Tichys Einblick
Italien wählt

Die Angst vor der harten Rechten Giorgia Meloni erschreckt deutsche Medien

Bis zu 25 Prozent der Stimmen könnte bei den kommenden Wahlen in Italien Giorgia Meloni an der Spitze der Fratelli d’Italia einheimsen: Ausgerechnet eine „rechte“ Frau an der Spitze der „Brüder Italiens“ – muss ganz Europa sich vor ihr fürchten?

IMAGO / ZUMA Wire

Der italienische Wahlkampf hat erst letzte Woche begonnen, doch auch die Zeitungen in Deutschland überschlagen sich besonders bei einem Thema: Giorgia Meloni. Die 45-jährige Römerin ist das neue Schreckgespenst europäischer Politik. Dass Meloni und ihre „Brüder Italiens“ (Fratelli d’Italia, FdI) nicht erst seit gestern auf der Bühne stehen, sondern Meloni bereits Ministerin für Jugend und Sport unter Silvio Berlusconi war, scheinen dabei einige vergessen zu haben – oder vergessen zu wollen.

Plötzlich stehen die Faschisten vor der Türe – könnte man meinen, sieht man auf die Schlagzeilen deutschsprachiger Blätter der letzten Tage. Von einer „Kleinen Diktatorin“ (Merkur) ist die Rede, andere befürchten die „rechteste Regierung seit Mussolini“ (Welt) und wieder andere suggerieren Szenen wie 1933: „Italiens harte Rechte greift nach der Macht“, schreibt die Süddeutsche Zeitung.

Meloni könnte die erste Ministerpräsidentin Italiens werden

Ausgerechnet die zierliche kleine Frau aus Rom ist nun die Erbin des Duce – wo es doch in Italien gleich mehrere Mussolini-Nachkommen gibt und mit Alessandra Mussolini sogar einige Zeit eine Politikerin, die dieses Profil viel deutlicher bediente. Aber wie es so oft ist: Da hat nun die einzige Frau an der Spitze einer Parlamentspartei mal die Chance, Regierungschefin zu werden – Meloni wäre die erste der an Regierungschefs nicht gerade armen italienischen Geschichte –, und dann ist das auch wieder nicht recht.

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Keine Frage: Bei den FdI, der Meloni vorsteht, gibt es nicht nur rechtsextreme Tendenzen, sondern auch einige ältere Herren, die den alten Zeiten allen Ernstes nachtrauern. Allerdings stehen sie nicht in der ersten Reihe – und Meloni selbst dürfte auch nicht dazuzählen. Der Grund: Bis heute wird ihr vorgeworfen, eine verbotene Liebe zum Duce zu unterhalten, weil sie noch vor einigen Jahren sagte, Mussolini sei eine „komplexe Persönlichkeit“, die man „kontextualisieren“ müsste. Viel weniger haben die Medien wahrgenommen, welche Vorbilder Meloni dagegen selbst nannte, die ihr heute vorschweben: Johannes Paul II. und Ronald Reagan.

Die Geschichte des Movimento Sociale Italiano (MSI) aufzurollen, jener faschistischen Neugründung der Nachkriegszeit, aus der sich später die rechtsnationale Alleanza Nazionale bildete, die wiederum als Vorgängerpartei der Fratelli d’Italia gilt, wäre nicht ohne ein Aufrollen der gesamten italienischen Nachkriegsgeschichte möglich. Weder gab es in Deutschland eine dem MSI entsprechende Partei, die seit Republikgründung mit durchschnittlich fünf bis sechs Prozent vertreten war, noch existierte ein Pendant für die starke kommunistische Bewegung.

„Neofaschisten“ für die Nato, Israel und die europäische Einheit  

Giorgio Almirante, der als Vorsitzender des MSI jahrzehntelang das Gesicht der „Neofaschisten“ prägte, hat selbst einmal gesagt, niemand könne sich als Faschist bezeichnen, der nach dem Krieg geboren worden sei. In seiner Anfangszeit war der MSI mit seinem Pro-Nato-Kurs und der Unterstützung der europäischen Einheit sogar salonfähig – und in den 1950er Jahren Teil der italienischen Regierung. Dass der MSI ein positives Verhältnis zu Israel hatte, war für eine rechtsextreme Partei auch eher unüblich.

Obwohl der MSI mit seiner späteren Re-Radikalisierung wieder aus dem „wählbar“ gedachten Verfassungsbogen ausschied, hatte er insbesondere unter Sicherheitsbeamten – bei Militär wie Polizei – ein großes Unterstützerpotenzial. Erinnert sei an den Carabinieri-Generalkommandeur Giovanni De Lorenzo, der 1964 Pläne für einen Putsch der Carabinieri ausgearbeitet haben soll – und 1968 für die extreme Rechte im Parlament saß. Der MSI war eine rechte Randpartei, aber sie war nicht gesellschaftlich ausgeschlossen, sondern verfügte auch in den italienischen Eliten über ein Netzwerk.

Meloni trat mit 15 Jahren der „Fronte della Gioventù“ bei, der Jugendorganisation des MSI. Das war 1992 – als sich der MSI bereits seit Jahren in einer vom neuen Parteichef Gianfranco Fini eingeleiteten Transformationsphase befand. Nicht nur der MSI wandelte sich in diesen Jahren von einer Erbin des Faschismus zu einer modernen rechtsnationalen Partei – das ganze Land stand im Zeichen des Zusammenbruchs des bis dahin bestehenden politischen Systems und der Auflösung der christdemokratischen und der sozialistischen Partei. Meloni selbst erklärte, sie sei damals dem MSI beigetreten, weil sie von der Korruption und den Betrügereien der Altparteien genug hatte.

Fratelli d’Italia als einzige echte Oppositionspartei 

Nur ein Jahr später benannte sich der MSI in Alleanza Nazionale (Nationale Allianz, AN) um. Mit dem Ende des bisherigen Parteisystems eröffnete sich die Chance, sich Richtung Zentrum zu öffnen. Parteichef Fini hatte schon zuvor alte Zöpfe abgeschnitten und stand für ein moderateres Programm. Die AN erreichte in den 1990ern nicht nur zweistellige Ergebnisse und wurde Regierungspartner von Silvio Berlusconi; sie schaffte es insbesondere in der Hauptstadtregion Latium und dem südlichen Mittelitalien die Stellung des alten MSI auszubauen. Ein Achtungserfolg für die eigene Partei und ein Schrecken für die politische wie mediale Linke: der Sieg von AN-Politiker Gianni Alemanno bei den römischen Bürgermeisterwahlen. Von 2008 bis 2013 war er der Erste Bürger der Ewigen Stadt.

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Der Mitte-Kurs der AN ging unter Fini so weit, dass sie 2009 mit Berlusconis Forza Italia zu einer großen Partei der rechten Mitte fusionierte. Da sich zur selben Zeit die linken Parteien ebenfalls zu einer Großpartei zusammenschlossen, schien es so, dass sich das italienische Parteiensystem endlich dem westlichen Modell angeglichen hätte. Doch schon wenige Jahre später zerbrach das Mitte-Rechts-Projekt. Eine Abspaltung waren eben jene Fratelli d’Italia, die 2012 auch das Parteilogo der AN wiederbelebten und damit die alte Linie fortsetzten.

Anders als die AN verblieben die FdI aber auf niedrigem einstelligen Niveau. Es folgten Jahre der Neukonsolidierung im rechten Lager, von denen zuerst die Lega profitierte, die mit ihrem neuen Vorsitzenden Matteo Salvini ab 2014 für mehrere Jahre die Führung unter den rechten Parteien errang, und bei den letzten Wahlen 2018 zur stärksten Kraft im Mitte-Rechts-Bündnis wurde. Die eigentliche Wende war dabei nicht das Ausscheiden aus der „Populistenregierung“ 2019, sondern vielmehr der Gang in die Draghi-Regierung 2021. Salvini versuchte, durch Regierungsbeteiligung das Profil der Lega als verantwortungsvolle Partei zu schärfen, die in einer Notlage einsprang und zugleich auf Kabinettsebene die linken Projekte effektiv verhinderte.

Umfragen: Bis zu 25 Prozent für die Rechte mit Meloni

Doch es kam anders. Von der Regierung Draghi profitierte vor allem Meloni – weil die FdI als einzige größere Partei nicht der Koalition der „Nationalen Einheit“ beitraten. So konnte sich die Römerin als einzige echte Alternative darstellen. Sie opponierte gegen die Pflichtimpfung und den „Greenpass“ sowie gesellschaftspolitisch linke Projekte. Damit sammelte sie jene Protestwähler ein, die früher ihre Hoffnungen in die Lega gesteckt hatten. Salvinis Werte schmolzen in den Umfragen dahin, Melonis Werte stiegen.

Nun stehen die FdI in einigen Umfragen bei sagenhaften 23 oder gar 25 Prozent und könnten im September stärkste Kraft bei den vorgezogenen Neuwahlen werden. Zum Vergleich: Salvinis Lega rangiert bei 15 Prozent, Berlusconis Forza Italia bei 11 Prozent. Der linke PD liegt bei 23 Prozent, der linkspopulistische M5S bei 10 Prozent. Damit stehen die Chancen für das rechte Lager so gut wie seit Jahren nicht mehr – und das nur zwei Monate vor der Wahl. Die Lage wird für das linke Lager sogar noch schlechter: Denn der August ist in Italien ein „toter Monat“. Wie soll man in dieser kurzen Zeit eine Wende hinbekommen?

Die Verzweiflung der Medien ist daher mit Händen zu fassen. Sie haben sich überdies ihrer eigenen Mittel beraubt. Jahrelang haben sie ihr Pulver gegen den Beelzebub Salvini verschossen. Nachdem man diesen schon zum Widergänger Mussolinis aufgebaut hat, muss nun ein „Superduce“ herbeigeredet werden. Dabei wird offensichtlich, dass Politik und Presse selbst Anteil am Aufstieg der FdI haben: Hätten sie in den vergangenen Jahren den Umgang mit dem moderateren Salvini gesucht, müssten sie nun nicht mit der weiter rechtsstehenden Meloni hadern.

Medien und Politik haben Radikalisierung vorangetrieben  

An dem historischen Abriss zeigen sich bereits die erheblichen Unterschiede zur Lega Nord. Während der MSI bzw. die AN eine lange Geschichte haben, und seit dem Ende des Krieges für eine ganze Reihe von Systemgegnern als Auffangbecken diente – dazu zählten nicht nur Ex-Faschisten, sondern auch Monarchisten, Reaktionäre, Nationalisten und Andere –, war die Lega Nord eine völlig neue Partei mit ganz anderen Akzenten. Dazu reicht ein Blick auf die späten 1980er und frühen 1990er Jahre:

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Die Lega ist in ihrer Genese eine norditalienische Partei, die vor allem den dortigen Mittelstand aus Handwerkern sowie kleinen und mittleren Betrieben vertritt; der MSI dagegen hatte seine Wähler sowohl bei den süditalienischen Eliten wie auch der süditalienischen Unterschicht, die nationalen und monarchistischen Idealen anhingen. Die Lega betonte Autonomie bis zur Sezession und später Föderalisierung; der MSI stand in der Tradition des Zentralismus. Die Lega war regionalistisch, der MSI nationalistisch; die Lega betonte den meritokratischen und wirtschaftsliberalen Aspekt, der MSI den sozialen und etatistischen.

Melonis „Brüder Italiens“ sind nicht der MSI, sie stehen aber in einer Denktradition. Aus ihr leitet sich ein politisches Handeln ab, das mit „faschistisch“ mehr als ungenau bezeichnet wäre. Es ist jedoch etatistisch, zentralistisch und nationalistisch geprägt. Anders als bei der Lega spielen finanzielle und wirtschaftliche Aspekte eine untergeordnete Rolle. Zugleich sind die FdI in vielen Belangen EU-skeptisch, aber deutlich kompatibler mit Brüssel, als man auf den ersten Blick meinen mag. Bereits der MSI dachte eine „europäische Nation“ vor. Für Meloni steht nicht die EU als Ganzes auf der Kippe, sondern ihr Aussehen und ihre Funktion. Als Mitglied der ECR-Fraktion im EU-Parlament sitzt die Partei mit der polnischen PiS zusammen.

Die entscheidende Frage bleibt: Raufen sich die rechten Parteien zusammen?

Die als „Postfaschisten“ titulierten Nationalkonservativen sind aufgrund ihrer langen Geschichte, der Vielzahl an politischen Ämtern und gesellschaftlichen wie europäischen Vernetzung also alles andere als Parias. Die entscheidenden drei Herausforderungen, die Meloni in den nächsten zwei Monaten bewältigen muss, sind ganz andere. Erstens: Können die FdI ihr Protestwählerpotenzial am 25. September in echte Wahlstimmen ummünzen? Zweitens: Schafft es eine Kleinpartei, die bei der letzten Wahl auf weniger als 4 Prozent kam, bei 20 Prozent der Stimmen und einer Regierungsübernahme genügend kompetentes Personal aufzustellen? Und drittens: Raufen sich die drei Rechtsparteien zusammen, ohne sich über die Frage des Premiers zu zerfleischen?

Letztere Frage dürfte die wichtigste sein. Denn von nichts mehr hat Giorgia Meloni einst mehr geträumt, als Bürgermeisterin ihrer Heimatstadt zu werden. Anders als die meisten Hauptstädte Europas tickt Rom deutlich konservativer. Die sicher geglaubte Wahl zerplatzte 2016 bereits vor dem Wahltag, weil Berlusconi eine eigene Kandidatin aufstellte. Meloni kam nicht in die Stichwahl. Sie dürfte diesen „Verrat“ bis heute nicht vergessen haben. Es ist ein Menetekel für die Wahl am 25. September.

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