Tichys Einblick
EU: nicht lernfähig

Der Tag nach dem Brexit: Aufbruchsstimmung oder Katzenjammer?

Bemerkenswert ist, dass es nun doch erste Signale der Aussöhnung zwischen den verfeindeten Lagern von Seiten der Remainers gibt, jedenfalls in England, weniger wohl in Schottland.

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„Get Brexit done“, das war die Devise, mit der Boris Johnson die letzten Unterhauswahlen gewonnen hat. Nun ist das Werk vollbracht, jedenfalls fürs Erste. Allerdings stehen Großbritannien und der EU noch schwierige Verhandlungen über die dauerhafte Regelung des gegenseitigen Verhältnisses bevor. Dass diese Verhandlungen vollständig scheitern, bleibt weiterhin denkbar, denn die EU möchte vermeiden, dass Großbritannien Zugang zum Binnenmarkt erhält, wenn es nicht seinerseits garantiert, bei Produktstandards, bei Umweltvorschriften, aber auch beim Arbeitsrecht die gleichen Regeln anzuwenden wie die EU-Mitgliedstaaten. Ein unfairer Wettbewerb soll vermieden werden. Umgekehrt will die britische Regierung sich auf keinen Fall der Jurisdiktion des EuGH unterstellen und auch nicht Regeln übernehmen müssen, die die EU in Zukunft, ohne die Briten zu konsultieren, beschließen könnte.

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Wie man hier zusammenkommen will, ist weiterhin unklar. Vermutlich wird es am Ende des Jahres eine ganze Reihe fauler Kompromisse geben – wenn die EU sich auf etwas versteht, dann ist es die Konstruktion von fragwürdigen Formelkompromissen –, während man zentrale Fragen denn doch nur in Gestalt von Provisorien regelt. Eine endgültige Bereinigung des Verhältnisses wäre dann Gegenstand weiterer Verhandlungen, die sich über Jahre hinziehen werden. Denkbar wäre aber auch, dass es doch noch zu einem harten Brexit kommt. Wahrscheinlich ist das nicht, denn beide Seiten haben zu viel zu verlieren, und auch in der Kommission, das zeigte die Rede, die die Päsidentin von der Leyen anlässlich des Brexit im EU-Parlament hielt, herrscht mittlerweile, was das Verhältnis zu Großbritannien betriff, der Pragmatismus vor.
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Allerdings gibt es auch Gegenkräfte. Zu diesen ist sicherlich der unnachahmliche Guy Verhofstadt (mit vollem Namen Guy Marie Louise Verhofstadt) zu rechnen, der einmal mehr eine flammende Rede im EU-Parlament hielt, in der er die wirklichen Gründe für den Brexit mit bestechender Klarheit identifizierte: zu wenig Zentralisierung. Wäre die EU ein echter Staat und die Nationalstaaten nur noch reine Provinzen dieses Staates, dann hätte es nie einen Austritt der Briten gegeben. Offenbar hat Verhofstadt nicht verstanden, dass in Großbritannien das Verschwinden des eigenen Nationalstaates anders vielleicht als in Deutschland oder auch in Verhofstadts eigenem Belgien, das freilich nur noch die Fassade eines Nationalstaates bietet, weil es schon längst in Teilstaaten zerfallen ist, nie konsensfähig war.

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Das eigentliche Problem der EU in den letzten 20 Jahren waren auch nicht die Zugeständnisse, die man Großbritannien in Form von Beitragsrabatten und Ausnahmeklauseln für einzelne Vereinbarungen gemacht hat, sondern der Umstand, dass viele Länder der EU das gemeinsame Recht nur sehr selektiv oder in Teilbereichen auch gar nicht anwenden. Man denke an die weitverbreitete Korruption vor allem im Südosten und Süden der EU, die oftmals die Idee der Rechtstaatlichkeit komplett ad absurdum führt. Was Rechtsstaatlichkeit betrifft, verfolgen auch Ungarn und Polen zur Zeit einen sehr eigenwilligen Kurs, während andererseits Länder wie Italien und Frankreich oft genug zu Protokoll gegeben haben, dass sie vom Stabilitätspakt, der theoretisch die Eurozone zusammen halten sollte, weniger als nichts halten und auch nicht gewillt sind, ihn konsequent anzuwenden.

Was Politiker wie Verhofstadt, seines Zeichen immerhin einer der führenden Köpfe der Liberalen im EU-Parlament, nicht begreifen, ist, dass die EU gerade deshalb in eine Dauerkrise geriet, weil sie zu oft den zweiten Schritt vor dem ersten gemacht hat: Eine Währungsunion ohne politisches Fundament und offene Binnengrenzen ohne gesicherte Außengrenzen und eine gemeinsame Migrationspolitik sind nur zwei besonders eklatante Beispiele dafür. Fraglich bleibt aber auch die Idee eines einheitlichen europäischen Staates an sich, denn Europas Stärke war in der Vergangenheit immer seine Vielfalt, übrigens auch und gerade mit Blick auf die unterschiedlichen Wirtschaftsmodelle und -kulturen.

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Wie aber wird es in Großbritannien selber weitergehen? Bemerkenswert ist, dass es nun doch erste Signale der Aussöhnung zwischen den verfeindeten Lagern von Seiten der Remainers gibt, jedenfalls in England, weniger wohl in Schottland. Im Guardian rief Timothy Garton Ash, ein überzeugter Remainer und ein sehr angesehener liberaler Wissenschaftler und Publizist, dazu auf, nun dafür zu sorgen, dass die möglichen negativen wirtschaftlichen Folgen des Brexit das Land nicht zu hart treffen. Hier müssten auch die besiegten Remainers sich aktiv engagieren. Mit einer gewissen Berechtigung wies er aber auch darauf hin, dass Großbritannien außerhalb der EU nur prosperieren kann, wenn auch die EU wirtschaftlich leidlich erfolgreich ist. Die Verflechtung der Volkswirtschaften ist einfach zu eng. Ash, ein kluger Mann, der auch an anderer Stelle zeigt, dass seine eigenen politischen Sympathien die Ausgewogenheit seines Urteils nicht allzu sehr beinträchtigen, will damit freilich nicht jenen Verfechtern eines englischen Sonderweges beistimmen, die für England nationale Freiheit und für den Kontinent einen zentralisierten Staat fordern. Zu ihnen gehört etwa der Cambridger Historiker Brendan Simms, für den namentlich Deutschland der europäischen Einigung seine eigene Existenz und seinen schwindenden Wohlstand bedingungslos opfern muss, wenn Europa als neues Imperium gedeihen soll. Hier ist er sich dann mit EU-Fanatikerinnen wie der großartigen Ulrike Guerot, der Titania McGrath des EU-Enthusiasmus, ganz einig. Nein, Ash macht selbst darauf aufmerksam, dass die verbleibenden EU-Länder einen großen Fehler machen würden, wenn sie sich dem Irrglauben hingäben, dass der britische Aufstand gegen die EU nur Ausdruck der bekannten britischen Neigung zum Exzentrischen sei.

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Nach Ash gibt es in ganz Europa starke Protestbewegungen, die er unter dem Begriff „anti-liberal populist nationalism“ subsumiert. Nun ist gerade der Ausdruck „Populismus“ freilich oft ein stark werthaltiger Kampfbegriff und weniger ein Instrument der politischen Analyse, und Ash neigt hier dann doch dazu, seine eigenen Wertvorstellungen als die einzig plausiblen hinzustellen. Aber richtig bleibt, dass das unübersehbare Legitimitätsdefizit der EU immer wieder Protestbewegungen hervorrufen wird. Was die Menschen wollen, ist einerseits erfahrbare Demokratie – und erfahrbar wird Demokratie zum Beispiel dort, wo man Regierungen abwählen kann, was in Brüssel nicht geht – und andererseits die Möglichkeit, über zentrale Fragen der Sozial- und Wirtschaftspolitik, aber auch der Immigration selber auf nationaler Ebene zu entscheiden. Das gilt ganz besonders dann, wenn die Verlagerung von Kompetenzen nach Brüssel eben anders als zum Beispiel in der Handelspolitik kein Mehr an Wohlstand, Effizienz und Ordnung gewährleistet, sondern eher das Gegenteil. Dass der Protest gegen die Bevormundung durch Brüssel dann oft recht grobschlächtig ausfällt, darüber darf man sich nicht wundern, wenn man die normalen Prozesse der demokratischen Mitbestimmung und Willensbildung so stark einschränkt, wie es die EU nun einmal tut, vielleicht auch tun muss, um die Konflikte zwischen den Mitgliedsstaaten nicht noch weiter eskalieren zu lassen. Aber leider muss man befürchten, dass in Brüssel niemand bereit ist, einen kritischen Blick auf den bisherigen Integrationsprozess zu werfen und von der Parole „Mehr Europa“ als Antwort auf alle Probleme abzurücken. Die EU mag vieles sein, und in Teilbereichen hat sie sicher auch ihre Meriten, aber eines ist sie nicht: lernfähig. Wäre es anders, hätte es den Brexit vermutlich nie gegeben.
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