Tichys Einblick
Tumulte in Brasilien

Schwarz-Weiß in der Brasilien-Berichterstattung

Dass Lula ein mindestens so umstrittener Präsident wie Bolsonaro ist, geht angesichts einfacher wie ideologischer Erklärungen in der Brasilien-Berichterstattung unter. Die grundlegende Frage, warum immer mehr Demokratien in den Augen der Bürger ihre Legitimität verlieren, bleibt ausgespart.

IMAGO / Fotoarena

„Friedliche Demonstrationen sind Teil der Demokratie. Plünderungen und Überfälle auf öffentliche Gebäude, wie sie heute stattgefunden haben, fallen jedoch nicht darunter.“ Das sind die Äußerungen des ehemaligen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro zu den tumultartigen Ereignissen am Wochenende, bei denen Anhänger seiner Partei unter anderem den Kongress und den Präsidentenpalast in der Hauptstadt Brasilia besetzten.

Dem wäre eigentlich wenig hinzuzufügen – wenn es nicht das Zitat wäre, das in der Berichterstattung die geringste Rolle spielt. Internationale Medien sehen neuerlich einen Beleg für die permanent lauernde rechte Gefahr, die mit einem „Putsch“ versucht, die legitime Ordnung abzuschaffen. Dass es lediglich Zivilisten und keine Militärs waren, die die demokratischen Repräsentationsgebäude beschädigten und okkupierten, geht da vielleicht unter, würde aber ansonsten dem Narrativ schaden.

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Es gibt definitiv keinen Grund, den Vorfall beschönigen zu wollen; doch ist es nicht minder interessant, wie die Medien neuerlich eine zwielichtige Gestalt wie den ehemaligen und neuen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva völlig kritiklos als Vertreter des wahren demokratischen Brasiliens zelebrieren und die Wurzeln des als „Sturm“ bezeichneten Ereignisses auf die Einflüsterungen einer grauen Eminenz im Hintergrund zurückführen, indes störende Details der Aussparung anheimfallen.

„Rechtsextrem“ muss man Bolsonaro mindestens bewerten, geht man nach der Zeit, die nicht als einziges Medium insinuiert, der ehemalige brasilianische Präsident habe über seine Anhänger einen Staatsstreich exerzieren wollen. Der weilt zwar seit einiger Zeit in Florida und hat das Ereignis verurteilt; das hindert aber nicht daran, ihn für die Vorgänge verantwortlich zu machen und im Duktus der US-Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez seine Ausweisung zu fordern.

Ocasio-Cortez twitterte: „Beinahe auf den Tag zwei Jahre nachdem das US-Kapitol von Faschisten angegriffen wurde, sehen wir faschistische Bewegungen außerhalb beim gleichen Versuch in Brasilien.“ Die politische Botschaft, Faschisten hätten die Demokratie in Brasilien aus den Angeln heben wollen, ist im Übrigen genau die Einordnung, die Lula selbst trifft: „Das war Barbarei, das waren Faschisten. Sie müssen gefunden und bestraft werden.“

Dass Lulas Äußerungen selbst an den Duktus eines eher weniger demokratisch gewendeten Geistes denken lassen, ist nur ein Fragment: Lula hatte schon in seinen früheren Amtszeiten immer wieder einen Hang zum linken Autoritarismus gezeigt, was aber Frank-Walter Steinmeier beim Treffen mit der Kerngestalt des restaurierten Lulismus nicht daran hinderte, diesen zu umarmen. Stattdessen richten sich alle Scheinwerfer auf Bolsonaro, was wahrscheinlich die eigentliche Parallele zum „6. Januar“ in den USA betrifft: Gleich, was der Ex-Präsident getan und gesagt hat, er ist schuld.

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„Gift“ ist dabei eine der häufigsten Floskeln, die verwendet wird. Die Süddeutsche titelt: „Wie Bolsonaros Gift wirkt“. Er habe die politische Gewalt der vergangenen Tage geebnet, und – natürlich – könnten sich solche „Angriffe auf die Demokratie“ auch in Deutschland wiederholen. Dass Bolsonaros Distanzierung dabei ebenso unter die Räder kommt wie jedes Maß an journalistischer Ehrlichkeit – wer tatsächlich die politischen Umstände in Deutschland und Brasilien vergleicht, kennt entweder Deutschland oder Brasilien nicht, oder will schlicht manipulieren – steht noch auf einem anderen Blatt.

Philipp Lichterbeck schafft es bei der Deutschen Welle, sämtliche Auswüchse des „Bolsonarismus“ aufzuzählen, ohne ein einziges Mal nur im Ansatz darauf hinzuweisen, dass es möglicherweise Gründe gibt, warum die Brasilianer Ressentiments gegenüber Lula hegen könnten, die über das „bolsonaristische Gift aus Lügen und Halbwahrheiten, Selbstgerechtigkeit, pseudo-religiösem Wahn, Intoleranz, Ignoranz, Arroganz, Gewalt und schlichtweg Dummheit“ hinausgehen könnten. Dass Lichterbeck in diesem Ton genau das wiedergibt, was er anzugreifen behauptet, gehört zu den Standards des deutschen Journalismus im Jahr 2023.

Spannend ist demnach, was die Medien nicht erwähnen. Etwa, dass Lula eine nicht minder umstrittene Gestalt ist. Dass die Wahlen in Brasilien mit weniger als einem Prozent Vorsprung zugunsten Lulas ausging und daher bereits kleinere „Wahlpannen“ in der Größenordnung Berlins über Sieg oder Niederlage entschieden hätten – derlei Bedenken zu äußern, ist kein Ausdruck von übertriebenen Verschwörungstheorien, sondern nach den Ereignissen in der Bundeshauptstadt zumindest zu eruieren.

Dass es Lulas Arbeiterpartei ist, die immer wieder in Korruptionsskandale verwickelt war, die nicht nur zur Amtsenthebung seiner Parteikollegin und ehemaligen Präsidentin Dilma Roussef im August 2016 führte, sondern auch dass Lula selbst über Jahre in Verfahren verwickelt war, die ihn politisch kaltstellten und ins Gefängnis brachten, wird derzeit tabuisiert, als handelte es sich nur um Erfindungen des Bolsonaro-Lagers. Roussef bezeichnete im Übrigen ihre Entmachtung als „Putsch“. Roussef hatte in ihrer Regierungszeit Lula als Kabinettschef eingesetzt, um ihn vor Strafverfolgung zu schützen. Und wenn Bolsonaro sich gegen eine Regulierung von Online-Plattformen wehrte, war dies eine Gewährung von „Hass und Hetze“, während die Ankündigung von mehr Internetzensur durch Lula als Rettung der Meinungsfreiheit gepriesen wird.

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Es sind unangenehme Wahrheiten wie diese, die den Brasilianern im Nacken sitzen. Der Versuch, den altgedienten und zurückgekehrten Lula nunmehr als Hoffnungsträger hochzuschreiben, gehört zu den beliebten Disziplinen im Zirkus der ideologisch konformen Berichterstattung. Wenn Silvio Berlusconi zum dritten Mal zum Premier Italiens gewählt wurde, war das eine Gefahr für die Demokratie; wenn Lula zum dritten Mal zum Präsidenten gewählt wird, ist das ein gutes Signal.

Auf ähnlich infame Weise wurde versucht, Giorgia Meloni als faschistische „Putinversteherin“ trotz ihrer Pro-Nato-Haltung zu „framen“, indes die tatsächliche Putin-Affinität und die autoritären Umtriebe Lulas in den Medien nur selten angesprochen werden. Und während jede Rebellion gegen eine Regierung der Dritten Welt als rechtmäßiger Widerstand des Volkes gegen ein echtes oder vermeintliches Regime gefeiert wird, gilt jede Demonstration, die sich dem herrschenden politischen und medialen Narrativ widersetzt, sogleich als Bedrohung.

Die entscheidende Frage ist demnach nicht, ob Faschisten Brasiliens Parlament stürmten oder ob Bolsonaro mit seinem „Gift“ aufhetzte. Die entscheidende Frage lautet, warum in immer mehr westlichen oder dem Westen nahestehenden Staaten die gesellschaftliche Spaltung ein solches Ausmaß angenommen hat, dass Wahlen nicht mehr akzeptiert werden und ein so großes Bedenken gegenüber einer neuen Regierung herrscht, dass sich Menschenmengen dazu verpflichtet fühlen, den Amtsantritt zu verhindern. Dafür lediglich Verschwörungstheorien oder „Hass und Hetze“ von rechts verantwortlich zu machen, greift deutlich zu kurz.

Zur Erinnerung: Die US-Demokraten haben die ganze Präsidentschaft Donald Trumps hindurch die Rechtmäßigkeit seiner Regierung wegen einer herbeiphantasierten „Russia collusion“ nicht anerkannt, seine Inauguration wurde von Festspielen der Antifa begleitet; zuvor hatten die Demokraten schon die Rechtmäßigkeit der Bush-Regierung wegen der Wahl im Bundesstaat Florida in Frage gestellt. Zu behaupten, die Gefahr gehe nur von „rechts“ aus, bestätigt sich nicht in der Realität.

Eine entscheidende Rolle für die Erosion demokratischer Instinkte spielen die Medien, die sich nicht nur in Deutschland auf die Seite eines bestimmten ideologischen Lagers stellen. Sie bewerten non-konforme Gegenströmungen nicht als demokratischen Mitbewerber, sondern als politischen Gegner. In letzter Instanz entmenschlichen sie ihn zum Feind, bis dieser nicht mehr als gleichberechtigter Spielpartner im gemeinschaftlichen Wesen anerkannt wird – auf der einen, wie auf der anderen Seite. Das ist letztlich Keimzelle eines Extremismus, der nur noch durch Autorität eingehegt werden kann. Dass die Demokratie aufgrund dieser Mechanismen am Ende auf der Strecke bleibt, ist dann nicht nur „Verdienst“ der aufgebrachten Menge.

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