Tichys Einblick
105 JAHRE OKTOBERREVOLUTION

Oktober 1917: Wie man Lenin hätte aufhalten können

Vor 105 Jahren kam es zu einem folgenschweren Ereignis. Während der russischen Oktoberrevolution 1917 haben erstmals Kommunisten die volle Macht in einem Land übernommen und das gesamte 20. Jahrhundert hindurch die Welt in Angst und Schrecken versetzt. Dabei hätte Lenin aufgehalten werden können. Es fehlte nicht viel.

Demonstration im Vorfeld der Oktoberrevolution in Petrograd (Sankt Petersburg) 10.11.1917

IMAGO

Die von den russischen Bolschewiki losgetretene Lawine war neben dem Nationalsozialismus zweifellos eine der brutalsten und menschenverachtendsten Ideologien, die jemals dem menschlichen Gehirn entsprungen waren. So unterschiedlich sie auch waren, beide wären ohne deutsches Gedankengut nicht möglich gewesen. Doch es waren die Russen, die zuallererst den marxistischen Irrsinn zum Lebensmodell erhoben.

Nach übereinstimmenden Quellen kostete der Kommunismus über 100 Millionen Menschen das Leben. Nach dem durch die August-Streiks 1980 in Polen eingeleiteten politischen Umbruch und einer mehrjährigen hochkritischen Übergangsphase war spätestens 1991 klar, dass dieses teuflische Experiment zum Scheitern verurteilt war.

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Lenins Henker haben glücklicherweise nicht die gesamte Welt erobert, vermochten jedoch viele Länder mit dem „roten Bazillus“ zu infizieren. Nicht wenige von ihnen leiden gegenwärtig noch an den damit zusammenhängenden Gebrechen. Im Westen werden restauratorische Tendenzen erkennbar und nicht wenige prominente Politiker feiern den Mörder Wladimir Iljitsch Uljanow als einen „Heilsbringer“.

Interessant: All dies hätte nicht passieren müssen, wenn die russischen Demokraten im Herbst 1917 eine genauere Fehleranalyse betrieben und den Lauf der Geschichte ihres Landes nicht dem Zufall überlassen hätten. Lenin würde dann nicht im Mausoleum liegen, sondern am Galgen hängen.

Indes: Die Oktoberrevolution wäre nie möglich gewesen, wenn die deutsche Reichsregierung ihm die Durchreise aus dem Schweizer Exil in die russische Heimat verweigert hätte. Aus deutscher Sicht sollte der Hitzkopf aus Simbirsk „Balance“ in die verwirrende geopolitische Lage bringen. Da trieb aber die bolschewistische „Seuche“ bereits an der Spree ihr Unwesen. Im linken Berlin wurden zum Beispiel die polnischen Antikommunisten schon damals mit einer ähnlichen Skepsis betrachtet wie 60 Jahre später die Solidarność-Bewegung und heute die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine.

Dabei barg das Jahr 1917 für Russland auch Chancen. Nach der Februarrevolution begann die einzige Phase der russischen Geschichte, in der sich die Eliten ernsthaft um demokratische Impulse bemühten. Das Land war keine unumschränkte Autokratie mehr. Die Duma wurde endlich zu einem ersehnten Ort der politischen und leidenschaftlichen Debatten über die Zukunft eines Landes, das bis vor kurzem noch der zaristischen Willkür ausgesetzt war. Die Alphabetisierung der unteren Sozialschichten schritt voran, Reformen nahmen Konturen an, die Bolschewiki verloren spätestens nach dem Juliaufstand abrupt an Bedeutung. Und dennoch hatte man sie unterschätzt. Dem letzten Ministerpräsidenten Alexander Kerenski sind zahlreiche Fehler unterlaufen, obgleich dessen Regierung zunächst von vielen seiner Landsleute unterstützt wurde.

Sie erstrebte allem voran eine Neukonstitution Russlands. Im Spätsommer 1917 mussten sogar Kerenskis Feinde anerkennend zugeben, dass er in einer kurzen Zeit sein Land auf ein politisch bemerkenswertes Niveau gehoben hat. Allerdings wurde sein Kabinett rasch zu einem Klub der Egoisten und Parvenüs, denen das Gespür für die sozialen Missstände fehlte. Und dennoch waren Kerenskis Bemühungen beachtlich. Während einige Staaten im Westen nach wie vor imperiale Ziele verfolgten, legte der russische Premier einen Schwur ab, dass Petrograd nie wieder andere Völker unterdrücken oder enteignen werde. Er selbst erstrebte keineswegs eine Rückkehr zum Zarentum, sondern vielmehr eine Entwicklung Russlands zur parlamentarischen Demokratie.

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Kerenski hatte jedoch kein glückliches Händchen für wichtige Personalentscheidungen. Der von ihm zum Oberbefehlshaber der Streitkräfte ernannte Lawr Kornilow war zwar ein überzeugter Antibolschewist, vertrat dennoch ganz andere Ansichten als sein Vorgesetzter. Der mit Vollmachten ausgestattete General bereitete prompt eine Militäraktion vor, die den Sturz der provisorischen Regierung sowie die Rückkehr des Zaren Nikolai II. zum Ziel hatte. Den fast schon abgeschriebenen Bolschewiki kam diese dynamische Ereignisabfolge gerade recht. Lenin konnte nun der gesamten Kerenski-Regierung unterstellen, dass sie keine avancierten Positionen vertrete, sondern lediglich die „verstaubte“ zaristische Autokratie herbeisehne.

Die Mehrheit der Russen glaubte jetzt dem Demagogen. Außerdem wurde Lenin von den Eliten weiterhin unterschätzt. Kurioserweise wandten sich einige Generäle von Kerenski ab und sicherten plötzlich Lenins Schergen ihre volle Unterstützung zu. Sie taten dies nicht deswegen, weil sie auf einmal zu Bolschewisten wurden, sondern, weil sie Lenin für einen politischen Halbidioten hielten. Sie glaubten, er sei stark genug, um die demokratischen Reformen zu unterbinden, so doch zu schwach, um seine Macht dauerhaft konsolidieren zu können. Anschließend – so die Befehlshaber der Weißen Garde – wäre der Weg frei gewesen für eine militärische Übergangsregierung.

Der polnische Prosaist Ferdynand Antoni Ossendowski hat für seinen vortrefflichen Roman „Lenin“ die seelischen Abgründe des angehenden Bolschewistenführers eingehend studiert. Seiner Meinung nach war er brutal und skrupellos, hatte obendrein Ausdauer. Er hatte nie den unbedingten Willen zur Macht verloren und es tatsächlich geschafft, noch im letzten Augenblick eine sich in den Geburtswehen befindende Republik zu verhindern.

Dann begann der Terror. Die Mitglieder der Romanow-Familie wurden hingerichtet. Nach der Vertreibung und Ermordung von russischen Kulturschaffenden drohte das natürliche Band der Generationen zu zerreißen. Die langfristigen Folgen jener schrecklichen Epochenzäsur, dieser in der Weltgeschichte einmaligen experimentellen Umbruchsperiode, konnte zu jenem Zeitpunkt noch niemand erahnen. Zur Kategorie der „Vollbürger“ gehörten fortan nur das urbane Industrieproletariat und die Bauernschaft, während die kritischen Intellektuellen, Kaufleute und Geistliche dem neuen Staat nicht mehr angehörten. Diese Ereignisse markieren zugleich den Beginn der kurzen Blütephase der russischen Exilliteratur, die bis heute nichts von ihrem Reiz verloren hat. Autorinnen und Autoren wie Marina Zwetajewa und Vladimir Nabokov nahmen bereits eine kritische Revision des Silbernen Zeitalters und der Bürgerkriegsepoche vor.

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Für den Gründungsakt der Sowjetunion waren die Verschärfung und Ausdehnung der brutalen Politik Lenins von maßgeblicher Bedeutung. Dessen Nachfolger Stalin hat mit den Gewaltorgien des „Großen Terrors“ traurige Präzedenzfälle geschaffen. Aus der bolschewistischen Ideologie ließen sich immer neue Varianten von „Volksfeinden“ ableiten. Dazu gehörten später ebenfalls jene Menschen, deren Interessen die Kommunisten einst zu vertreten gedachten. In Verdacht geraten konnte jeder, der nicht die nötige Opportunität an den Tag legte.

Dazu gehörten ganze ethnische Gruppen, doch ebenso Bauern, die gegen die Zwangskollektivierung protestierten sowie eigene Parteimitglieder. Für den permanenten Terror standen zwei grundsätzliche Optionen zur Verfügung, die eigentlich noch heute von Wladimir Putin gegen die heimische Opposition oder das ukrainische „Brüdervolk“ eingesetzt werden: entweder die physische Auslöschung des „ungehorsamen Zielobjekts“ oder dessen Internierung in Gefängnissen, Sondersiedlungen sowie „Arbeitskolonien“.

Bereits Mitte der 1920er Jahre ließen die Bolschewiki keine Missverständnisse mehr aufkommen. Die von der Oktoberrevolution inspirierte Gewaltherrschaft entfesselte einen Krieg gegen das eigene Volk, in dessen Verlauf der Terror nahezu jeden bis in die höchste Staatsspitze bedrohte. Vor dem Zweiten Weltkrieg lassen sich drei große Gewaltzyklen der Bolschewiki beobachten. Der erste richtete sich gegen die Bauernschaft, die als Verkörperung der russischen Rückständigkeit galt und in ihrem Lebensnerv getroffen werden sollte. Der Staat hungerte die Landwirte regelrecht aus. Bis zu neun Millionen kamen dabei ums Leben, allein sieben Millionen in der Ukraine, im Nordkaukasus und im Wolgagebiet.

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Als 1936 Nikolai Jeschow den bisherigen NKWD-Chef Genrich Jagoda ablöste, wurde eine Säuberungsaktion eines bis dahin unbekannten Ausmaßes initiiert. Innerhalb von zwei Jahren wurde eine Million Menschen durch Erschießungskommandos umgebracht. Der „Große Terror“ war keine spontane Eruption, sondern ein kalkulierter Bestandteil des im Kreml entworfenen Plans. Es gab fortwährend „Enttarnungen“ von sogenannten „Verrätern“. In den Schauprozessen der 1930er Jahre wurden sogar bolschewistische Hardliner wie Nikolai Bucharin der „konterrevolutionären“ Umtriebe bezichtigt, zu öffentlichen Schuldbekenntnissen gezwungen und anschließend medienwirksam hingerichtet. Zahlreiche Funktionäre, die noch unlängst den Winterpalast erstürmten, wurden von einer Partei angeklagt, die sie jahrelang aufgebaut und getragen hatten. Durch die unaufhörlichen Verhaftungswellen ereilte viele Täter häufig dasselbe Schicksal wie ihre einstigen Opfer, sodass eine klare Unterscheidung beider Kategorien unter solchen Bedingungen noch fragwürdiger wurde.

Bis zur Erosion des sowjetischen Imperiums im ausgehenden 20. Jahrhundert wurde die in Moskau abgesegnete Innen- und Außenpolitik von einer Logik dominiert, die gleichfalls dem Herrschaftsverständnis der Bolschewiki zugrunde lag. Die Geschlossenheit und Überlebensfähigkeit der Sowjetunion sollte um jeden Preis behauptet werden, wie die Niederschlagung der Aufstände in einigen Satellitenstaaten zeigte. Dies alles sollte man sich noch einmal ins Gedächtnis rufen, bevor man erneut zum MLPD-Fähnchen greift.

Trotz der langen Lebensdauer der „roten Bakterien“ war die Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert voller Brüche und Diskontinuitäten, jedoch ebenso reich an Zufällen, Missverständnissen und Paradoxien. Eine bittere und bezeichnende Pointe: Nach Lenins Machtübernahme musste Alexander Kerenski ins Exil fliehen. Als der ehemalige Hoffnungsträger 1970 in New York starb, verweigerte ihm die dortige russisch-orthodoxe Kirche ein christliches Begräbnis mit dem Argument, er sei für die Oktoberrevolution und den Sieg der Kommunisten verantwortlich gewesen.

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Wojciech Osiński ist Berlin-Korrespondent des Polnischen Rundfunks