Tichys Einblick
Kommentar über den Ärmelkanal hinweg

Nigel Farage analysiert Le Pens Wahlergebnis: Der Status quo kann umgedreht werden

Nigel Farage sagt Marine Le Pen eine große Zukunft voraus und verhöhnt das britische Kommentariat, das jede Fortentwicklung ihres Programms ignoriert hat. In fünfzehn Jahren konnte Le Pen ihren Stimmenanteil verdoppeln. Ihre Idee eines Referendums hat ein großes Vorbild.

Marine Le Pen am 24. April 2022 in Paris

IMAGO / Xinhua

Auch Nigel Farage, ehemals Vorsitzender der UKIP, dann der Brexit Party, nun hauptamtlich Moderator beim neuen Nachrichtensender GB News, lässt von sich hören, um seine Einschätzung zur Wahl in Frankreich zu geben. In einem Videobeitrag auf Twitter stellt er fest, dass Emmanuel Macron in seiner zweiten Amtszeit der bei weitem einflussreichste Akteur in der Europäischen Union sein wird, und das aus einem einfachen Grund.

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Die Deutschen haben sich als EU-Führungsmacht aus Farages Sicht doppelt disqualifiziert und desavouiert, nämlich nicht nur weil Angela Merkel entschied, Deutschland von (russischem) Gas abhängig zu machen. Daneben habe Deutschland es im Ukraine-Konflikt nicht vermocht, eine klare und nachvollziehbare Linie einzunehmen. Einerseits, so meint Farage, habe man Waffen an Russland verkauft (behauptet Farage, ohne das näher zu belegen), andererseits Waffen an die Ukraine am einen Tag zugesagt, um sie am Tag darauf wieder ab und am dritten wieder anzusagen.

Nun scheint es, dass sogar die zu liefernden Gepard-Panzer eher eine Lieferung symbolischer Natur werden, dürfte es doch Wochen und Monate dauern, bis sie überhaupt einsatzfähig sind. Der Scholz-Baerbock-Wackelkurs ist offenbar die schlimmste Art von internationaler PR, die man sich für die deutsche Diplomatie vorstellen kann.

War die Frankreich-Wahl also ein eindeutiger Sieg Macrons? Wenn man nach der BBC ging, schon, stellt Farage höhnisch fest. „Die Stimme der Vernunft rang die extrem rechte Marine Le Pen nieder“, so habe es auch im britischen halbstaatlichen Sender geheißen, und man kann anfügen: ähnlich wie in den meisten Medien hierzulande. Ein britischer Präsentator soll gar behauptet haben, dass Le Pen „noch immer das Angedenken ihres Vaters“ ehre. Etwas Unsinnigeres konnte man wirklich kaum versenden, wenn man von den Familienzerwürfnissen der Le Pens weiß.

Die Wahlfrage an die Franzosen war: EU-Globalismus oder Frankreich?

Jean-Marie Le Pen ist jedenfalls schon seit 2015 nicht mehr in der Partei vertreten oder auch nur willkommen. Für Farage ist das „vorurteilsbehafteter, voreingenommener Quatsch“. Tatsächlich habe Le Pen ihren Vater parteipolitisch abgesägt und damit auch die Extremen aus den Reihen der Partei geworfen. Kulturell verortet Farage Le Pen weiterhin auf der Rechten, wirtschaftspolitisch stehe sie eindeutig links von der Mitte, was weniger in Stein gemeißelt ist, als es Farage hier erscheinen lässt. Man könnte auch einfach von einer sozialen Politik sprechen.

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War die Niederlage Le Pens aber nun ein Desaster für sie und ihre Partei? Farage vergleicht das Ergebnis im Zeitverlauf: 2002 war Le Pens Vater in die zweite Runde gekommen und konnte 18 Prozent der Stimmen erringen. Bedenkt man die allgemeine Stimmungsmache gegen den RN und seine Kandidatin, dann muss man zur Kenntnis nehmen, dass Le Pen, die Tochter, diesen Stimmenanteil in zwanzig Jahren mehr als verdoppelt hat. Vier von zehn wählenden Franzosen stimmten in der Stichwahl für sie. Dieser Aufstieg hatte schon bei den Präsidentschaftswahlen von 2017 begonnen, als Le Pen 34 Prozent errang.

Für Farage hat Le Pen ihr Werk noch lange nicht vollendet. Dasselbe gelte mit Sicherheit für die Bewegung, die hinter ihr steht und die noch etwas größer ist als ihre Partei. Die Frage an die Franzosen, um die es bei der Wahl wirklich gegangen sei, war nach Farage die folgende: „Wollen Sie eine EU-globalistische oder eine französische Zukunft?“

Die Jugend lehnt die Boomer-Politik Macrons ab

Farage gesteht zu, dass viele in Frankreich derzeit ein gutes Geschäft machen, wenn sie den Status quo unterstützen: „Paris, die großen Konzerne, die wohlsituierte Mittelschicht und, nicht zu vergessen, die Pensionäre, die sehr gutes Geld vom französischen Staat bekommen.“ Dagegen lehne die Jugend die Politik des Establishments inzwischen komplett ab, wie auch die addierten Stimmen für Le Pen und Mélenchon zeigten.

In fünf Jahren könnte der Damm brechen, so Farage. Der Brexit-Ideengeber erzählt, wie seine eigene Protestbewegung, die in der Partei UKIP feste Formen gewann, ihre Wahlergebnisse seit 1999 kontinuierlich steigern konnte, bis sie 2014 in den EU-Wahlen die meisten Stimmen erhielt und damit eine nationale Wahl gewonnen hatte. Erst danach kam das Brexit-Referendum, und damit sei Brexit zum Status quo geworden. „Wir haben es geschafft, mit unserer Revolte den Status quo in diesem Land umzudrehen.“

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Für die nun kommende zweite Amtszeit sagt Farage eine „fast unerträgliche Arroganz“ Macrons voraus. Vor allem die Hoffnungen der britischen Regierung auf einen „diplomatischen Neubeginn“ bei den kommenden Diskussionen dämpft Farage nachdrücklich: Macron sei ein EU-Fanatiker, er hasse den Brexit, er möge die Briten nicht und die Engländer noch weniger. Farage, dessen zweite Frau Deutsche ist, erwartet keinerlei Offenheit, wenn es um die Handelsbeziehungen via Nordirland geht, ebenso bei Fischereirechten und der heißen Frage der illegalen Migranten am Ärmelkanal.

Zumindest diese letzte Frage könnten die Briten wohl mit Le Pen leichter lösen. Aber insgesamt hält Farage die Nordfranzösin nicht unbedingt für die einfachere Partnerin aus britischer Sicht. Doch sieht er voraus, dass das EU-System von „big government, big banks and big industry“ nur so lange zum Brunnen geht, bis es bricht.

Wo Le Pen gewann

Marine Le Pen hat sich bei diesen Wahlen vor allem auf dem Land und in kleineren Städten und Ortschaften verankert, wo sie in einigen Kommunen (mit mehr als 1000 Wahlberechtigten) bis zu 75 Prozent der Stimmen gewinnen konnte. Auch in Prades in den Pyrénées-Orientales, Heimatort des alten Premierministers Jean Castex, hat sie eine knappe Mehrheit der Stimmen (51,3 Prozent) errungen. 2017 hatte noch Macron in dem Ort gewonnen. Auch Colombey les Deux Églises, einst Wohnort von Charles de Gaulle, gewann sie mit 56,7 Prozent.

Betrachtet man Frankreich insgesamt, dann fällt auf, dass Le Pen im gesamten Osten – bis auf die Region um die Großstadt Lyon – starke Ergebnisse erzielen konnte, vom deindustrialisierten „Rostgürtel“ im Norden bis zur Mittelmeerküste. In den Überseedépartements und auf Korsika erzielte sie starke Ergebnisse von 60 Prozent und mehr. Offenbar sitzt der Protest hier tief. Die Mélenchon-Wähler liefen hier nicht zum Globalisten Macron über.

Derweil hat der RN-Vorsitzende Jordan Bardella Anzeige gegen einen TV-Kommentator erhoben, der die Partei als „rassistisch, xenophob und antisemitisch“ bezeichnet hatte. Bardella schrieb, dass 13,3 Millionen französische Wähler sich nicht mit derart vulgären Worten beleidigen lassen müssten, zumal nicht auf einem Sender mit großer Reichweite.

Seit 60 Jahren verfassungswidrig

Noch etwas Heiteres zum Schluss: Marine Le Pen wurde – auch von deutschen Medien – vorgeworfen, im Fall ihres Wahlsiegs die Verfassung brechen zu wollen, indem sie ein verfassungsänderndes Referendum anstoßen wollte. Das Journal du Dimanche informiert ausführlich über diesen Vorschlag und seine Verwandten in der Geschichte. Es war nämlich gerade General Charles de Gaulle, der 1962 die Direktwahl des Präsidenten durch ein ebensolches Referendum eingeführt hatte, nämlich nicht durch das Parlamentsbegehren nach Artikel 89, sondern als Exekutivreferendum nach Artikel 11. Ohne diese Verfassungsreform, die die Fünfte Republik erschuf, hätte es allerdings diesen ganzen Präsidentschaftswahlkampf 2022 nicht gegeben. Sollten die Kritiker Le Pens recht haben, dann wäre auch diese direkte Wahl des französischen Präsidenten – wie die anderen vor ihr – verfassungswidrig gewesen.

Die Verfassungsrechtlerin Laureline Fontaine lässt uns wissen: „Aber wenn man sagt, dass der Vorschlag Marine Le Pens verfassungswidrig ist, dann ist diese Wahl es gleichermaßen … da sie die Konsequenz der Revision von 1962 ist, die durch ein Referendum angenommen wurde! Das Recht ist formbar, in Abhängigkeit von denen, die das letzte Wort haben.“

Im Frühjahr 1969 hielt de Gaulle übrigens ein zweites Referendum zur Reform der Regionalverwaltung und des Senats ab – wie schon 1962 ohne die Beteiligung des Parlaments. Sollten seine Vorschläge abgelehnt werden, drohte de Gaulle mit Rücktritt. Tatsächlich trat er nach der knappen Ablehnung zurück.

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