeon an dieser Stelle auch Fortune und das sinnvolle Setzen von Rahmenbedingungen. Größte Errungenschaft von Sturgeons Herrschaft über die Schotten könnte die Verschickung hunderter Baby-Boxen gewesen sein, in denen sich angeblich ein Gedicht, eine Nagelfeile, Ersatzunterwäsche (doch wohl für das Kind), etwas Spielzeug und Kondome befanden. Nur eines fehlte: der praktische Babypuder.

Nun hofft die schottische Wirtschaft auf eine Umkehr, denn von Sturgeon fühlte man sich ignoriert. Gute Karten scheint – aus Sicht der Wirtschaft – die bisherige Finanzministerin Kate Forbes zu haben, die aber linken Geistern nicht passt, weil sie als gläubiges Mitglied der Free Church of Scotland gegen Abtreibung und wohl auch gegen Sturgeons Gender-Gesetz ist. Die schottischen Grünen wollen im Fall von Forbes’ Wahl die Koalition mit der SNP verlassen. Die deutschen Medien wissen natürlich nur von der Kandidatur des muslimischen Gesundheitsministers Humza Yousaf, der sich vielleicht ebenso wegen seines Glaubens rechtfertigen sollte, wie es einige von Forbes fordern.

Zentrum der Woke-Ideologie in Deutschland: Berlin und seine Grünen

In Deutschland könnte man Sturgeons Schottland übrigens am ehesten mit dem klammen Berlin vergleichen, das sich auch ständig mit dem Ausgeben von Fremdmitteln aus anderen Bundesländern rühmt. Schottland ist in dieser Hinsicht von den englischen Steuereinnahmen abhängig. In Berlin nahm Bettina Jarasch das Geld der Steuerzahler und sperrte die Friedrichstraße ein zweites Mal in der Länge eines halben Kilometers, entgegen einem Gerichtsbeschluss und dem ausdrücklichen Anwohnerwillen. Ein weiterer ideologischer Vorschlag der Grünen, mit weniger Publizität, betraf die Abschaffung der fünften und sechsten Gymnasialklasse.

Zu den Silvesterkrawallen, die hauptsächlich von Migranten und ihren Nachkommen ausgingen, schwiegen die Hauptstadt-Grünen beredt. Integrationsprobleme, innere Sicherheit? Dazu gibt es keine grünen Positionen außer eventuell ACAB (kurz für „all cops are bastards“, oder deutsch „hüte dich vor dem Schutzmann“). Im sicher ausreichend grün wählenden Asta der Freien Universität führte diese Haltung dazu, dass man vom Rufen der Polizei abriet, weil in dem Fall ein sexueller Belästiger rassistisch diskriminiert werden könnte. Das ist sozusagen die exakte bundesdeutsche Entsprechung des Falls Adam Graham / „Isla Bryson“. Klar muss nun auch in den Anträgen des FU-Studentenparlaments gegendert werden.

Wie geht es weiter in Großbritannien? Der letzte Brexit-Deal

Nun hat Sunak seine eigenen wirtschaftlichen Probleme, ist nebenbei gesagt auch für die schottische Wirtschaft mit zuständig. Gerade hat er die zuständigen Ressorts neu aufgeteilt, ein Ministerium für Energiesicherheit und eines für Wissenschaft und Innovation geschaffen. Dazu löste er das Thema Digitalisierung aus dem Kulturministerium heraus. Handelsministerin Kemi Badenoch vereint nun mehr Kompetenzen auf sich. Sunak will den Apparat in dieser Hinsicht effizienter machen, bleibt aber durch hohe Energiepreise, Streiks (sie kommen auch auf die Deutschen zu) und andere Unsicherheiten unter Druck. Ende nächsten Jahres wird er eine Wahl zu bestehen haben.

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Die Umfragen sehen noch immer nicht gut aus. Sunak konnte gerade so die Hälfte der Umfragestimmen zurückgewinnen, die durch den Abgang Boris Johnsons verloren gingen. Der Ex-Premier hat sich nun erstmals in Sachen Brexit zu Wort gemeldet und warnt vor einer Abschaffung des Sondergesetzes zum Nordirland-Protokoll, das die Unabhängigkeit des Königreichs in dieser Frage sicherstellen sollte. Sunak wird dagegen eine Annäherung mit der EU zugetraut, die bei Treffen mit Ursula von der Leyen auf dem Programm steht und die Handelsbeziehungen zu Frankreich und dem Rest des Kontinents verbessern könnte.

Die konservative Partei und das Land verlangen natürlich vor allem eines von Sunak: Er soll die Dinge zum Funktionieren bringen. Das ist das Rationale seiner Wahl zum Premier. Patrick O’Flynn lobte „Reasonable Rishi“ für seinen stillen Durchhaltewillen im Angesicht Sturgeons, deren Rang als heimliche Oppositionsführerin an der Spitze eines woken Linksnationalismus man nicht unterschätzen konnte. Nun wird es Sunak mit Keir Starmer zu tun bekommen. Ob sich dieser Kampf gewinnen lässt, das mag noch unklar sein.

Klar ist, dass auch die innerparteilichen Konkurrenten nicht mehr schweigen. Liz Truss hat ihren Gegenangriff schon gestartet. Johnson könnte noch lauter werden, wenn er sieht, dass die „Mauer“ im Norden Englands wieder „rot“ zu werden droht. Mit ihrem Gewinn steht und fällt ein konservativer Sieg bei den nächsten Wahlen. Sunak wird folglich mehr vorlegen müssen als eine Einigung mit der EU im Nordirland-Streit, die im Grunde eine reine Formalität sein sollte.

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