Tichys Einblick
Ignazio La Russa

Die italienische Linke wählt einen „Postfaschisten“ zum Senatspräsidenten

Die deutschsprachigen Medien befeuern das Narrativ, die Mitte-Rechts-Parteien hätten den "Mussolini-Nostalgiker" Ignazio La Russa zum Vorsitzenden des Senats gekürt. Doch die antifaschistische Erzählung hat erhebliche Brüche.

Der neue Senatspräsident Ignazio La Russa und die Alterspräsidentin Liliana Segre.

IMAGO / ZUMA Wire

„Mussolini-Verehrer wird neuer Senatschef“, schreibt der Spiegel. „Postfaschist Ignazio La Russa ist die neue Nummer 2 im Land“, titelt die Süddeutsche Zeitung. „Mussolini-Nostalgiker wird Senatschef“ heißt es bei der Tagesschau. Das sind nur einige Überschriften, stellvertretend für das Medienecho in Deutschland auf die Wahl Ignazio La Russas zum Vorsitzenden der kleineren der beiden Parlamentskammern.

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Um es vorwegzunehmen: wie schon vorher erwähnt, gibt es sie, die Kreise älterer Herren mit zweifelhafter Nostalgie. La Russa gehört – anders als Giorgia Meloni – eindeutig dazu. Deutsche Medien entdecken jetzt nicht nur die Anekdote über sein Devotionalienzimmer aus der Duce-Zeit; einigen ist mittlerweile vielleicht sogar aufgefallen, dass sein zweiter Vorname Benito einiges über das Elternhaus des 1947 geborenen Sizilianers aussagt.

Umso aussagekräftiger ist jedoch zugleich, wie gleichgültig deutschen Medien die Personalie war. Denn La Russa ist ja nicht erst gestern dem Morast des berüchtigten Ventennio entstiegen. Ganz im Gegenteil hat er die Politik Italiens in den letzten 30 Jahren mitgeprägt. Es gab keinen Aufschrei außerhalb Italiens, als La Russa mehrere Jahre als Verteidigungsminister diente – und sich dabei durchaus parteiübergreifendes Ansehen erwarb. Und ebenso wenig kümmerte es die deutschen Medien, dass La Russa von 1994 bis 1996 Vizepräsident der Abgeordnetenkammer war – und von 2018 bis gestern gar Vizepräsident jenes Senats, dem er nun vorsteht.

Dass La Russa Verteidigungsminister und vorher Vizepräsident war, ist nur eine Nebennotiz

Offenbar – so könnte man fast meinen – war La Russa nämlich deutlich akzeptierter, als man es nun glauben machen will. Dass das Verhältnis der Italiener zu ihrer Geschichte deutlich entspannter ist, spielt dabei nur eine Rolle. Eine andere besteht darin, dass man eine demokratische Wahl als eine demokratische Wahl anerkennt, und nicht etwa einer Partei aus Vorbehalten das ihr zustehende Amt verwehrt. Das mag in Deutschland der Gang der Dinge sein. In Italien akzeptiert man das Votum. Deshalb war La Russa Teil des politischen Komplexes, ebenso wie Postkommunisten, mochte man seiner Meinung sein oder nicht.

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Doch nicht nur deswegen wirkt der aufgebauschte Skandal so aufgesetzt. Die Berichterstattung in Deutschland folgt erkennbaren Narrativen. So wird dem neuen Senatspräsidenten die Senatorin auf Lebenszeit, Liliana Segre entgegengestellt. Das ist das, aus was der schmonzettenhafte Relotius-Journalismus der Gegenwart geschnitzt ist: auf der einen Seite der Mussoliniverehrer als neuer Senatschef; auf der anderen die provisorische Alterspräsidentin und Holocaustüberlebende; hier der unverbesserliche Faschist; dort das Mahnmal der Vergangenheit. Es passt einfach so schön.

Dabei bekommt das Bild schon erhebliche Sprünge, wenn man sich die Zusammensetzung des Senats anschaut. Denn zu den neuen Senatoren gehört auch Ester Mieli. Sie ist ebenfalls Jüdin – und Enkelin von Auschwitz-Überlebenden. Noch dazu ist sie Mitglied der Fratelli d’Italia, damit eine Parteikollegin von La Russa. Freilich tritt der ursprüngliche Auftrag des Journalismus, insbesondere von Korrespondenten, den Lesern ein möglichst differenziertes und ausgewogenes Bild der Realität zu präsentieren, hinter den Anspruch von Haltung und „Stories“ zurück, wenn es dem Schema der Guten und Schönen widerspricht.

Bei Segre war bei der Blumenübergabe übrigens keineswegs Bitterkeit oder Sorge nach der Wahl zu erkennen, wie man es angesichts der Berichte vielleicht erwarten könnte; in Deutschland hat man dagegen den Anspruch, bei unangenehmen Wahlen die Blumen vor die Füße des Gewählten zu werfen, wenn dieser nicht passt. Rom ist allerdings ein paar Spuren größer als Erfurt und solcherlei unausgesprochenen Wünsche sagen viel mehr über die Demokratiephantasien mancher Kommentatoren aus als die real bestehenden demokratischen Verhältnisse in der Italienischen Republik.

Dass die Wahl La Russas nur möglich wurde, weil Linke ihn gewählt haben, ist das pikante Detail, das man ausspart

Der entscheidendste Punkt wird dabei fast ausnahmslos in der deutschen Berichterstattung unterschlagen. Zwar lassen es die deutschen Medien nicht aus, Silvio Berlusconis Niederlage in der Abstimmung genüsslich auszuwalzen; denn eigentlich hatte seine Forza Italia den Sitz des Senatspräsidenten, der mit der Position des Bundestagspräsidenten vergleichbar ist, beansprucht. Wie es dann aber der rechte La Russa geschafft haben soll, mangels einer rechten Mehrheit 17 Stimmen mehr auf sich zu vereinen, als für den Wahlgang nötig gewesen wäre, darüber schweigen sich die Blätter aus. Es könnte Risse im antifaschistischen Narrativ bedeuten.

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Denn die Wahrheit ist die: die Mitglieder der Forza Italia versuchten La Russa zu verhindern, um ihren eigenen Kandidaten durchzusetzen. Deshalb gaben Berlusconis Verbündete einen weißen Stimmzettel ab. Wenn aber trotz Enthaltung der Forza Italia La Russa dennoch auf eine satte Mehrheit kam, bedeutet das schlichtweg: die linken Parteien haben für ihn gestimmt. Die Strategie war simpel: es sollte ein Keil in das rechte Lager getrieben werden, denn gewählt ist gewählt. Nun steht die Forza Italia düpiert da und wird ein Ministerium mehr im neuen Kabinett verlangen.

Doch genau diese Ausgangslage hat in den italienischen Medien nunmehr zur Diskussion geführt, wer denn der eigentliche Verlierer des Wahlgangs sei: denn in der Tat hat die Wahl das Mitte-Rechts-Bündnis erschüttert, es kam zu Anfeindungen zwischen Berlusconi und La Russa, schon raunt man von Koalitionsbruch. Ein gewiefter Schachzug der Linken? Wohl kaum! Denn auch dort fragt man sich nun: wer sind die Verräter? Die Linksliberalen von Carlo Calenda? Die Sozialisten von Enrico Letta? Die Linkschaoten vom Movimento 5 stelle? Oder gar die Linksradikalen und Grünen? Gibt es doch die vielbeschworenen Nostalgiker unter den Dunkelroten?

Wie glaubwürdig ist ein Antifaschismus, der einen vermeintlichen Postfaschisten zum Präsidenten wählt?

Denn die italienische Linke hat sich in dieser Abstimmung einen Imageschaden zugefügt. Wie schlimm kann die vermeintliche faschistische Bedrohung sein, wenn man einen La Russa wählt, um einen Berlusconi zu düpieren? Ein Antifaschismus, der einen La Russa zum Senatspräsidenten macht, um parteitaktische Spielchen mit der angehenden Mitte-Rechtsregierung zu treiben, hat als erstes wohl nicht so sehr den Kampf gegen den vermeintlichen Faschismus, denn den eigenen Machtpoker im Blick.

Aus diesen Gründen wird man auch nördlich der Alpen nur wenig mehr als die eigentlichen Vorgänge erfahren. Sie könnten zu sehr das antifaschistische Narrativ auflösen, wenn herauskommt, dass mancher Linksliberaler ganz gut mit einem Ex-Verteidigungsminister leben kann, der eine bisher ganz ordentliche Arbeit als Vizepräsident des Senats gemacht hat. Und insgeheim dürften Giorgia Meloni und auch Matteo Salvini sich freuen, dass dem alternden Cavaliere die Grenzen aufgezeigt wurden, ohne dass sie es selbst tun mussten.

Dem einen oder anderen kommunistischen Bürgermeister in der Toskana wurde ja schon immer nachgesagt, dass er im Grunde nur von der einen auf die andere Seite umgekippt sei. Vielleicht ist im italienischen Senat auch schlicht mancher Kommunist wieder in alte Reflexe zurückgefallen. Wenn also La Russa ein „Postfaschist“ ist, dann immerhin einer von Gnaden der Roten. Ansonsten hieße es freilich, dass auch die politische Linke den Mussolini-Fimmel La Russas nicht als Rückkehr finsterster Jahrzehnte, sondern als belanglosen Spleen abtut.

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