Tichys Einblick
„Europa ist die Antwort“. Und die Frage?

Das Nachspiel zu den EU-Wahlen 2019 im deutsch-polnischen Kontext

Wer gehofft hat, die EU-Wahlen 2019 würden die seit lange kritisierten Defizite der EU auch nur ansatzweise beheben, dürfte sich schwer getäuscht sehen und sollte sich bald auf ein übles Erwachen einstellen, wenn er die Zeichen der Zeit immer noch nicht verstanden hat.

Warschau

„Europa ist die Antwort“, so konnte man es viele Wochen lang immer wieder auf den Wahlplakaten der SPD zu den anstehenden EU-Wahlen 2019 lesen, und viele stellten sich die Frage: „Worauf?“ Sollten die Wähler gehofft haben, die Frage hätte heißen können: „Wie sichern wir mehr Demokratie und Transparenz auf diesem Kontinent?“, dürften sie spätestens seit der Wahl Ursula von der Leyens und Christine Lagardes gemerkt haben, dass sie sich geirrt haben, wie wir es vor allem am Beispiel der deutschen und der polnischen Wähler exemplarisch veranschaulichen wollen.

Es ist bekannt, dass gerade Deutschland, obwohl es demographisch wie wirtschaftlich zweifellos die führende Kraft Europas darstellt und sich (wieder) dem Vorwurf aussetzen muss, die Hegemonie über den Kontinent anzustreben, der festen Überzeugung ist, von der EU systematisch ausgebeutet zu werden (Strukturhilfen für Osteuropa, Euro als Verwässerung der D-Mark, Rettung der südeuropäischen Banken, parlamentarische Unterrepräsentation, etc.). Freilich vergisst es dabei gerne, dass das Land im Umkehrschluss doch auch wieder von vielen der kritisierten Ungleichgewichte profitiert. Freilich mag das Wort „profitieren“ fehl am Platze sein, denn die Umverteilungsmechanismen, welche deutsche Steuergelder in das EU-Ausland pumpen, führen zwar große Summen wieder nach Deutschland zurück, doch landen diese nicht beim Bürger, sondern dann bei Großbanken und -unternehmern, welche das Geld ihrerseits nicht für Investitionen in Deutschland nutzen, sondern lieber für gewinnbringendere Projekte in Asien oder zum Zweck kurzfristiger Finanzspekulationen.

Frankreich
Die Wiedergeburt der Grande Nation
Der Wunsch nach einer größeren Kontrolle der Vorgänge in Brüssel ist also durchaus verständlich, und so war der medial breit beworbene Mechanismus der auf Parteiebene aufzustellenden „Spitzenkandidaten“ für den Kommissionsvorsitz sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung und Balsam für alle jene Parteien der „demokratischen Mitte“, welche immer größere Schwierigkeiten haben, der zum Elitenprojekt mutierten EU eine Entwicklung hin zu mehr Demokratie anzudichten, um den sogenannten Populisten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Dass dieses ganze schöne Gebäude nun im Alleingang von Emmanuel Macron und Angela Merkel mit einem Federstrich zunichte gemacht wurde, darf man nicht nur auf die Skrupellosigkeit einer Politikerin schieben, welche sich am Ende ihres wohl letzten politischen Mandats weiß und bis auf eine geregelte Nachfolge und die Versorgung ihrer Getreuen auch nach ihrem Abgang nichts mehr zu gewinnen hat. Der Alleingang Angela Merkels deckt vielmehr eine ganze Reihe tieferer Dysfunktionen des gegenwärtigen politischen Systems auf.

Zum einen bewahrheitet sich mehr denn je der Vorwurf, dass im Kampf um Ämter nicht Kompetenz, sondern die Parteikarte zählt, und dass selbst offensichtliches Missmanagement und der Vorwurf von Korruption und Veruntreuung nicht mehr für den Karrierestop ausreichen, wenn man nur „auf der richtigen Seite der Geschichte“ steht, wie besonders an den ernstzunehmenden Vorwürfen gegen Lagarde und von der Leyen deutlich wird. Dass die EU hierbei nicht als Krönung einer Karriere gilt, sondern als praktische Abschiebebank für ansonsten nur schwer weiterzuvermittelnde, da innenpolitisch hoch belastete Politiker degradiert wird, ist ein weiterer trauriger Punkt, der kaum zu einer organischen Integration zwischen der nationalen und der EU-europäischen politischen Sphäre führen wird.

Toxisch ist dabei vor allem der Vorwurf, dass das erwartete (wenn auch m.E. noch keineswegs sichere) Ausscheiden Großbritanniens offensichtlich das deutsch-französische Kartell massiv verstärkt hat und die EU zu einer Selbstbedienungsanstalt jener beiden führenden, nun auch Kommission und EZB dominierenden Staaten transformieren könnte, deren geballter Macht die europäische Peripherie kaum etwas entgegenzusetzen hat. Dies straft dann im Umkehrschluß alle feierlichen Versicherungen Lügen, die EU sei der ultimative Garant der sogenannten „europäischen Werte“ von Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, Gleichheit oder Transparenz; eine moralisierende Fassade, deren Brüchigkeit zunehmend eine ganz andere Realität offenbar werden lässt.

Macron hat sich verkalkuliert
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Hieraus ergibt sich zwangsläufig eine systematische „Umwertung aller Werte“, in welcher Demokratie für Elitenherrschaft, Rechtstaatlichkeit für die Manipulation staatlicher Institutionen mittels fragwürdiger Definitionen von „Menschenwürde“, Meinungsfreiheit für einen zunehmend repressiv durchgesetzten Gesinnungskorridor, Gleichheit für systematische Klientelpolitik und Transparenz für die Übertragung demokratischer Kompetenzen an technokratische Institutionen steht. Dass nicht nur Christine Lagarde, sondern auch und gerade Ursula von der Leyen überzeugte Vertreter jener politisch korrekten „Haltung“ sind, haben ihre vergangenen Karrieren deutlich gezeigt: Wer also gehofft hat, die EU-Wahlen 2019 würden die seit langem kritisierten Defizite der EU auch nur ansatzweise beheben, dürfte sich schwer getäuscht sehen und sollte sich bald auf ein übles Erwachen einstellen, wenn er die Zeichen der Zeit immer noch nicht verstanden hat.

Dass sich dieser antidemokratische Coup gerade mit den Stimmen der polnischen und ungarischen Abgeordneten vollziehen konnte, ist ein Treppenwitz der Geschichte und offenbart wie wohl kaum ein anderer Vorgang der letzten Zeit den Abgrund zwischen Ost und West – und zwar nicht den zwischen angeblich „illiberaler“ und „liberaler“ Gesinnung, sondern vielmehr zwischen einer idealistischen und einer realistischen Sicht auf die EU. Es scheint, dass die Visegrad-Staaten, in denen der Begriff der Nationalstaatlichkeit erheblich stärker verankert ist als in den westlichen Staaten, wo er seit Kriegsende massiv erodiert wurde, trotz aller EU-kritischen Rhetorik die tatsächliche Verlagerung der Macht von der nationalen auf die EU-Ebene und die Aushöhlung der herkömmlichen Differenzen zwischen sozial- und christdemokratischen Parteien noch nicht vollständig verstanden haben und sich nur ansatzweise der Tatsache bewusst sind, dass wir kurz- bis mittelfristig ausweglos auf einen harten und wahrscheinlich entscheidenden Endkampf zwischen universalistischem und traditionalistischem, globalisiertem und nationalem Prinzip zusteuern, welche keine „splendid isolation“ innerhalb des EU-Gefüges zulassen kann, ja zulassen darf. So verständlich es daher ist, wenn die Visegrad-Staaten, allen voran Polen und Ungarn, ihr Gewicht in die Waagschale legen, um eine Wahl des Sozialisten Frans Timmermans oder des klar gegen Ungarn positionierten Manfred Weber zum Kommissionspräsidenten zu verhindern, so sehr ist ihr in der Wahl Ursula von der Leyens mündender „Erfolg“ doch nur ein gefährlicher Pyrrhossieg.

Von der Idee der Zugehörigkeit
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Denn wer glaubt, die Parteienformation der neuen Kommissionspräsidentin (CDU) stünde weiterhin für jene christlichen traditionellen Werte ein, zu denen PiS wie Fidesz sich nicht nur rhetorisch, sondern auch faktisch nachdrücklich bekennen, oder wer hofft, das neue EU-Kommissariat zum „Schutz der europäischen Lebensweise“ würde tatsächlich etwas mit Tradition und Geschichte zu tun haben, hat die Jahre der Kanzlerschaft Merkels mit ihrer systematischen Linksbewegung der CDU übersehen und dürfte sich bald seines schweren Irrtums bewußt werden: die halb-informellen Versicherungen der Kandidatin, die Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Polen und Ungarn möglichst milde zu behandeln, werden nur recht bald von den Beteuerungen der nunmehr ins Amt Gewählten ersetzt werden, eisern die „europäischen Werte“ zu verteidigen. Bedenkt man zudem die Zähigkeit, mit der von der Leyen nicht nur als Familien-, sondern auch als Verteidigungsministerin bis zur Absurdität die Interessen der mächtigen Feminismus-, Gender- und LGBTQ-Lobby durchgesetzt hat, und das sogar um den Preis einer völligen Verunsicherung der traditionell konservativen Bundeswehr, dürfte von dieser Seite auch kaum Sympathie für den christlichen Wertekonservatismus der Visegrad-Staaten zu erwarten sein; ganz im Gegenteil.

Ähnlich steht es mit der gerade in Polen überaus attraktiv klingenden, scheinbar russlandkritischen Diktion der neuen Kommissionspräsidentin, welche zudem durch ihre Herunterwirtschaftung der Bundeswehr für eine gewisse Beruhigung der polnischen Ängste vor ihrem mächtigen westlichen Nachbarn gesorgt hat: Gerne wird überhört, daß von der Leyens Töne gegenüber den USA und der NATO kaum verbindlicher klingen als die gegenüber Rußland, so daß Europa sich, sollte sie diese Agenda weiter konsequent verfolgen und Donald Trump 2020 wiedergewählt werden, in ein gefährliches verteidigungspolitisches Aus manövrieren könnte. Dann wird sich aber auch der jahrelang systematisch betriebene deutsche Bruch der NATO-Verträge und ihrer Rüstungsverpflichtungen rächen, wobei die sich daraus ergebenden Gefahren aus offensichtlichen geographischen Gründen eben auf dem Rücken jener Mittel- und Osteuropäer ausgetragen werden dürften, welche jetzt noch von der Leyen als Schutz gegenüber Rußland begrüßen.

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Dass auch das verhandlungstechnische Gegenstück zur Nominierung von der Leyens, nämlich diejenige Lagardes, schwerlich positiv für Osteuropa ausschlagen dürfte, darf dabei nicht verschwiegen werden: Zwar mag die weitere Gelddruckpolitik der EZB noch ein paar Monate lang eine falsche Stabilität suggerieren und den unvermeidlichen Zahltag noch ein wenig in die Zukunft verschieben. Daß die solchermaßen aufgehäuften ungeheuren Schuldenberge aber früher oder später liquidiert werden müssen, und zwar entweder durch eine schwere Finanzkrise, oder – in den Auswirkungen ebenso katastrophal – durch eine verschleierte Enteignung des Normalbürgers, also wesentlich des ohnehin schwer angeschlagenen Mittelstandes, wird nicht nur die Eurozone betreffen, sondern auch und gerade Mittel- und Osteuropa. Zwar mag sich das Festhalten an der eigenen Währung und Geldpolitik dann als Segen erweisen; die anzunehmende Kontraktion der westeuropäischen Wirtschaft wird aber auch hier tiefgreifende und kaum positive Konsequenzen haben, wenn die größere ethnisch-kulturelle Homogenität jener Staaten auch einen völligen Zusammenbruch in bürgerkriegsähnliche Zustände, wie wir sie anläßlich der Revolte der „Gilets Jaunes“ in Frankreich erstmals kennengelernt haben, zum Glück eher unwahrscheinlich macht.

Freilich war das Dilemma, vor das die Visegrad-Staaten sich 2019 anläßlich der Neukonfiguration der europäischen Ämterkonstellation gestellt sahen, ein nahezu unlösbares, da auch eine Fundamentalopposition nur wenig positive Resultate gezeitigt hätte. Trotzdem mögen die kurzfristigen „Erfolge“ kaum die mittel- bis langfristigen Nachteile aufwiegen und sich gerade im innenpolitischen Kontext negativ auswirken. Zusammenfassend dürfen wir also davon ausgehen, daß die kommende europäische Legislaturperiode grundlegende, ja vielleicht entscheidende Auswirkungen auf die Zukunft der EU haben wird, und daß die Ausgangspositionen denkbar ungünstig sind, was die langfristige Stabilität des Kontinents und die Fortexistenz seines über Jahrhunderte hinweg gewachsenen, heute durch Masseneinwanderung und „Political Correctness“ bereits schwer angeschlagenenen Gesellschafts- und Kulturmodells betrifft – so ungünstig sogar, daß die Frage berechtigt ist, inwieweit die flagrante Mißachtung von Versprechen und Wählerwillen weniger ein Zeichen politischen Hochmuts seitens der regierenden Eliten Frankreichs und Deutschlands sein könnte, als vielmehr ihrer Einsicht in die Unabwendbarkeit tiefgreifender Verwerfungen und somit ihrer verzweifelten Bereitschaft, alles auf eine Karte zu setzen, um in jenen Zeiten des Umbruchs das Heft der Macht in der Hand zu behalten, koste es auch ihre langfristige demokratische Glaubwürdigkeit.

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Erste Anzeichen, wie die realen Machtverhältnisse tatsächlich liegen, und was die Visegrad-Staaten im Gegenzug für ihre Verbindlichkeit gegenüber Lagarde und von der Leyen tatsächlich an „Entgegenkommen“ erwarten dürfen, lassen sich bereits beobachten: Nicht nur scheiterte die EKR-Fraktion entgegen aller Gepflogenheit und vorherigen Absprachen (etwa mit der CDU) daran, wieder das Mandat eines der 14 parlamentarischen Vizepräsidenten zu erlangen, welches erneut dem polnischen PiS-Abgeordneten und scheidenden Vizepräsidenten Zdzisław Krasnodębski zugefallen wäre: Gerade die einzige konservative Alternative zur erheblich weiter rechts stehenden ID-Fraktion sieht sich also jeden Mittels beraubt, in den institutionellen Ablauf der Parlamentsgeschäfte einzugreifen. Dass es mit Ewa Bożena Kopacz ironischerweise gerade einer Abgeordneten der gegenwärtigen polnischen Opposition gelungen ist, über die EVP in das Präsidium gewählt zu werden, ist in dieser Hinsicht eine ganz besonders offensichtliche Erniedrigung der gegenwärtigen polnischen Regierung mit durchaus langfristigen und sicherlich für die Opposition durchaus zweischneidigen Folgen. Selbst der ehemaligen polnischen Premierministerin Beate Szydło gelang es trotz der Zusicherungen seitens der EVP nicht, zur Vorsitzenden des parlamentarischen Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten gewählt zu werden, wofür sich Angela Merkel in einem Telephongespräch sogar wortreich und wenig überzeugend entschuldigt haben soll – ein weiteres Zeugnis, dass trotz der Unterstützung von der Leyens seitens der EVP nur auf wenig Gegenliebe für die polnischen Konservativen der EKR zu rechnen ist.

All dies werden freilich wohl nur die ersten Züge in einem politischen Spiel sein, bei dem die Visegrad-Staaten allzufrüh im Dilemma einer „Krise ohne Alternative“ und im Vertrauen auf ihr Verständnis von Demokratie und den Wert des gegebenen Wortes wichtige Karten aus der Hand gegeben haben. Dass jene öffentliche Demütigung auch Einfluss auf die jüngsten polnischen Parlamentswahlen gehabt haben dürfte, sollte allen Beteiligten klar sein. Gerade die 2019 zum Ausbruch gekommenen flagranten Missverhältnisse haben möglicherweise dazu beigetragen, den polnischen Konservativen ihre Parlamentsmehrheit zu sichern, die sie brauchen, um die Verfassung zu ändern und den Staat endlich von den letzten Resten der alten kommunistischen Seilschaften zu befreien.

Professor Dr. David Engels ist Senior Analyst am Instytut Zachodni in Poznań

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