Tichys Einblick
Eine Illusion von Berlin und Paris

Nein, die EU muss nicht Großmacht werden

Olaf Scholz’ Grundsatzrede in Prag skizzierte eine Neugründung der EU als postnationalen Großstaat. Anlass genug für ein Gedankenspiel: Würde sie heute neu geschaffen, wie könnte die EU aussehen? – Teil 2 einer TE-Serie zur Zukunft der EU.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron empfängt Bundeskanzler Olaf Scholz zum EU-Gipfel in Versailles, 10. März 2022.

IMAGO / Belga

In Menschenjahren gerechnet kommt die EU allmählich ins Greisenalter. Ihr Vorläufer, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), entstand 1957 mit dem Vertrag von Rom. Zuvor hatte die Kohle- und Stahlunion 1951 erste Grundlagen für eine supranationale europäische Integration gelegt. Europa als transnationales politisches Gebilde hat also gut sieben Jahrzehnte auf dem Rücken. Kein Wunder, dass man in der EU derzeit in sich geht, um zu fragen: Was haben wir geschafft, könnte es auch anders gehen?

Olaf Scholz’ Grundsatzrede in Prag ging in diese Richtung. Er mahnte ein Ende des Konsensprinzips an, damit die EU einheitlicher werde. Ein Ende des Vetorechts also, zunächst in der Außen- und Verteidigungspolitik, aber auch in der Steuerpolitik.

Ein Ende des Vetorechts, das haben Linke und Grüne in ihr Regierungsprogramm geschrieben, und die FDP nahm es hin. Es ist aber auch in weiten Teilen der CDU/CSU ein salonfähiger Gedanke. So viel Übereinstimmung bedeutet, dass es wahrscheinlich im nationalen Interesse Deutschlands liegt, das Vetorecht abzuschaffen. Aber liegt es im Interesse der anderen EU-Mitglieder?

Gegründet wurde das europäische Projekt, um ein konkretes Problem zu lösen. Die Grundidee kam aus Frankreich. Sie lautete: Wie kann man erreichen, dass die Deutschen damit aufhören, andauernd Kriege anzufangen?

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Wer Kriege führen will, braucht Kohle und Stahl. Kohle und Stahl transnational zu regulieren, das war eine Garantie gegen nationales Kräftemessen in der Rüstungsindustrie. Dies war der Ausgangspunkt für die vom damaligen französischen Außenminister Robert Schumann angestoßene Kohle- und Stahlunion ab 1951.

Ein Europa, in dem alle Länder miteinander frei Handel treiben, ist ein Europa ohne Krieg, lautete dann, etwas weiter gefasst, der Grundgedanke für die Gründung der EWG mit dem Vertrag von Rom 1957.

Stimmen mehren sich, die eine Großreform der EU fordern

Der Vertrag von Maastricht (1993) schuf die EU, die wir heute kennen. Wieder ging es darum, das deutsche Problem zu lösen, wieder kam die Idee aus Frankreich. In Paris hatte man Angst vor einem wiedervereinten Deutschland. Die Schaffung einer gemeinsamen Währung – den Euro – sollte die Deutschen noch stärker in den europäischen Rahmen einbinden, damit sie nicht auf dumme Gedanken kämen.

Heute leben wir in einer anderen Welt. Krieg zwischen Deutschland und Frankreich, überhaupt Krieg zwischen EU-Mitgliedern, ist undenkbar geworden. Es ist vielleicht mit ein Verdienst der EU, wahrscheinlicher aber ein Ergebnis der relativen militärischen Schwäche der europäischen Länder im Atomzeitalter. Man beginnt keine Kämpfe, wenn man sowieso nicht gewinnen kann.

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Nun mehren sich erneut die Stimmen, die wie Olaf Scholz in Prag eine Großreform der EU fordern. Das bedeutet, dass es – vor allem in den Augen Frankreichs und Deutschlands – ein neues Problem gibt, das gelöst werden muss. Diesmal geht es nicht mehr um die Einhegung Deutschlands, sondern um die Zementierung einer nachhaltigen politischen Hegemonie für Deutschland und Frankreich.

Wie sehr sich die Zeiten geändert haben, erkennt man an den aufpeitschenden Parolen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der oft und gerne fordert, Europa müsse Großmacht werden, um nicht unterzugehen. So lautet auch die Devise in Brüssel und Berlin (aber bereits Helmut Schmidt prophezeite als „elder statesman“, dass die im globalen Vergleich demografisch immer bedeutungslosere EU nur so ihre Stellung in der Welt behaupten könne).

Wie soll das gehen? Vertiefte Integration, Mehrheitsentscheidungen statt Vetorecht, eine gemeinsame Armee, verschärfte Rechtsstaatlichkeitsanforderungen, um Mitgliedsländer zu disziplinieren, die aus der Reihe tanzen. Ganz wichtig: gemeinsame Schulden (bereits erfolgt, mit dem Next Generation Fund zur Bewältigung der Covid-Krise) und gemeinsame Steuern. Das wird irgendwann die logische Folge sein, wenn Olaf Scholz’ Wunsch erfüllt wird und auch in der Steuerpolitik das Vetorecht entfällt.

Kurzum, noch mehr Macht und Kompetenzen sollen von den Nationalstaaten zur transnationalen Ebene wandern. Nur so – lautet das Argument – könne die EU trotz ihres immer geringeren Anteils an der globalen Wirtschaft und Bevölkerung ihren Einfluss wahren in einer multipolaren Welt, in der China, Russland und die USA jeweils ihre eigenen Ziele verfolgen.

Großmacht EU? Eine Illusion von Berlin und Paris 

Großmacht zu werden ist indes das genaue Gegenteil dessen, wofür die EU gegründet wurde. Sie war von Anfang an ein Projekt wider jedes Großmacht-Denken. Robert Schumans Traum war „Weltfrieden“, nicht „eine starke europäische Armee“.

Die Sehnsucht nach einer machtvollen EU im Konzert der Großmächte kommt allerdings nicht von den Bürgern Portugals. Oder Bulgariens. Oder Maltas. Oder aus Ungarn. Es ist eine Sehnsucht der historischen kontinentalen Großmächte. Der Subtext der Frage „wie kann Europa Bestand haben?“ lautet: „Wie können wir (Frankreich, Deutschland) es schaffen, weiterhin Großmacht zu bleiben?“

Die Antwort lautet: gar nicht. Die Zeiten sind vorbei. Und es ist nicht schlimm. Jedenfalls nicht aus ungarischer, bulgarischer oder slowakischer Sicht. Großmachtstreben und die Rivalitäten zwischen Großmächten haben für die kleineren Länder Europas immer nur eines bedeutet: dass Elefanten auf ihnen herumtrampeln. Russlands imperialer Krieg in der Ukraine hat zwar auch die kleineren Länder aufgeschreckt. Aber sie wissen alle, dass es nie die EU sein wird, die sie verteidigen kann, sondern der wahre Westen. Der liegt außerhalb der EU. Es sind die USA und England. Sich in ein neues fränkisches Reich einzugliedern unter deutsch-französischer Führung, ist leider keine Sicherheitsgarantie gegen Russland.

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Insofern Europa noch gestaltend ins Weltgeschehen eingreift, sind es die Nationalstaaten. Den Flüchtlingspakt zwischen der Türkei und der EU 2016 handelten Bundeskanzlerin Angela Merkel und die türkische Regierung aus. Das Minsker Abkommen zum vorläufigen Einfrieren des Ukraine-Konflikts 2015 war auf der europäischen Seite ein Werk Frankreichs und Deutschlands. Der jetzige Krieg wird erst enden, wenn Russland und die USA das entscheiden.

Die Wahrheit ist: Jene, die ein integrierteres Europa wollen, um Bestand zu haben gegenüber China, Russland und den USA, sind die historischen Großmächte Frankreich und Deutschland. Sie sind bestrebt, die EU als Verstärker zu nutzen, um ihren eigenen Einfluss in der Welt zu wahren.

Dafür müssen sie die kleineren Mitgliedsstaaten irgendwie überreden, oder zwingen. Denen ist es nämlich egal, wie stark oder schwach die EU ist im Vergleich zu anderen Großmächten. Eine EU als Subventionsverteiler und Freihandelsverein, um Wohlstand zu mehren, reicht ihnen völlig. Militärisch vertrauen sie für ihren Schutz der Nato.

Olaf Scholz’ Forderung nach einem Ende des Vetorechts in der EU-Außenpolitik ist ein wesentliches Element dieser deutsch-französischen Zukunftspläne.

Aber würde es wirklich etwas bringen? Mehrheitsabstimmungen hin oder her, die gemeinsame EU-Politik besteht im Wesentlichen aus Sprechblasen. Niemand glaubt, dass die Bundeswehr oder Spanien oder eine EU-Armee Lettland retten wird, wenn es von Russland angegriffen wird. Nicht die EU, sondern die USA, Russland und die Türkei sind es, die geopolitisch Fakten schaffen – weil sie Truppen einsetzen, um ihre Interessen durchzusetzen. Die EU wird das nie tun. Wenn sie es doch tut, verwandelt sie sich in das Gegenteil ihres Ursprungsgedankens.

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Militärisch wird auch eine integriertere EU nie gleichrangig sein mit den großen Atommächten. Der Wille zur globalen Großmacht existiert nur in den Köpfen von Strategen in Paris und Berlin. Anderswo in Europa interessiert es nicht. Wirtschaftlich ist die EU zwar ein Riese, und hat damit auch politisch Gewicht. Aber um ein wirtschaftlicher Riese zu bleiben, braucht sie nicht noch mehr Integration. Es hat auch ohne das bisher sehr gut geklappt.

Die europäische Großmacht-Sehnsucht ist nicht nur aussichtslos, sondern schädlich. Sie hat dazu beigetragen, die Beziehungen zu den USA zu belasten. Speziell die Einführung des Euro als potenzielle Weltwährung, und neue Regeln und hohe Strafen, um die Marktmacht amerikanischer Großkonzerne zu brechen, werden in Washington als Herausforderung empfunden. Dort sieht man Europa nicht mehr nur als Partner, sondern als potenziellen Rivalen. Nicht nur Donald Trump: Unter seinem Nachfolger im Weißen Haus, Joe Biden, ändert sich an dieser Analyse nicht viel. Dementsprechend ist der Ton in den USA gegenüber der EU in den letzten Jahren härter geworden.

Rückbesinnung ist angesagt

Wie könnte man die EU reformieren, wenn man sich vom illusorischen Traum einer Großmacht-Rolle in der Welt verabschiedete? Am besten durch eine Rückbesinnung auf das, was sie am besten kann: wirtschaftliche Kooperation. Sparen wir uns doch überflüssige Dinge, die Geld kosten und nichts bringen.

Einen eigenen „Außenminister”, den „Hohen Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik”, hat die EU seit 2009 (Vorgänger-Versionen dieser Funktion existierten seit 1999). Über dieses Amt kann man vieles erzählen, aber wenig über seine bisherigen Leistungen. Natürlich wäre es unrealistisch zu erwarten, dass dieses Amt wieder abgeschafft werden könnte. Genauso unrealistisch wie zu erwarten, dass der jeweilige „EU-Außenminister“ tatsächlich Impulse geben könnte für eine europäische Außenpolitik, oder sie gar prägen könnte. Den Ton geben nach wie vor Frankreich und Deutschland an. Was bedeutet, dass es eine europäische Außenpolitik nicht gibt – und so bald auch nicht geben wird. Sollte es eines Tages keinen Hohen Vertreter für Außenpolitik mehr geben, wird man dessen Verschwinden in der Praxis kaum spüren.

Belanglose, aber moralisch erhaben klingende gemeinsame außenpolitische Deklarationen der EU zu allen möglichen Themen, ohne jede Wirkung und Bedeutung, könnte man sich ebenso sparen. All das kostet Zeit und Geld, verlangt nach Konferenzen und bürokratischen Apparaten, aber liefert keine Ergebnisse. Noch nicht einmal auf den EU-Beitrittskandidaten Türkei vermag die EU-Außenpolitik nennenswert einzuwirken, oder sich dort auch nur Respekt zu verschaffen. Es ist wie mit dem Vatikan und dessen Einfluss, zu dem Stalin einst gefragt haben soll: „Wie viele Divisionen hat der Papst?”

Das EU-Parlament als demokratische Legitimation für eine Union bereits hinreichend demokratisch legitimierter Nationalstaaten mit eigenen Parlamenten ist auch so ein Konstrukt, über dessen Kosten-Nutzen-Relation man streiten kann. Lange hatte es keine wirklichen Machtbefugnisse. Es war ein demokratisches Feigenblatt in einem Institutionengefüge, dessen „Regierung” (die Kommission) ja auch keine echte Regierung war. Wozu also ein echtes Parlament?

Seit dem Vertrag von Lissabon (2007) hat sich das geändert. Das Parlament hat mehr Macht, kann beispielsweise Gesetzestexte blockieren und Kandidaten vor der Ernennung zum EU-Kommissar ablehnen. Das hat die Bildung jeder neuen EU-Kommission sowie die Ausarbeitung von EU-Gesetzestexten verlangsamt und verkompliziert.

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Das EU-Parlament ergeht sich gerne in politischem Aktivismus, um zu zeigen, wie wichtig es ist. So erklärte es die EU zum „Freiheitsraum für LGBTQ-Personen“ und initiierte ein Disziplinarverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrages gegen Ungarn. Nach Jahren ergebnislosen Geredes ist ein Ende der Prozedur nicht in Sicht.

Das EU-Parlament kostet rund zwei Milliarden Euro jährlich an Steuergeldern, laut „Economist” mehr als die Parlamente Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens zusammen. Es tagt sowohl in Brüssel als auch in Straßburg – warum, kann außer den Franzosen niemand erklären (es tagt in Straßburg, weil Frankreich es so wollte, um sich selbst politisch aufzuwerten).

Alles, was dazu beitragen kann, die Kosten des EU-Parlaments zu verringern, dessen messbare Leistung zu steigern, wäre willkommen. Würde man beispielsweise Englisch zur einzigen Amtssprache erklären und Straßburg als Sitzungsort streichen, so könnte man damit mehr als 560 Millionen Euro einsparen (460 Millionen Euro nur für Übersetzungen im Jahr 2016). Es würde auch das Klima weniger belasten.

Kohäsionsgelder sind das Mittel, das die EU anwendet, um sich für ihre Mitglieder interessant zu machen. Sie befeuern Gier und Korruption und missratene Entwicklungsprojekte. Ich habe an anderer Stelle darüber geschrieben, warum man damit ganz aufhören sollte: Das Ziel dieser Gelder, Europas ärmere Länder zu den reicheren aufschließen zu lassen, kann nicht gelingen, solange diese Gelder zurückfließen an westeuropäische Großkonzerne, die viele Infrastrukturausschreibungen gewinnen, weil sie mehr Geld und Erfahrung haben. Wenn eine Regierung – wie in Ungarn – Kohäsionsgelder vorzugsweise einheimischen Bewerbern zukommen lässt, damit das Geld im Land bleibt, ist es rasch „Korruption”. Hören wir einfach auf damit.

Damit entfällt dann auch die Forderung, die „rechtsstaatliche” Verwendung dieser Gelder politisch kontrollieren zu wollen, und somit viel Streit. Auch die konfliktfördernde Forderung nach eigenen EU-Steuern würde entfallen, also nach Finanzierungsquellen für die EU jenseits dessen, was die Staaten einzahlen. Wer weniger Geld braucht, muss nicht nach neuen Einnahmequellen suchen.

Die Probleme, für deren Lösung die EU gegründet wurde, sind gelöst. Das neue Problem – Europas Status als Macht in der Welt – ist nicht lösbar. Wir sollten neu darüber nachdenken, was heute wirklich nötig ist. Überlassen wir es den Nationalstaaten, nach dem demokratisch ausgedrückten Willen ihrer Bürger ihre Angelegenheiten zu regeln. Die EU als gemeinsamer Binnenmarkt europäischer Demokratien ist eine schöne Sache. Es wäre schade, sich diesen Erfolg zu verderben durch immer mehr Streit um Dinge wie Genderpolitik, Einwanderung und unsere Haltung zu Israel und Palästina.

Was Russland betrifft: Die größte Hilfe für die Ukraine kommt nicht von der EU, sondern von einzelnen Nationalstaaten, die schnell und unbürokratisch handeln. Es sind dies vor allem die USA, England – also Länder außerhalb der EU – und Polen, das von der EU bestraft wird, weil es ein souveränes Land sein will.

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