Tichys Einblick
Putins Stunde

Warum Russland in Kasachstan eingreift

Russland beteiligt sich an der Niederschlagung von Bürgerprotesten in Kasachstan. Der zentralasiatische Staat ist von hohem strategischem Wert für Moskau. Die Interessenkonflikte Russlands, Chinas und der Türkei sind Sprengstoff für Kriege.

Kasachische Sicherheitskräfte sperren eine Straße in Almaty, 8. Januar 2022

IMAGO / Xinhua

Eine der wesentlichsten Unterschiede zwischen Diktaturen und Demokratien besteht darin, dass keine Entscheidungen ohne vorherige Debatte und sorgfältiges Abwägen aller denkbaren Folgen getroffen werden. Das verzögert schnelles Handeln und kommt vielen immer wieder als Nachteil vor. Diktatoren, ob rechter oder linker Ideologien, wie auch militante Religionsführer haben dieses Problem nicht. Die Entscheidungen fällt im Zweifel eine einzige Person. Mit Widerstand muss nicht gerechnet werden. Wenn solcher sich dennoch regen sollte, wird er brutal niedergeschlagen. Dennoch aber ist die Mühsal der Demokratie alle Anstrengungen wert. Abenteuerliche und ruchlose Entscheidungen sind einfach nicht möglich. Alles und Jedes muss in einer Demokratie nicht nur nach den eigenen Interessen beurteilt werden, sondern ist auch an einen, in aller Regel in der Verfassung, verankerten Wertefundus gebunden. Einsame Tyrannen haben keine Chance.

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Ein besonders gutes Beispiel liefert in diesen Stunden Russlands Diktator Wladimir Putin. Ohne Debatte hat er nach einer genau abgestimmten Dramaturgie russische Fallschirmjäger nach Kasachstan zur gewaltsamen Niederschlagung der dortigen Bürgerproteste entsandt. Noch vor dem „Hilferuf“ seines kasachischen Pendants, dem ebenso wie Putin sich durch manipulierte Wahlen an der Macht haltenden Qassym-Schomart Kemeluly Toqajew, hatte der vollständig von Russland abhängige Staatschef Armeniens russisches Eingreifen gefordert. Nur Stunden später waren russische Spezialeinheiten in der Luft.

Die Bürger Russlands erfuhren davon in den Morgennachrichten. Es dürfte sie nicht weiter irritiert haben, denn längst haben sie sich an diese Art der Machtausübung gewöhnt und resigniert. Viele werden auch denken, „lass Väterchen Zar schon machen – er wird wissen, was gut für uns ist“. Für Kritiker ist ja ein sehr gut funktionierender Geheimdienst und eine Befehle ausführende Justiz zuständig.

Dabei ist das, was zur Zeit in Almaty geschieht, von großer Bedeutung. Niemand sollte annehmen, dass die russischen Soldaten wieder in ihre Heimat zurückkehren. Nach Putins Ansicht sind sie nämlich gerade genau dort, wo sie jetzt sind und die „Ordnung“ wiederherstellen, zuhause. Putin und die Seinen sind bei der Revision, der aus Putins Sicht größten Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts, nämlich der Auflösung der Sowjetunion wieder ein großes Stück vorangekommen. Denn zur „ruhmreichen Sowjetunion“ gehörten einst nicht nur das Baltikum und die Ukraine, sondern eine ganze Reihe von heutigen souveränen Staaten in Zentralasien.

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Kasachstan – ein Land von der Größe Westeuropas mit nur 18 Millionen Einwohnern (wovon 30 Prozent Russen sind) – ist eines der rohstoffreichsten Länder der Region. Trotz dieser Schätze leben 90 Prozent der Bevölkerung in Armut und die restlichen 10 Prozent in unvorstellbarem materiellem Reichtum. Der Immobilienbesitz der Nasarbajev-Dynastie allein in Westeuropa wird von Insidern in der Londoner City mit über einer Milliarde US-Dollar beziffert. Der Durchschnittslohn in Kasachstan beträgt monatlich 350 Euro. Die Preise für Nahrungsmittel und Güter des täglichen Bedarfs liegen über denen der Bundesrepublik.

Die Erhöhung der Preise für Flüssiggas um 10 Prozent, das den meisten Kasachen aufgrund der extrem hohen Kraftstoffpreise als Antriebsenergie gilt, brachte jetzt das Fass zum Überlauf. Es war der für Diktatoren in aller Welt gefährliche Punkt erreicht, an dem die Verzweiflung der Menschen größer wird als die Angst vor dem Regime. Dieses antwortete schnell und unmissverständlich – mit dem Einsatz von Schusswaffen. Gleich mehrfach wiederholte Staatschef Toqajev seitdem seinen Befehl, es müsse ohne Gesprächsbereitschaft und Vorwarnung auf Demonstranten überall und sofort scharf geschossen werden.

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Kasachstan ist aus mehreren Gründen für Putin von extremer Bedeutung. Es hat gemeinsame Grenzen mit China, Turkmenistan, Kirgisistan, Usbekistan, der Mongolei und natürlich Russland selbst. Damit kommt dem Land für Moskau eine zentrale strategische Rolle zu, denn noch zwei andere Mächte in der Region träumen von der Wiederherstellung von einstigen Großreichen: Da ist der mächtige Xi in China, der noch in diesem Jahrhundert den „Großen Chinesischen Traum“, die Durchsetzung seines Gesellschaftsmodells auf der Erde, verwirklichen will. Auch Erdogan in Ankara hat sich dem türkischen Nationalismus in der Vision von der Wiederherstellung des Osmanischen Reiches verschrieben. Offen bezeichnet er die ethnischen Gemeinsamkeiten mit den Turkvölkern in Turkmenistan und Usbekistan als Beweis, dass diese Staaten eigentlich zur Türkei gehören. Dabei spielt auch der islamische Einfluss eine Rolle, ausgehend von Aserbaidschan und Kirgisistan. Denn bei allen Bekundungen nachbarschaftlicher Nähe und Partnerschaft stoßen in Wahrheit knallharte geopolitische Machtinteressen aufeinander.

Aber noch etwas anderes dürfte das militärische Eingreifen Putins in Kasachstan verursacht haben. Auch in Russland selbst hat sich die Lage der Bevölkerung über die letzten Jahre immer mehr verschlechtert. Das Geld aus den Rohstoffexporten fließt auch dort zum großen Teil in die Aufrüstung und der Rest in die Taschen weniger. Das Blut auf den Straßen Almatys ist so auch als Warnung für mögliche „vom Westen gesteuerte Unruhestifter“ gedacht. Denn wieder behauptet die russische wie auch die chinesische Propaganda, hinter den Protesten in Kasachstan stünden die feindlichen Absichten der USA. Vor Ort und auch in Moskau glaubt man selbst nicht daran. Widerhall finden solche Märchen lediglich in nicht besonders klugen Kreisen des Westens. Wenigstens das trägt zur Zufriedenheit im Kreml bei.

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