Tichys Einblick
Alle haben Recht – wer zahlt die Zeche?

Israel: Der angeklagte Netanyahu beantragt Immunität

Die Entscheidung über Benjamin Netanyahus politisches Überleben fällt nicht vor Gericht, sondern am 2. März, wenn die Stimmen der dritten Wahl in Israel innerhalb von 11 Monaten ausgezählt sind. Jedenfalls wird Netanyahu als erfolgreicher Ministerpräsident in die Geschichte eingehen.

© Jack Guez/AFP/Getty Images

Frei nach Konrad Adenauer: Die Lage ist da, aber wir hatten sie noch nie. Israels Premier Benjamin Netanyahu hat Mittwochnacht das aufgelöste Parlament um Beibehaltung seiner Immunität als Abgeordneter und Ministerpräsident gebeten. Das ist sein gutes Recht. Oppositionsführer Benny Gantz lehnt das natürlich ab. Ist auch sein gutes Recht und sogar politisch verständlich. Der zweite Oppositionsführer Avigdor Liebermann ist für die Einsetzung einer Kommission zur Klärung der Lage, wird aber gegen eine Beibehaltung der Immunität Netanyahus stimmen. Ist auch sein gutes Recht. Parlamentssprecher Edelstein will nächste Woche prüfen, ob und wann eine parlamentarische Klärungs-Kommission eingesetzt wird. Auch er hat natürlich Recht. Aber wer zahlt die Zeche?

Die Antwort kann man wie so oft in Israel nur mit einer Anekdote beantworten: Ein scheidungswilliges Ehepaar kommt zum Rabbiner und fordert die Trennung. Der Rabbiner und sein Assistent befragen zuerst den Ehemann. Er lässt eine Schimpfkanonade auf seine Partnerin los. Am Ende sagt der Rabbiner: Du hast Recht. Dann ist die wutenbrannte Ehefrau dran. Als ihr der Atem vor lauter Vorwürfen an ihren Noch-Ehemann ausgeht, spricht der Rabbiner: Du hast auch Recht. Als beide Seiten den Raum verlassen haben, fragt der Assistent: Aber Rabbi, wie kannst Du beiden Recht geben, der eine hat doch das Gegenteil vom anderen gesagt? Darauf streicht sich der Rabbi durch den Bart und raunt: Du hast auch Recht.

Spaß beiseite, die Lage ist wirklich ernst. Israel ist mit einem aufgelösten Parlament nur bedingt unter Aufrechterhaltung demokratischer Verhältnisse handlungsfähig. Diese Sorge steht aber bei den handelnden Politikern an letzter Stelle. Netanyahu fühlt sich von Staatsanwalt und Polizei verfolgt, pocht auf sein Verteidigungsrecht und prophezeit, dass sich alle Anschuldigungen vor Gericht in Luft auflösen werden. Durch den Antrag auf Immunität wird aber exakt dieser Vorgang verzögert, auf jeden Fall bis ein neues Parlament gewählt ist. Oppositionsführer Gantz kann es nicht glauben, dass ein „Ministerpräsident im Amt versucht, seine Anklage zu verhindern“. Dieser historisch einmalige Streit ist ein formidabler Spielplatz für Staatsrechtler: drei von ihnen produzieren vier Meinungen und schon wieder – sie haben alle Recht.

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Die Entscheidung fällt am 2. März, wenn die Stimmen der dritten Wahl in Israel innerhalb von 11 Monaten ausgezählt sind. Tragisch wird es, wenn der Wähler den Sturkopf Netanyahu in den politischen Ruhestand schickt und den politisch unerfahrenen Gantz zu seinem Nachfolger kürt, will heissen, ihm ausreichend Stimmen für eine handlungsfähige Koalitionsregierung geben wird. Entscheidet sich der Wähler für ein Israel mit einem „König Netanyahu“ oder für einen demokratischen Neubeginn, der den Rechtsstreit von der Politik trennt? In jedem Fall wird es knapp.

Ohne Zweifel: Netanyahu wird als erfolgreicher Ministerpräsident in die Geschichte eingehen. Aktuell verdrängt der Immunitätsstreit zwei beachtliche Leistungen Netanyahus aus den Schlagzeilen. Der amtierende Ministerpräsident unterzeichnet in diesen Tagen einen Vertrag zwischen Griechenland und Zypern unter Führung Israels, der die drei Mittelmeerländer zum Gas-Exporteur für Jahrzehnte avancieren lässt. Die noch zu bauende Pipeline aus Israel über Zypern und Griechenland in Richtung EU bietet Europa eine Alternative zum umstrittenen Putin-Gas. Das 100-Milliarden-Projekt, das Europa verschlafen hat, wird der gesamten Region einen ähnlich Aufschwung geben, wie ihn Israel durch die weltweite Führungsrolle bei der Digitalisierung erfahren hat.

Und am heutigen Donnerstag tritt nach fast zwei Jahren eine dreimonatige Feuerpause zwischen der Hamas in Gaza und Israel in Kraft. Eindeutig eine Leistung Netanyahus und seinen gewachsenen guten Beziehungen zu arabischen Ländern wie Ägypten und Katar, die den Deal realisiert haben. Kein Grund zu allzu großer Freude. Denn es mussten unbestätigten Zahlen zufolge 346 Menschen ihr Leben lassen, bis sich auf arabischer Seite die Einsicht durchsetzte, dass der wöchentliche „Marsch der Rückkehr“ ein aussichtsloser Weg in die Vergangenheit ist. Möglich wurde dieser Drei-Monats-Deal – wenn er denn hält – ohnehin nur, weil Katar der Hamas den Geldhahn zugedreht und Kairo die für Gaza einträgliche Schmuggelgrenze in die Sinai-Halbinsel geschlossen hat. Die im März neugewählte Regierung – Benyamin oder Benny – wird sich mit alten Problemen beschäftigen müssen.

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