Tichys Einblick
Endet das Schneeballsystem?

Großbritannien auf dem Weg zu einem neuen Migrationskonsens

In Brexit-Britain nimmt neben der illegalen auch die legale Einwanderung zu. Die Innenministerin will Verschärfungen bei Visa und Familiennachzug. Der Finanzminister opponiert. Premier Rishi Sunak wünscht sich mehr Bekämpfung von Schleppern durch die EU – und weniger Gerichtsurteile, die das Gegenteil bewirken.

Britanniens Innenministerin Suella Braverman vor Downing Street 10 am 16.05.2023

IMAGO / ZUMA Wire
In Großbritannien öffnen sich neue Fronten im Streit um die illegale, aber auch andere Formen der Migration. Denn auch die legale Migration nach Brexit-Britannien hat zuletzt sprunghaft zugenommen. Sollte man eine Erfolgsgeschichte darin sehen? Ende Mai werden die Zahlen für das vergangene Jahr 2022 veröffentlicht. „Die Leute werden sehr schockiert sein, wie hoch diese Zahlen ausfallen“, sagte ein Regierungsinsider laut der Times. Während von Juni 2021 bis Juni 2022 insgesamt 504.000 (meist legale) Einwanderer nach Großbritannien kamen, soll diese Zahl für das Kalenderjahr 2022 zwischen 700.000 und knapp einer Million Zuwanderern liegen. 

Innenministerin Suella Braverman will die jährliche Immigration gemäß einem alten Versprechen der Konservativen auf eine fünfstellige Zahl drücken, und bekommt dabei Gegenwind von Finanzminister Jeremy Hunt. Laut Braverman käme Großbritannien also mit einer Nettozuwanderung unter 100.000 Einwanderern pro Jahr zurecht. Man erinnert sich vielleicht, dass das Ziel der Ampel für Deutschland um ein Vielfaches höher liegt. Das gilt allerdings auch für die reale Zuwanderung ins Vereinigte Königreich. Blickt man aber auf die Ursachen für die Migration, kann man Fragezeichen auch an diese ökonomische Nutzenrechnung malen: Hilft die Immigration wirklich beim wirtschaftlichen Überleben eines Landes?

Und was stört die britische Innenministerin, deren Eltern aus Mauritius, Kenia und weiter zurückgehend aus Indien stammen, an der massiven Zuwanderung? Wird es auf der Insel eventuell einfach zu voll? Gibt es Nachteile auch bei der legalen Zuwanderung? Braverman hat nun die Studenten- und Arbeitsvisa im Blick, daneben die Frage, wieviele Personen jeweils dank einem solchen Visum einreisen: „Ich denke, wir müssen die Zahl der Studenten, die Arbeitsvisa und vor allem die Anzahl der Angehörigen bei diesen Visa-Arten wesentlich reduzieren.“ Dagegen weisen der Finanzminister und andere Kabinettskollegen auf den Nutzen von Arbeiter- und Studentenvisa hin.

Familiennachzug für Master-Studenten in 135.000 Fällen

Zur Diskussion steht damit auch der Familiennachzug für Master-Studenten aus dem Ausland. Ja, so etwas gibt es, sicher nicht nur im Königreich. Die westlichen Master-Studiengänge sind beliebt bei Studenten. Dass sie auch ein Fenster für die Zuwanderung ganzer Familien darstellen, dürfte aber den meisten neu sein.

Bis Dezember letzten Jahres waren auf diesem Weg fast 136.000 Angehörige nach Großbritannien eingewandert – nur weil ein Familienangehöriger in dem Land studierte. Das entspricht übrigens einer Verzehnfachung der Zahl im Vergleich zu Vor-Brexit-Zeiten. 490.000 ausländische Studenten gab es letztes Jahr im Vereinigten Königreich. Einige Studenten sollen so sogar sechs Familienmitglieder ins Königreich eingeschleust haben (in diesem Fall völlig legal). Und das kann man drehen wie man will, es scheint doch für eine gewisse Attraktivität dieses Nicht-EU-Landes zu sprechen. Daneben kann man nur vermuten, dass die neuerdings von der Regierung scharf kritisierte illegale Migration sich so schon erste Überlaufventile verschafft. 260.000 Arbeitnehmer kamen per Visum ins Königreich, zusammen mit 155.000 Angehörigen. 58.000 Zuwanderer kamen aus Hong Kong, 200.000 aus der Ukraine.

Trotzdem ist von einem gewissen Fachkräftemangel auch in Großbritannien auszugehen. Diese Feststellung beantwortet allerdings noch nicht die Frage, wie man den Mangel behebt. In einer Rede auf der National Conservatism Conference sagte Braverman: „Hochqualifizierte Arbeitnehmer fördern das Wirtschaftswachstum.“ Wie hoch qualifiziert, sagte sie nicht. Aber eine Anhebung der Lohngrenze für Zuwanderer könnte zu den Maßnahmen gehören, die sie vorschlagen wird. Derzeit liegt die Grenze bei 26.200 Pfund. Das mittlere britische Gehalt liegt bei 33.280 Pfund.

Was nicht geht: „Ich lebe hier, nun kümmert euch um mich“

Für Innenministerin Braverman steht fest, dass die Gesamtzuwanderung sinken muss. „Wir sollten nicht vergessen, dass wir selbst (als Briten) Dinge tun können“, sagte Braverman auf der Londoner Konferenz, nachdem sie von dem Protest eines Vertreters der Öko-Klima-Gruppe „Extinction Rebellion“ unterbrochen worden war: „Es gibt keinen guten Grund, warum wir nicht genug LKW-Fahrer, Schlachter oder Obstpflücker ausbilden können.“  Die ehemalige EU-Abgeordnete der Brexit-Partei und jetzt Mitglied der Reform-UK-Partei, Ann Widdecombe, kam Braverman zur Hilfe und sagte, dass sicher nicht alle 1,2 Millionen Arbeitslosen körperlich nicht zum Obstpflücken in der Lage wären. Oft gehe es um den mangelnden „Willen“ der Arbeitslosen.

Der konservative Telegraph  geriet – wohl auch wegen dieser Rede – fast in Verzückung und rief den bevorstehenden Kollaps des „Schneeballsystems“ Immigration aus. Die Botschaft: Auch durch Zuwanderung lässt sich der demographische Wandel in Europa und anderswo nicht aufhalten. Denn die Zuwanderer seien nicht jung genug, um den Altersschnitt einer Gesellschaft wesentlich zu senken. Nur Neugeborene erschaffen wirklich eine „jüngere und lebendigere Gesellschaft“. Zudem würden sich auch Migranten meist an die niedrigeren Geburtenraten ihrer Ankunftsländer anpassen. Der heutige Mangel wird also nur in die Zukunft überwiesen – genauso wie in den kriminellen Schneeball- und Pyramidensystemen gewisser „Verkaufstalente“. Es läuft auf kurzfristige Gewinne und eine langfristige Umwandlung der Bevölkerungsstruktur hinaus.

Wenn man das als Realität anerkennt, kommt man nicht um Bravermans programmatische Worte herum. Die Innenministerin wies darauf hin, dass Einwanderer Englisch lernen und britische Normen und Gepflogenheiten verstehen müssten, was nicht bedeute, dass sich nicht auch „zu unserer Kultur beitragen können“. Eine Religion könnten sie praktizieren oder auch nicht, sie müssten aber jedermanns Recht achten, dasselbe zu tun. Das „ungeprüfte Streben“ nach „Multikulturalismus als Selbstzweck in Verbindung mit Identitätspolitik“ sei ein „Rezept für die Katastrophe“ einer Gesellschaft. Schließlich könnten sie nicht mit der Botschaft auftreten: „Ich lebe jetzt hier, nun kümmert euch um mich.“ Eine Begrenzung des Sozialstaatsprinzips stünde an, wenn diese Worte gelten sollen.

Braverman: Illegale Migration eng mit Kriminalität verknüpft

Das könnte auch auf die illegalen Bootsmigranten verweisen, deren Zahl letztes Jahr auf 45.755 hochgeschnellt war. Zusammen mit den Angehörigen summierten sich die Schutzanträge allerdings auf über 89.000. Inzwischen werden die, die in kleinen Booten ankommen, auf gewaltigen Lastkähnen vor britischen Küstenstädten ausgelagert, die praktisch Hotels auf dem Wasser sind. Einer davon, die „Bibby Stockholm“ mit Platz für 500 Migranten, liegt vor der Küste Cornwalls vor Anker. Weitere sollen folgen. Aber das löst ja auch keineswegs das sich stellende Problem. 5,5 Millionen Pfund gibt der britische Staat täglich für die Unterbringungen von illegalen Zuwanderern aus.

Den Beitrag dieser Migranten zur britischen Gesellschaft sieht Suella Braverman leider als nicht gerade „bereichernd“ an. Gegenüber dem Fernsehsender Sky News hatte sie kürzlich gesagt, die illegalen Migranten – darunter Asylbewerber – verhielten sich „unannehmbar“, „brechen unsere Regeln“ und „missbrauchen die Großzügigkeit des britischen Volkes“. Außerdem sei schon ihre Ankunft „sehr eng verknüpft“ mit Kriminalität. Viele der Neuankömmlinge würden sich unmittelbar dem Drogenhandel und der Gewaltkriminalität zuwenden, auch Prostitution spiele eine Rolle.

Premierminister Rishi Sunak hat sich derweil nach Island zur vierten Tagung des Europarats in siebzig Jahren aufgemacht. Das letzte Mal trafen sich die Ratsmitglieder vor knapp 20 Jahren. In Reykjavik wollte Sunak vor allem eine Reform von den europäischen Freunden fordern. Und wie inzwischen in London üblich, sparte er dabei nicht mit schneidenden Analysen des Ist-Zustandes der illegalen Migration in Europa: Die Bekämpfung des internationalen Schlepperwesens gelinge nicht. Die „menschlichen Kosten dieses barbarischen Unternehmens“ betreffen laut Sunak alle Gemeinschaften, die auf diesen „Menschenhändler-Routen“ liegen – alle hätten damit „zu kämpfen“. Sunak forderte mehr Kooperation über Grenzen und nationale Jurisdiktionen hinweg. Das ist ein sinnvoller Punkt, vor allem für Brexit-Britannien, das seine Hoffnungen eben nicht mehr in einen Super-EU-Mechanismus setzt, um das Problem zu lösen und der auch innerhalb der EU noch ziemlich weit weg ist, wenn er überhaupt erreicht werden kann.

Neuer Konsens: Gewähren lassen heißt ertrinken lassen

In der britischen Presse hat sich bis in die Mitte des politischen Spektrums die Erkenntnis durchgesetzt, dass es letztlich moralisch geboten ist, die „kleinen Boote“ beziehungsweise ihre Insassen zurückschicken. Nur so kann man weitere Todesfälle im Ärmelkanal vermeiden und zugleich eine unbillige Belastung des britischen Staates durch hohe Ausgaben für Rettung und Unterbringung der Menschen vermeiden.

So schrieb der frühere konservative (keineswegs dem rechten Flügel zuzuordnende) Abgeordnete Matthew Parris im Spectator:  „Wer gegen die Pläne der Regierung ist, diejenigen, die landen, wegzuschicken, der befürwortet, ob er es weiß oder nicht, eine Fortsetzung von Todesfällen von Migranten auf unbestimmte Zeit. Und das ist grausam.“ Parris spricht sich dafür aus, die Organisationsfähigkeit der britischen Regierung an dieser Stelle zumindest zu testen. Denn dass sie mit ihrem Vorhaben Erfolg haben wird, kann auch er nicht garantieren. Er macht aber seine kritischen Gegenüber darauf aufmerksam, dass im Falle, dass man die Sache so lässt, wie sie ist, das Ertrinken die einzige Bremse für illegale Migration nach Großbritannien bleibt. Die Illegal Migration Bill, die die Maßnahmen, von denen Parris spricht, vorbereitet, liegt nun bei den Lords.

In Reykjavik ging es Sunak konkret um eine Reform des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der in Straßburg gemäß der im Europarat verabredeten Regeln Urteile sprechen darf. Der EGMR ist ein Fall für sich. An dem Gericht tummeln sich verschiedene NGOs, die sich oberflächlich für die Durchsetzung der Menschenrechte einsetzen, aber untergründig mit Rechtsstreitigkeiten Politik machen – besonders, was die Flüchtlings- und Migrationspolitik angeht. Die EGMR-Richter waren zudem nicht immer unabhängig von diesen NGOs, woran sich angeblich bis heute nicht viel geändert hat.

Sunaks Wendigkeit und Johanssons Entsetzen

Auch das Vereinigte Königreich hatte durch EGMR-Urteile immer wieder Probleme bei der Durchführung von Abschiebungen, auch nach Vergewaltigungen und anderen schweren Straftaten. Zuletzt war der EGMR eingeschritten, als die damalige Innenministerin Priti Patel im Juni 2022 einen Flug nach Ruanda  plante. In letzter Minute hatte ein außerplanmäßig sitzender Richter die Abschiebung eines Irakers verhindert und damit letztlich den Flug insgesamt platzen lassen.

Konkret fordert Sunak eine Abschaffung oder Zurückschneidung der sogenannten Eilanordnungen nach Regel 39 durch den EGMR. Eine solche hatte den ersten geplanten Ruanda-Flug vor knapp einem Jahr vereitelt. Das will Sunak nicht noch einmal geschehen lassen, vorerst auf dem weichen Weg der Verhandlungen. Die EU-Oberen, unter ihnen Innenkommissarin Ylva Johansson, sind bereits alarmiert über die Absicht der Briten, „Eilanordnungen“ eines einzelnen Richters, vielleicht sogar einstweilige Verfügungen des Gerichts überhaupt zu ignorieren. Warum eigentlich? Befürchten sie, dass die illegale Migration innerhalb der EU an Schwung verliert.

2012 hatte Premier David Cameron Reformen (die sogenannte Brighton Declaration) durchgesetzt, die dazu führten, dass weniger Fälle in Straßburg verhandelt wurden. Ob Sunak einen ähnlichen Erfolg haben wird, steht noch in den Sternen. Am Ende könnte für Großbritannien ein weiterer harter Schnitt, zumindest eine deutliche Distanzierung – diesmal vom Europarat und seinem Straßburger Gerichtshof –, notwendig werden. Im Dezember hat zumindest der High Court in London bestätigt, dass der Ruanda-Plan der Regierung gesetzeskonform ist, weder nationale Gesetze noch die UN-Flüchtlingskonvention verletzt.

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