Tichys Einblick

Demokratie 4.0: Was wir von Puigdemont lernen können

Nicht nur katalanische Separatisten, auch der twitternde Donald Trump machen deutlich, dass die klassische Demokratie an ihre Grenzen stöβt. Die neuen Technologien erfordern eine Reform unseres politischen Systems und auch unserer Verfassungen.

© Jonathan Nakstrand/AFP/Getty Images

Für manche ist der für den 30. Januar geplante Regierungsantritt per Skype des wegen gerichtlicher Verfahren nach Brüssel geflüchteten Präsidentschaft-Kandidaten für die autonome Region Katalonie reine Science Fiction, für andere ist Carles Puigdemont Ansinnen, sich trotz aller Kritik telematisch vom Parlament wählen zu lassen, der ganz normale Wahnsinn einer digitalisierten Gesellschaft. Was vielen wie Matrix und nicht seriös erscheint, ist gar nicht so surreal, wie es auf den ersten Blick aussieht, glaubt Kommunikationsexperte Enrique San Juan, der an der spanische Business-Schule EAE unterrichtet: „Unser alltägliches Leben wird bereits zu einem groβen Teil von digitalen Techniken bestimmt, warum nicht auch unser politisches Leben?“

Auch wenn die Madrider Regierung eine Amtsübernahme Puigdemonts aus Brüssel per Skype nicht erlauben will, gibt es nach Ansicht einiger Politologen keine klare juristische Grundlage, welche die Separatisten mit absoluter Mehrheit im Regionalparlament von diesem Unterfangen abhalten könnte. „Wir befinden uns hier in einem rechtlich leeren Raum. Es gibt noch keine klaren Regelungen dazu. Puigdemont würde damit Geschichte schreiben, allerdings nur für einen Tag, da zu erwarten ist, dass die spanische Regierung diesen Schritt nicht anerkennen und es erneut Neuwahlen geben würde,“ glaubt San Juan, der dafür plädiert, dass wir in Europa nicht verpassen, die beiden Welten in denen wir leben, die nicht anfassbare digitale und die anfassbare zeitlich und räumlich definierbare, so schnell wie möglich miteinander zu verbinden, bevor uns die Ereignisse wie im Fall von Katalonien überrollen: „Estland hat uns gezeigt, wie dies möglich ist. Sie haben bei dem Aufbau ihrer Demokratie von Anfang an auf eine Integration dieser beiden Realitäten gesetzt und das schon vor 20 Jahren.“ (s.: https://e-estonia.com).

Demokratie 4.0 braucht andere Politiker und andere Bürger

Für den spanischen Ingenieur und Buchautor Ignacio Sánchez-Léon, ist es eine normale Entwicklung, dass Regierungen digital funktionieren: „Wir haben nur verpasst, dies in Normen und Gesetze zu fassen.“ Er glaubt, dass künstliche Intelligenz bald Teil der Demokratie sein wird und dass wir darauf noch in keinster Weise vorbereitet sind: „Puigdemont hat damit, ohne es beabsichtigt zu haben, eine interessante Debatte initiiert. Ingesamt wird in Zukunft alles transparenter werden und wir werden eine direktere Demokratie erleben.“

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Sánchez-Léon warnt seit geraumer Zeit davor, dass Korruption, falsche Moralvorstellungen, die Übermacht der katholischen Kirche und Berührungsängste vor Robotern das demokratische Leben in Spanien blockieren und wir nicht vorbereitet sind, dass die Technik uns hilft, die Herausforderungen an unsere in vielen Fällen schon veraltete Demokratie zu meistern: „Wir erleben zunehmend Wahlen mit schwachen Mehrheiten und Neuwahlen sind in Spanien schon Tagesordnung. Blockchain-Systeme werden uns in Zukunft noch mehr miteinander verknüpfen. Dafür muss jedoch das Schulsystem und auch die Uni sich völlig verändern. Wir brauchen andere Politiker und andere Wähler.“
Estland ist ein Beispiel für e-governance

Er glaubt, dass wir vor der 4. industriellen Revolution stehen, welche auch die Demokratie entscheidend beeinflussen wird: „Estland praktiziert bereits einen groβen Teil dieser „neuen Demokratie 4.0″ in Form von e-Governance, i-Voting, e-Residency, etc..“ Der spanische Ingenieur tritt deswegen in seinem Buch „e-Mociones en la IA“ (Emotionen bei der künstlichen Intelligenz) dafür ein, dass die aktuellen europäischen Verfassungen die digitale Realität, die wir erleben, berücksichtigen.

Estland hat mit 1.3 Mio. Einwohnern weniger Bürger als Madrid. In einem Land wie Deutschland oder Spanien ist eine Demokratie 4.0 schwieriger umzusetzen, „aber die Weichen dafür müssen gestellt werden,“ glaubt Sánchez-Leon: „Die estnische Bevölkerung wurde ab 1998 massiv mit PCs, Breitband sowie Handys ausgerüstet und gezielt in den neuen Technologien geschult.“ Heute sind der Staat und seine Verwaltung dort bereits fast zu 100 Prozent transparent und online abrufbar. Schon 30 Prozent der Bevölkerung wählen ihre Politiker digital. Auf der eigenen Webseite wirbt Estland damit, dass durch diese Digitalisierung der Demokratie Beamte und Politiker bis jetzt schon 800 Jahre an Zeit gespart, weil sie sich nicht mit sinnlosem Papierkram beschäftigen müssen, sondern sich um die wirklich wichtigen Belange der Gesellschaft kümmern können. Das Land hat einen Showroom eingerichtet, wo sich Politiker aus der ganzen Welt von diesem Fortschritt überzeugen können.

Mehr Effizienz und Transparenz müssen auch für den politischen Analysten Miguel Otero vom Real Instituto Elcano, einem spanischen Think Tank, Hauptziele einer Demokratie 4.0 sein: „Es ist klar, dass der twitternde Donald Trump gezeigt hat, dass die klassischen Kommunikationswege über Pressekonferenzen etc. nicht mehr greifen. Eine Digitalisierung unserer Demokratie wird sehr positiv sein, weil wir direkt mitbestimmen und teilnehmen können. Dafür müssen wir uns auch aber auch informieren. Das heiβt, wir brauchen aktive Bürger, damit eine Manipulierung, wie sie derzeit durch die Separatisten in Katalonien stattfindet, nicht möglich ist.“