Tichys Einblick
DEBATTE: EIN JAHR KRIEG IN DER UKRAINE

Ein Jahr Ukraine-Krieg – Putins Lügen und skurrile Friedensappelle

Russlands Überfall auf die Ukraine jährt sich zum ersten Mal. Beide Länder mussten einen hohen Blutzoll entrichten, ein Ende des Kriegs ist nicht in Sicht. Der geforderte Stopp von Waffenlieferungen an Kiew wäre aber fatal, beschreibt Wojciech Osiński die polnische Perspektive.

Demonstranten in Krakau fordern Waffen für die Ukraine, 23.02.2023

IMAGO / NurPhoto

Es gibt nicht mehr viele gute Geister, von denen die  Vertreter des westlichen Pazifismus verlassen werden könnten. Trotz beispielloser Kriegsverbrechen Russlands in der Ukraine tragen einige „Linksintellektuelle“ in der BRD nach wie vor die rosarote Brille eines unerschütterlichen Optimisten. Keine Lüge, keine Sinnverdreherei seitens Moskau ist ihnen zu dreist, als dass nicht auch sie sich diese zu eigen machten. Für einen „Frieden“, wie ihn Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht begreifen, warb auch Putin in seiner Rede zur Lage der Nation. Wie engstirnig muss man sein, um nicht vorherzusehen, dass ein abrupter Waffenlieferungsstopp an die Ukraine einen raschen Zusammenbruch des Landes und eine Beschleunigung der Expansionspolitik Russlands nach sich zöge?

Debatte: Ein Jahr Krieg in der Ukraine
Den deutschen Medien fehlt ein gutes Bild vom Krieg in der Ukraine 
Aus einem Geheimdokument aus der russischen Präsidialverwaltung geht hervor, dass der Kremlchef offenkundig das Nachbarland Belarus bis zum Jahr 2030 schrittweise übernehmen möchte. Seit Wochen versucht die moldauische Präsidentin Maia Sandu die Partner im Westen zu überzeugen, dass auch in ihrem Land russische Saboteure die Regierung zu stürzen gedächten, um von dort aus die militärische Effektivität im Krieg mit der Ukraine zu erhöhen. Ähnlich wie Polen, das im August 1920 ganz Europa vor der „roten Seuche“ bewahrte, kämpfen die Ukrainer gegenwärtig für uns alle.

Eines sollten wir aber nicht vergessen: Ohne die Vereinigten Staaten könnten sie ihre Freiheit kaum verteidigen. Dies sollten wir uns noch einmal verdeutlichen in einer Zeit, in der manch ein deutscher Sozialist hartnäckig behauptet, die USA seien die eigentlichen „Kriegstreiber“. Weder die Bundesrepublik noch Frankreich wären vor einem Jahr imstande gewesen, eine derartige Waffen- und Ausrüstungsvielfalt zu gewährleisten. Jegliche Diskussionen über eine „Europaarmee“ waren allenfalls rhetorische Nebelkerzen, die stets dann gezündet wurden, wenn die eklatanten Defizite bei der Bundeswehr verschleiert werden sollten. Spätestens jetzt wissen wir: Wenn der Krieg vor der eigenen Haustür tobt, helfen auch die dichtesten Nebelschwaden nicht mehr.

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Als US-Präsident Joe Biden vor einigen Tagen in den Kubicki-Arkaden am Warschauer Königsschloss die Einheit des Westens beschwor, hob er gleichfalls die „außerordentliche Leistung“ der Polen hervor, die nach dem Kriegsausbruch Millionen Menschen aus der Ukraine Schutz und Unterkunft anboten. Es war jedoch mehr als das. Während an der Spree noch über die Lieferung von Feldlazaretten und 5000 Helmen debattiert wurde, hatte die polnische Regierung bereits ihre sämtlichen Panzer sowjetischer Bauart an Kiew geliefert. Es sind keineswegs Waffenlieferungen, die den Krieg verlängern und die Eskalation befördern, sondern die diesbezügliche Hinhaltetaktik einiger europäischer Regierungen sowie sogenannte „Friedensappelle“ von politischen Stammspielern, die als Linksaußen der Argumentationskunst Putins huldigen.

An all diejenigen, die am kommenden Sonnabend in Berlin für „Friedensverhandlungen“ demonstrieren möchten: Die Verantwortung für einen Krieg trägt unverändert der Invasor. Wie sollen denn bitte Friedensgespräche mit einem Aggressor aussehen, der auf die völkerrechtswidrige Annexion von vier Gebieten eines souveränen Staates pocht? Diese völlig abstruse Sichtweise würde ja auch implizieren, dass Polen für den Zweiten Weltkrieg und den anschließenden Massenmord an eigenen Bürgern verantwortlich gewesen wäre, weil sich die deutsche Minderheit an der Weichsel schlecht behandelt fühlte. Man muss nicht mit besonderen intellektuellen Fähigkeiten ausgestattet sein, um festzustellen, dass der Vergewaltiger die Schuld an einer Vergewaltigung trägt und nicht die Frau, die ihn „vorsätzlich provoziert“. Wir dürfen niemals zulassen, dass diese intoxikierte postsowjetische Logik, von der sich Wladimir Putin noch heute leiten lässt, obsiegt.

Der Kanzler zu Gast
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In bestimmten politischen Kreisen Deutschlands und Österreichs ist seine Propaganda ja bereits auf fruchtbaren Boden gefallen. Russlands Lügen werden immer dreister und in manchen mitteleuropäischen Abgeordnetenbüros kursiert schon allen Ernstes das Gerücht, die Regierung in Warschau stelle die Nachkriegsgrenzziehung in Frage und sei womöglich sogar selbst an einer „Annexion“ der ehemals polnischen Gebiete der Ukraine interessiert. Bei aller gebotenen Höflichkeit, aber so einen blanken Unfug haben wir schon seit Ewigkeiten nicht mehr gelesen. Es ist Russland, das die Grundfesten der europäischen Sicherheit in Frage stellt und Polen sowie die Ukraine sind an deren Aufrechterhaltung interessiert. Es ist traurig, dass man ein Jahr nach dem Beginn dieses furchtbaren Kriegs immer noch daran erinnern muss.

Deshalb ist es so wichtig, dass wir auch künftig der Ukraine unsere Unterstützung für ihre Souveränität und territoriale Integrität zusichern. Solange Russlands Demokratisierungsprozess mehr Defekte als Fortschritte aufweist, haben effektvolle „Friedensappelle“ von „Emma“-Redakteuren keinen Sinn.