Tichys Einblick
Proteste in Russland

Russen protestieren gegen einen Krieg, der sich gegen ihre „Brüder“ richtet

Putins Regime erzählt, die Ukrainer seien Brüder und von Russen gar nicht zu unterscheiden. Dass diese nun in einem Krieg unterworfen werden sollen, leuchtet auch vielen Russen nicht ein, die gegen den Krieg protestieren. Regierungskritisch sind vor allem diejenigen, die sich in westlichen Medien informieren.

In St. Petersburg werden Demonstranten gegen den Krieg in der Ukraine von russischen Polizisten festgenommen, 3. März 2022.

IMAGO / Itar-Tass

In der Sendung Tichys Ausblick vom 3. März 2022 „Unterwerfung oder Zerstörung – Militärexperten zur Lage in der Ukraine“ sagt der ungarische Publizist und TE-Autor Boris Kálnoky zur Situation in Russland (ab Minute 17:40):

„Die hybride Kriegsführung bestand auch darin, in die russische Gesellschaft hineinzuwirken und die russische Gesellschaft davon zu überzeugen, dass die Ukrainer ihre Brüder sind, ein Volk, es gibt gar keinen Unterschied, das rächt sich jetzt. Und es wird sich erst recht rächen, falls es wirklich dazu kommen sollte, dass russisches Militär sehr blutig gegen die Zivilbevölkerung vorgeht. Ich glaube, das wird in der eigenen Gesellschaft nicht gut ankommen. Schon jetzt sind die Proteste, die wir in Russland gesehen haben, teilweise dadurch zu erklären, dass man vorher halt erzählt hatte, das sind unsere Brüder. Und jetzt fragen sich viele Menschen: Warum führen wir dann gegen sie Krieg?“ 

Auf die Frage, ob es Erkenntnisse gebe, wie die russische Bevölkerung gestimmt ist, ob die Russen hinter diesem Wunsch Putins, die Ukraine einzunehmen, stünden, antwortet Kálnoky:

„Ich weiß es persönlich nicht, von den Kollegen hier höre ich, dass je mehr jemand im Bilde ist, je mehr jemand auch westliche Medien rezipieren kann, desto negativer ist die Haltung, und je weniger man sich durch andere Quellen informiert, desto unkritischer.“

In St. Petersburg gingen viele junge Menschen gegen Putins Krieg auf die Straße. Das sind womöglich jene, die über das Internet besseren Zugang haben zu anderen Quellen.

Unter der Parole „Nein zum Krieg“ (#нетвойне: net voyne) protestieren russische Bürger bei Twitter und auf der Straße in St. Petersburg. In einem von der Nachrichtenagentur Reuters veröffentlichten Video war zu sehen, wie zahlreiche Demonstranten einer nach dem anderen von Polizisten abgeführt werden. 

Im Netz kursiert ein Video, das zeigt, wie die in Russland bekannte Aktivistin Elena Osipova auf einer Demonstration gegen den Ukraine-Krieg in St. Petersburg von zwei Polizisten abgeführt wird. „In St. Petersburg wurde die berühmte Belagerungsüberlebende Elena Osipova festgenommen“, heißt es in dem Tweet (Google-Übersetzung).

Auf dem Schild, dass Elena Osipova auf dem unteren Bild hält, steht: „Soldat! Lass deine Waffen fallen! Und du wirst ein echter Held sein!“

Nach br24 ist die Kreml-kritische Aktivistin aus St. Peterburg „allerdings keine Überlebende der Leningrader Blockade von 1941-44, wie zunächst mehrere Medien berichtet hatten“. Auch br24 hatte das berichtet und korrigiert sich nun mit der redaktionellen Anmerkung: „In einer ersten Version dieses Artikels haben wir Elena Osipova als Überlebende der deutschen Belagerung Leningrads bezeichnet. Diese Angabe ist nach unserem derzeitigen Kenntnisstand falsch.“

Widerstand im eigenen Land
#нетвойне: Russische Wissenschaftler, Künstler, Historiker protestieren gegen Putins Krieg
Historiker und andere Intellektuelle protestieren im Netz mit offenen Aufrufen. Einem „offenen Brief russischer Wissenschaftler und Wissenschaftsjournalisten gegen den Krieg mit der Ukraine“ haben sich laut dem deutschen Historiker Robert Kindler bis zum 2. März 2022 mehr als 6100 Unterzeichner angeschlossen. In dem Text heißt es laut Kindler: „Die Verantwortung für die Entfesselung eines neuen Krieges in Europa liegt vollständig auf (sic) Russland. … Wir fordern, dass die Souveränität und die territoriale Integrität des ukrainischen Staates respektiert werden.“

Und auch ein „offener Brief von Historikern gegen den Krieg mit der Ukraine“ wurde am Mittwoch über Twitter verteilt, in dem diese ihren „starken Protest“ äußern. Er wird von Kindler und anderen deutschen Osteuropa-Historikern verbreitet und hat offenbar bereits rund 1200 Unterzeichner. 

Der friedliche Widerstand gegen Putin mag noch schwach sein – aber er ist unübersehbar.

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