Tichys Einblick
Nach der Wahl ist vor der Wahl

Frankreich in Bewegung: Einige Konservative könnten im zweiten Wahlgang für Le Pen stimmen

In Frankreich hat die Nachlese zum ersten Wahlgang begonnen. Das Mitte-Links-Syndikat der staatstragenden Parteien stellt sich hinter Macron, doch bei den konservativen Républicains wollen nicht alle mitspielen. Für einige scheint Le Pen in Frage zu kommen. Auch Marion Maréchal stößt neue Bündnisse an.

IMAGO/HBL Network

So wie man früher zumindest von der Deutschland-AG sprach, so kann man noch heute vom Frankreich-Syndikat sprechen. Der Nachbar im Südwesten ist weniger auf den Mittelstand und privatwirtschaftliche Unternehmen gegründet als auf eine staatliche Verwaltungsstruktur, die ihre Köpfe in den herrschenden Parteien und ihre Füße in zahlreichen Staatsunternehmen hat. Dieses Frankreich-Syndikat ruft heute zur Wahl Emmanuel Macrons auf.

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Die Parteien haben zwar in den vergangenen Jahrzehnten manchmal Namen und Gesicht gewechselt, dabei aber Sinn und Gehalt beibehalten. Macrons „La République en marche“ (LREM) ist nur die neueste, sozusagen die Start-up-Version dieses korporativen Regierungsmodells. Die Wünsche und Bedürfnisse der Bürger bilden diese Interessenverbände dabei nicht immer mit Genauigkeit ab.

Hier finden sich wiederum Parallelen zu Deutschland. Denn auch in der jüngeren Bundesrepublik stimmten die Interessen der Deutschland-AG nicht stets mit den Interessen der Bürger überein, wie vor allem das Jahr 2015 gezeigt hat, als die „AG“ sich fast geschlossen für die Offenhaltung der Grenzen aussprach. Kleinere Unternehmen, auch der Souverän wurden erst gar nicht gefragt, dessen Antworten – die Empörung über die Kölner Silvesternacht etwa – wurden weggedrückt und ignoriert. Ähnlich geht es heute in Frankreich, das sich auch mit dieser Wahl zum Teil als der Frosch erweist, dessen Wasserbad nur langsam wärmer wird.

Le Pen steht heute nicht mehr alleine da

Tatsächlich sah es zeitweise so aus, als sollte sich der zweite Wahlgang von 2017 exakt wiederholen, als Marine Le Pen schon einmal in die Stichwahl kam und gefühlt gegen die Vertreter aller anderen Parteien antrat. Doch das ist heute nicht mehr so. Das Blatt hat sich durch die Mitbewerber Éric Zemmour und Nicolas Dupont-Aignan gewendet, die beide zur Wahl Le Pens im zweiten Wahlgang aufriefen. Die Le-Pen-Nichte Marion Maréchal, inzwischen ein wichtiges Gesicht der Zemmour-Partei Reconquête (R!), bezeichnete Macron als den „Hauptgegner“.

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Dem sich derart neu formierenden nationalen Lager stehen die Parteiführer von Sozialisten, Grünen ebenso wie Valérie Pécresse von den konservativen Républicains gegenüber, die zur Wahl Macrons aufriefen. Der Linkssozialist Jean-Luc Mélenchon sprach nur eine negative Wahlempfehlung aus, mit der er trotzdem unmissverständlich klarmachte, dass er sich als Hüter seiner Wahlstimmschafe ansieht: Keine Stimme für Le Pen, wiederholte er dreimal mit verbietender Stentorstimme.

Ob alle seine Wähler aus dem ersten Wahlgang ihm da folgen werden? Auch der zähe Protest der Gelbwesten gegen Macron zeigt schon, dass Wahlenthaltung auch für Arbeiter und kleine Leute (sind das nicht Mélenchons Wähler?) eigentlich keine Möglichkeit sein dürfte.

Éric Ciotti: Schallende Ohrfeige für Macron und das System

Protest kam nun auch aus der konservativen Partei Les Républicains (LR), für die Valérie Pécresse das schlechteste Wahlergebnisse aller Zeiten eingefahren hat. Der Rechtsaußen seiner Partei, Éric Ciotti aus der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur (PACA) zwischen Avignon und Nizza, sagte im Fernsehsender TF1: „Die Franzosen sind frei (in ihrer Wahl), aber ich persönlich werde nicht für Emmanuel Macron stimmen.“ Ciotti zählt dann die Nichtwähler (25 Prozent) kurzerhand dazu, wenn er sagt, dass drei Viertel der Franzosen eine Proteststimme abgegeben hätten, „gegen das bestehende System, gegen die Politik Emmanuel Macrons“. Macron sei als Präsident offenbar gescheitert. Wie Ciotti hier genau rechnete, bleibt dunkel; vielleicht meinte er auch nur zwei Drittel, nämlich ca. 40 Prozent aller Stimmen für Le Pen, Mélenchon und Zemmour plus die 25 Prozent Nichtwähler. Es bleibt bei einer schallenden Ohrfeige für das System.

Doch auch seine eigene Partei, die „republikanische Rechte“, wie er sie nennt, die die fünfte Republik gegründet und deren „schönste Seiten“ geschrieben habe, habe eine historische Niederlage erlitten, so Ciotti weiter.

Zuletzt schloss er sogar eine Stimme für Marine Le Pen nicht mehr aus: „Meine Stimme gehört mir, und wir werden in den kommenden Tagen sehen, was sein wird.“ Politische Stimmverbote lehnt Ciotti ab, die hätten zwar leider Tradition, würden aber von den Franzosen nicht mehr akzeptiert. Mit Julien Aubert hat daneben ein weiterer LR-Abgeordneter aus dem Vaucluse um Avignon erklärt, dass er Macron nicht wählen wird. Aubert erwartet, dass die Républicains zeitnah eine „kollektive Entscheidung“ über diese Frage fällen. Diese gemeinsame Entscheidung der Partei (oder ihrer Führung) würde aber offensichtlich nichts an Auberts Wahlverhalten ändern, das nicht mit dem von Valérie Pécresse übereinstimmt.

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Die Républicains sind nicht nur innerlich gespalten, sie liegen auch finanziell am Boden, nachdem Pécresse knapp unter die Fünf-Prozent-Grenze fiel. Denn das bedeutet, dass ihre Wahlkampfkosten in Höhe von sieben Millionen Euro nicht vom französischen Steuerzahler übernommen werden. Pécresse soll persönlich fünf Millionen Euro investiert haben und bittet die Franzosen nun um dringende Nothilfe für ihre Kampagne.
Maréchal bringt Wahlbündnisse mit Le Pen ins Spiel

Rachida Dati, einst Zweitplazierte im Kampf um das Pariser Rathaus, zögerte am Wahlabend nicht, ihre Parteifreundin zu kritisieren und sprach von Problemen der „Verkörperung“ bei Pécresse. Als Kandidatin müsse man eine „direkte Beziehung mit den Franzosen“ aufbauen, sie sehen, hören, berühren, mit ihnen sprechen, sich von ihnen anschnauzen lassen. Man müsse öffentlich denken, seine eigene Position auch einmal in Frage stellen. Allerdings sprach auch sie sich rückhaltlos für Macron im zweiten Wahlgang aus. Anderenfalls drohe das Chaos.

Dennoch lässt sich sagen, dass der Politikertypus, den Dati beschrieb, heute ziemlich genau von zwei Kandidaten erfüllt wird: Marine Le Pen und Éric Zemmour, die sich insbesondere vieler junger Unterstützer zu erfreuen scheinen.

Am Montagmorgen stellte Marion Maréchal im privaten Radiosender Europe 1 lokale Wahlbündnisse ihrer neuen politischen Heimat mit dem Rassemblement national (RN) von Marine Le Pen in den Raum. Sie zeigte dabei etwas pflichtschuldige Enttäuschung über das Ergebnis von rund sieben Prozent, das doch ein respektabler Einstand für Zemmour war. Für die kommenden Parlamentswahlen vom 12. und 19. Juni hat die Partei in allen 577 Wahlkreisen Kandidaten aufgestellt. Der Ball liege nun bei Marine Le Pen. Auch mit Macron-kritischen Républicains würde sich die Zemmour-Partei offenbar absprechen, um im Kampf um die direkt vergebenen Abgeordnetenmandate gemeinsam zu punkten. Heißt es also bald Familienkrach ade – nicht nur im Le-Pen-Clan, sondern auch in der konservativ-nationalen Parteienfamilie Frankreichs?

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