Tichys Einblick
Polen erneut auf der Anklagebank

Der Mythos vom intoleranten Polen 

Die deutsche Presse ist voller Absurditäten über das östliche Nachbarland. Und einige EU-Politiker und Publizisten pochen auf eine Verschärfung der Rechtsstaatsklausel im EU-Haushalt. Damit schießen sie sich jedoch ins eigene Knie.

Die Redakteure des Spiegel haben bekanntlich Spaß daran, wenn ihre geschriebenen Worte zünden wie Knallfrösche. Wieder einmal bedauern sie es zutiefst, dass Polen und Ungarn beim letzten EU-Gipfel in Brüssel „verschont“ wurden. Um die angekündigten Corona-Milliardenhilfen durchzusetzen, hätten die Kommissionsmitglieder „Europas Autokraten“ zu „sanft“ angefasst, lesen wir in der aktuellen Ausgabe des Wochenblatts. Um diese These zu untermauern, werden einmal mehr oppositionelle „Verfechter der Freiheit“ aus Warschau und Budapest herbeizitiert, die sich ebenfalls wundern, dass die EU bislang so wenig gegen den „Demokratieverfall“ in ihren Ländern unternommen habe.

„Diese Angriffe auf die Meinungs- und Kulturfreiheit, auf den Rechtsstaat und die Zivilgesellschaft passieren nicht irgendwo. Sie passieren mitten in Europa“, glaubt der Spiegel. Der ganze Artikel ist in einem Tonfall geschrieben, als würden dessen Autoren aus totalitären Ländern berichten, wo unberechenbare Diktatoren bereits mit den Atomknöpfen hantieren. In Ermangelung belastbarer Beweise wird dann auch schnell mal ein ungünstiges Bild des PiS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyński hinzugefügt, das auf „türkische Verhältnisse“ in Polen hindeuten soll. In der Tageszeitung Welt lesen wir wiederum, Polen und Ungarn seien wie zwei „Metzgermeister“, die sich konsequent einer „Hygieneprüfung“ verweigern. Der Welt-Korrespondent moniert, dass es in Europa zu wenig „liberale Falken“ wie Frans Timmermans und Guy Verhofstadt gebe. Polen sei „ein chauvinistischer Wunschtraum, in dem Glashochhäuser in den Himmel wachsen und am Boden bargeldlos Sojaschnitzel gezahlt werden“, so der Autor. Na ja, könnte man meinen, was schert uns Polen die deutsche Mainstream-Presse? Die schreiben doch ohnehin, was sie wollen. Das Problem ist nur, Welt und Spiegel sind auch auf den Flughäfen in Tokyo, Kapstadt und London erhältlich. Zumeist kursieren die darin enthaltenen Absurditäten auch gleichzeitig im Internet, finden auf dem ganzen Globus Verbreitung. 

Politische Verdrossenheit

Die westliche Polen-Berichterstattung läuft seit fast fünf Jahren auf ein und derselben Betriebstemperatur: Eine grundsätzliche Aversion gegen alles „Demokratische“ sei der hauptsächliche Rohstoff, der das „trio infernal“ Duda-Morawiecki-Kaczyński am Laufen hielte. Und wieder einmal sei in Brüssel zu wenig getan worden, um einen Mechanismus durchzusetzen, der die Einhaltung „europäischer Werte“ mit der Auszahlung von EU-Hilfen verknüpft. Es werde zwar künftig eine Regel zum Schutz des Rechtsstaats geben, heißt es, doch es gebe noch keine konkreten Richtlinien, wie man diese auch in die Praxis umsetze.

Tatsächlich wird das Gipfelkommuniqué den Regierungen in Warschau und Budapest kaum den Schlaf geraubt haben. Mit der polnischen und ungarischen Rechtsstaatlichkeit wird sich am Ende ohnedies der Rat der EU beschäftigen, wo in allen sensiblen Angelegenheiten das Einstimmigkeitsprinzip erforderlich ist. Dennoch wäre es fahrlässig, den beim Gipfel erreichten Kompromiss als einen Sieg der Visegrád-Staaten einzustufen. „Wir haben erreicht, dass erstmals ein Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit im mehrjährigen Finanzrahmen verankert wurde, auch wenn die Arbeit zur Umsetzung dieser politischen Vereinbarungen in konkrete Rechtsverordnungen noch vor uns liegt“, freut sich Bundesaußenminister Heiko Maas.

Hinter dieser diplomatischen Zuckerwatte verbirgt sich ein eindeutiges Signal: Auch wenn die bisherigen Muskelspiele der EU vorwiegend symbolischen Charakter hatten, wird das von Neomarxisten dominierte Parlament in Straßburg auch künftig nichts unversucht lassen, bei „Unvereinbarkeiten“ mit rechtsstaatlichen Prinzipien einen Zahlungsstopp zu erwirken. Noch vor dem offiziellen Abschluss der zähen Verhandlungen haben einige EU-Abgeordnete bereits mit dem Feingefühl einer Abrissbirne auf eine Verschärfung der Rechtsstaatsklausel im Sieben-Jahres-Haushalt gepocht. Vereinzelt wurden gar Forderungen nach einer „qualifizierten Mehrheit“ hörbar, die den Reformeifer der osteuropäischen „Wilden“ schneller ausbremsen würde. Dann reichte nicht einmal mehr die Schützenhilfe der anderen beiden Visegrád-Staaten aus, um Morawiecki und Orbán zu retten. Wie und wann die qualifizierte Mehrheit zur Anwendung käme, steht allerdings noch in den Sternen. Bis dahin verweisen die linken Skeptiker auf „weitere Stützen“ demokratischer Standards. 

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Der österreichische Politikberater Gerald Knaus etwa meint, dass Zahlungen künftig an die Rechtsprechung des EuGH gekoppelt werden könnten. Dies fordert auch der spanische Sozialist Juan López Aguilar, der neben Verhofstadt und Timmermans derweil zur dritten Stimme avanciert, die regelmäßig gegen die Regierenden in Warschau zu Felde zieht. Wenn aber EU-Transferleistungen künftig tatsächlich von den Launen der Luxemburger Richter abhingen, dann hätten z. B. Deutschland und Spanien ein Problem, denn beide Länder haben bislang weitaus mehr EuGH-Urteile missachtet, als Polen und Ungarn.

Zudem würde dies vermutlich auch eine effizientere Kontrolle der Mittelausgaben bedeuten, wobei beispielsweise Polen im Gegensatz zu einigen südlichen EU-Mitgliedsstaaten nichts an einer solchen Transparenz zu beanstanden hätte. Der einhellige Tenor an der Basis der linken Kritiker ist offensichtlich: Sie möchten um jeden Preis die konservativen Regierungen in Warschau und Budapest stürzen, vergessen aber dabei, dass sie eine Revolution vom Zaun brechen, mit der sie sich selbst ins Knie schießen könnten. Nach dem erneuten Wahlsieg des polnischen Staatsoberhaupts Andrzej Duda ist bei einigen von ihnen inzwischen die Verdrossenheit offenbar so groß, dass ihr Verhalten jeder Logik entbehrt.

Warfen sie noch im Mai der PiS-Regierung vor, sie wolle trotz der Corona-Pandemie den ursprünglichen Wahltermin einhalten, behaupten sie heute wiederum, die Verschiebung der Präsidentschaftswahlen sei „undemokratisch“ gewesen. Und dies sind leider keine bloßen Erheiterungsversuche. Augenscheinlich sind die Sozialisten aus Brüssel durchdrungen von der Angst, dass es demnächst, wie an vielen Orten in Europa, vorbei sein könnte mit der linken Hegemonie alter Prägung.

Weitere Druckmittel

Glücklicherweise münden die meisten dieser mit Verve angekündigten Offensiven weder in eine Schlacht noch in einen Stellungskrieg. Wenn man nämlich den publizistischen Krawall und Klamauk einiger Osteuropa-Korrespondenten auslagert, sind die Beziehungen zwischen den Visegrád-Staaten und den Entscheidungsträgern in Brüssel erstaunlich harmonisch. Das heißt aber nicht, dass die westeuropäischen Gesinnungsjournalisten jetzt den Finger vom Abzug nehmen. Da die EU-Kommission in ihrem „Kampf um Demokratie“ nicht so recht vorankommt, fordern sie weitere „Druckmittel“. So sollten z. B. Städtepartnerschaften aufgekündigt und Investitionen zurückgeschraubt werden.

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Auch die aktuelle Debatte um die sog. Istanbul-Konvention, einen völkerrechtlichen Vertrag, dessen Mitglieder sich zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen verpflichten, hat man sich zum Anlass genommen, um Polen eine abermalige politische „Umerziehungskur“ zu verpassen. Doch werden an der Weichsel die Frauenrechte wirklich mit Füßen getreten? Schauen wir uns das mal genauer an: Nach den Angaben der EU-Statistikbehörde Eurostat (die von den meisten EU-Parlamentariern wohl kaum hinterfragt werden) arbeiten in Polen mehr Frauen, als in allen südlichen EU-Staaten. Auch gibt es in Polen vergleichsweise mehr weibliche Führungskräfte. Die höchste Zahl von gewalttätigen Sexualdelikten verzeichnet wiederum Großbritannien, gefolgt von Deutschland und Frankreich. Polen ist in diesem unrühmlichen Ranking ganz weit hinten und es ist schier unglaublich, dass ausgerechnet einige dieser Länder diesbezüglich zu einer „zivilisatorischen Mission“ im Osten Europas aufrufen.

Eine Gesellschaft, die sich noch unlängst totalitärer Fremdherrschaft erwehren musste, ist vielleicht noch nicht wohlhabend, aber ganz bestimmt nicht geistig zurückentwickelt. Bevor Hitler und Stalin Polen überfielen, hatte das Land bereits höchst modernen Umgang mit Frauenrechten gepflegt, während sie im Westen noch bloße Makulatur blieben. Wegen der spezifischen politischen Situation mussten sich polnische Frauen einfach früher emanzipieren, doch die Redakteure der Welt oder des Spiegel werden darüber niemals berichten, weil sie sich solchen Fakten verschließen.

Die Regierenden in Warschau wehren sich heute gegen die Istanbul-Konvention, weil sie dahinter ideologisches Gedankengut vermuten. Ob zurecht oder nicht – darüber darf man streiten. Zweifellos aber schützt das heutige polnische Gesetz die Frauen bereits hinlänglich vor jedweder Diskriminierung und Gewalt (das Vergewaltigungsgesetz soll gar noch verschärft werden). Wenn sich also die von der EU mitfinanzierte polnische Linke erbost, dass die PiS nun künftig alle Frauen zwischen Oder und Bug einer „Gewaltorgie“ aussetzen werde, dann ist dies an Heuchelei nicht mehr zu überbieten. Denn anders als vielleicht in westlichen Einwanderungsländern gibt es in der polnischen Gesellschaft kein „fundamentalistisches Patriarchat“, das vielerorts hinter der trügerischen Fassade häuslicher Harmonie die Frauen unterdrückt. Der polnische Katholizismus ist kein „chauvinistischer“ Glaube, könnte aber als ein solcher durch die Istanbul-Konvention ausgelegt werden.

Es lässt sich eben nicht alles in Europa so rasch vereinheitlichen, wie es sich die Herren (und Damen!) im Westen auf ihre roten Fahnen geschrieben haben. Ähnliches gilt im übrigen auch für die LGBT-Bewegung. Der Mythos vom „turbonationalistischen und schwulenfeindlichen“ Polen lebt, wobei die im westeuropäischen Bewusstsein angelagerten Vorurteile längst nicht abgetragen sind und dank einiger Medien auch weiterhin das deutsch-polnische Verhältnis trüben dürften. Mit den publizistischen Einlassungen über die vermeintliche Homophobie der Polen ist allerdings kaum mehr als die Oberfläche des Problems angekratzt.

Festgefahrene Vorurteile

Den Beginn der weltweiten LGBT-Bewegung markieren bekanntermaßen die Unruhen von 1969 in New York. Eine Polizeirazzia in der Kneipe Stonewall Inn in der Christopher Street führte zu einem Aufstand, der für die US-amerikanische Schwulenszene so etwas war, wie für die russischen Bolschewisten der Platzpatronenschuss des Panzerkreuzers „Aurora“. Die Schwulen und Lesben in den USA hatten einen Grund, sich zu wehren: Sie kämpften für eine Depönalisierung der Homosexualität. Dies taten sie auch in einigen westeuropäischen Ländern, wo gleichgeschlechtliche Beziehungen ebenfalls tief hinein ins 20. Jahrhundert unter Strafe standen. In den USA konnte man dafür noch bis 2003 strafrechtlich belangt werden, in der BRD wurde der letzte für seine Orientierung verurteilte Homosexuelle erst im Jahr 2000 aus dem Gefängnis entlassen. In Großbritannien warteten LGBT-Anhänger auf erste Gesetzeslockerungen bis Ende der 1970er Jahre. In Polen indessen wurden Homosexuelle seit der Zwischenkriegszeit nicht mehr strafrechtlich verfolgt. Dies war in Europa lange ein Ausnahmefall. Die linken „Generäle“ in der EU können es natürlich nicht wissen. Woher denn auch? Von der polnischen Opposition, die in ihrer postkolonialen Art selbst Vorurteile reproduziert?

Auch in dieser Hinsicht geht man in Europa offenkundig davon aus, dass Polen sich erst einmal einer politischen „Umerziehung“ unterziehen muss, um Schwule und Lesben als normal anzuerkennen. Nur: sie wurden bei uns schon immer toleriert. In der polnischen Geschichte findet man keine spektakulären Fälle von Verfolgungen Homosexueller, die etwa in den westlichen Chroniken auftauchen. Es gab in Polen keine Schauprozesse gegen prominente Schwule wie in Großbritannien gegen Oscar Wilde oder wie im wilhelminischen Kaiserreich gegen Philipp zu Eulenburg.

Polnische Dichter wurden nicht ins Gefängnis gesteckt, wenn sie sich Liebesbriefe schrieben wie etwa die Franzosen Paul Verlaine und Arthur Rimbaud. Sexuelle Minderheiten konnten sich in Polen nicht gegen eine Pönalisierung ihrer Ansichten erheben, weil sie schlechterdings nicht verfolgt wurden. Womöglich waren die Polen schon damals „normal“. Ausgenommen sind die aus Moskau gesteuerten Kommunisten, die in den 1980er Jahren im Rahmen der Aktion „Hiacynt“ prominente Homosexuelle zu diffamieren suchten. Und es ist wahrlich eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet die Nachfahren dieser polnischen Marxisten heute mit regenbogenfarbenen Fahnen herumwedeln.

Feind eint
Warum Linke Rechte brauchen
Eine Verpflanzung der LGBT-Bewegung nach Polen gestaltet sich jedenfalls deshalb so schwierig, weil wir im Gegensatz zu anderen Ländern keine Schuldkomplexe gegenüber Homosexuellen haben. Dies scheinen bei uns mitunter sogar einige linke Publizisten erkannt zu haben. Maciej Gdula, Soziologe und Autor der sozialistischen Zeitschrift Krytyka Polityczna, hat einst eine Feldforschung in der polnischen Provinz durchgeführt und ihre Bewohner gefragt, ob sie etwas gegen Schwule oder Lesben hätten. Die meisten von ihnen haben diese Frage verneint.

Und selbst der homosexuelle Präsidentschaftskandidat Robert Biedroń wäre nie Bürgermeister von Słupsk geworden, wenn in der pommerschen Provinz – wie er selbst sagt – sexuelle Minderheiten unterdrückt würden. Denn das Thema „LGBT“ ist freilich nicht nur ein politischer Treibstoff für die Konservativen, die in der linken Ideologie eine Gefahr für das christliche Familienbild sehen und sie daher für einen zivilisatorischen Irrtum halten. Diese Abwehrhaltung hat aber nichts mit Homophobie zu tun, sondern würde sich z. B. auch gegen heterosexuelle „Swinger“ richten, wenn sie plötzlich gleichfalls ihre Lokale verließen und katholische Kirchen, Heiligenbilder sowie Pilgerstätten beschmutzten.

Erst vor einigen Tagen wurde die Christus-Statue auf der Heilig-Kreuz-Basilika am Warschauer Königsweg von vermummten Linken „in Beschlag“ genommen. In anderen polnischen Städten wie Częstochowa oder Gdańsk veranstalteten linke Demonstranten „alternative Prozessionen“, auf denen katholische Symbole mit menschlichen Genitalien in Zusammenhang gebracht wurden. Diese Art von „Fortschritt“ erscheint vielen Polen als unzulässig. Kurzum: Das Problem der polnischen LGBT-Anhänger besteht darin, dass sie sich gegen etwas erheben, was in unserem Land keinen Bestand hat. Ohne das Geld ausländischer Institutionen würde es bei uns diese Bewegung gar nicht geben, weil es an der Weichsel an Emotionen fehlt, aus denen sie sich speisen könnte.

Die gezielte Provokation ist daher der einzige Brennstoff, der sie antreibt. Wobei die ganze westliche Medienwelt nur gebannt darauf wartet, dass in Polen endlich jemand eine LGBT-Demo gewaltsam auflöst, um Warschau „türkische Verhältnisse“ zu attestieren. Dieses Unterfangen ist jedoch vom Start weg als aussichtslos einzustufen. Die Polen sind kein europäisches „Urvolk“, das Unterrichtsmaterial zum Thema „Toleranz“ benötigte. 

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