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Verfassungsschutz: Keine gesicherten Zahlen, also keine Islamisten

Jeder hundertste Muslim in Deutschland wird vom Verfassungsschutz zum „Personenpotenzial islamistischer Terrorismus/Islamismus“ gezählt. Nur deutlich wird das eben nicht in den Tabellen der neueren Berichte.

German police officers wait outside the association linked to mosque Ibrahim Alkhalil in Berlin's central Tempelhof-Schoeneberg district, where police conducts a raid targeting individuals suspected of inciting people to go and fight for the Islamic State group in Syria

© Odd Andersen/AFP/Getty Images

Ist einer von hundert der in Deutschland lebenden Muslime ein Islamist, ein vom Bundesverfassungsschutz zum „Personenpotenzial islamistischer Terrorismus/Islamismus“ zählender? Wer die Jahresberichte des Bundesamtes liest, könnte tatsächlich zu dieser beunruhigenden Feststellung finden. Muslime, Frauen, Kinder und Alte wären hier zudem noch eingerechnet. Wie viele Männer von 18 bis 50 kommen auf hundert Muslime? Dafür bräuchte es Erhebungen, aber es gibt offensichtlich keine  mitteilungsfähigen, wie noch zum Ende dieses Artikels dargelegt.

Islamismuspotenzial, Islamist, Extremist, Gewalttäter, Terrorist – die Zuordnung fällt der Bundesbehörde schwerer, als man glauben mag. Aufgeblättert begegnet dem Laien ein Zahlenwald, dem man sich aber durchaus annähern kann.

Dafür haben wir die Verfassungsschutzberichte der letzten drei Jahre nebeneinander gelegt und miteinander verglichen. Wir telefonierten ausführlich mit einem renommierten Fachmann der Statistik und mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) selbst. Die Antworten waren alles andere als beruhigend.

Initialgeber für unsere umfangreiche Recherche war der kurze Tweet eines Professors der Rechtswissenschaften, der seinen über viertausend Followern – unter Ihnen etliche Medienvertreter – eine Rechercheaufgabe gab, als er u.a. twitterte:

Und weil sich so recht keiner daran machte, gab es vom Professor noch einen Tipp zum „Ansatz“ hintendran:

Nun ist das Kapitel „Islamismus/Islamistischer Terror“ im Verfassungsschutzbericht leicht zu finden, denn es ist grün hinterlegt. Sicher eine sich anbietende Farbkodierung. Für christliche Fundamentalisten würde man wohl Purpur nehmen, es tauchen im Bericht aber keine auf, also bekamen die Reichsbürger das edle Violett. Rechter Extremismus wird übrigens braun, linker Extremismus – na klar – rot hinterlegt.

Aber zur Sache: Folgendes werden wir hier darlegen:

  1. In den Tabellen der Verfassungsschutzberichte verschwinden von einem Jahr auf das andere 31.000 islamistische Extremisten einer bestimmten Gruppierung. Ein Jahr später tauchen dort wieder welche auf, aber nun reduziert auf 10.000 islamistische Extremisten.
  2. Die Verfassungsschützer berichten zwar von tausenden Extremisten aus verschiedenen islamistischen Gruppen, aber wo sie „keine gesicherten Daten“ angeben (warum wollte/konnte man in dem speziellen Falle nicht schätzen oder runden wie bei anderen Gruppierungen auch?), werden bestimmte islamistische Extremisten in der Summenaddition auf null gesetzt. Sie verschwinden in der Schlussrechnung und werden also zur Nebelarmee.
  3. Der Verfassungsschutz führt Gruppen auf, deren Ideologie im „Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundhaltung“ steht und führt sie als Islamisten. Aber eben doch nicht alle. Es gibt Fußnoten: „Nicht alle Mitglieder/Anhänger (…) verfolgen oder unterstützen jedoch islamistische Ziele.“
  4. Der Verfassungsschutz verzichtet in seiner Tabelle 2015 plötzlich auf das Additionsverfahren. Erst 2016 erscheint wieder eine Addition. Allerdings nicht tabellarisch, sondern erst im darauf folgenden Subtext. Und mit „null“ bewertet wurden hier weiterhin jene Gruppen mit der tabellarischen Angabe „keine gesicherten Daten“ wie beispielsweise der IS, al-Quaida und das Islamische Zentrum Hamburg. Man sieht sich also außer Stande, hier irgendeine Schätzung geschweige denn Rundung abzugeben.
  5. Interessenten wie berichtende Journalisten müssen selbst zusammenzählen und setzen dann „keine gesicherten Daten“ ebenso wie der Verfassungsschutz auf Null, wie praktisch alle relevanten Veröffentlichungen dazu belegen.

Laut tabellarischer Darstellung des Verfassungsschutzberichtes aus 2013 (S.155) lag das islamistische Personenpotenzial bei 43.190 Personen. Im Bericht von 2014 (S.92) bei 43.890 Personen. Im 2015er (S.155) nur noch bei 11.850 Personen (addiert von TE, erst im Subtext taucht hier zusätzlich die Schätzzahl „10.000“ für Milli Görüs auf). Und aus dem Jahre 2016 (S.160) bei 24.425 (addiert von TE, Summenzahl fehlt seit 2015). In der 2016er Tabelle wird nicht mehr addiert, aber man schreibt im Anschluss: „Insgesamt ergibt sich für das Jahr 2016 ein Islamismuspotenzial von rund 24.400 Personen.“

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Das aber scheint so nicht richtig. Denn zum einen hat man die Gruppen ohne gesicherte, geschätzte oder gerundete Zahlen (wie beispielsweise den Islamischen Staat und al-Quaida) einfach hinten runter fallen lassen, zum anderen sind die Mitglieder der in allen Berichten als Islamisten aufgeführten Milli Görüs-Bewegung von 2013 bis 2016 von 31.000 auf Null und dann wieder auf 10.000 „Personenpotenzial islamistischer Terrorismus/Islamismus“ gerechnet bzw. einfach nicht mehr gerundet, geschätzt oder ermittelt worden, wie noch 2013.

Zusammengefasst liest sich das so: Von 2014 auf 2015 reduzierte sich also die Islamistenszene in der tabellarischen Darstellung auf nur noch ein Viertel gegenüber dem Vorjahr, während sie sich im Folgejahr wieder verdoppelte – immerhin auf die Hälfte des Jahres 2014.

Ein Grund dafür könnte sein, dass die Beamten in Köln, Sitz des BfV, sich schwer getan haben mit der Milli Görüs Bewegung. Zunächst hält man offensichtlich 31.000 Personen für „Personenpotenzial islamistischer Terrorismus/Islamismus“, will sich dann aber später nicht mehr auf Zahlen festlegen lassen. Aber ein Jahr später nennt man doch wieder Zahlen, allerdings nun reduziert um 20.000 auf lediglich 10.000 potentielle Terroristen/Islamisten.

Gleichwohl spricht man nun gegenüber dem Vorjahr (immerhin mit einer dreifachen Zahl an Extremisten) von einer „(v)erschärften Gefährdungslage“. Und ergänzt die grafische Darstellung mit dem Nachsatz: „Diese im Vergleich zu den Vorjahren niedrigere Gesamtsumme bedeutet jedoch keineswegs eine Abschwächung der Gefährdungslage. Das Gegenteil ist der Fall: Durch die Verschiebung hin zum gewaltorientierten/terroristischen Spektrum ist eine neue Qualität der islamistischen Szene erkennbar, wie auch die 2016 in Deutschland durchgeführten Anschläge offenbart haben.“

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Aber was lässt sich nun daraus ableiten? Nimmt man die 43.890 laut Verfassungsschutz unter Islamismusverdacht stehenden Extremisten in Deutschland aus dem Bericht von 2014, (also noch unter Ausschluss später hinzukommender neuer Islamisten aus der Zuwanderung ab 2015) und setzt man nun diese Zahl ins Verhältnis mit den damals 4-5 Millionen Muslimen in Deutschland, ist rechnerisch einer von hundert Muslimen Islamist. Und da sind, wie bereits festgestellt, Frauen, die Kinder und die Alten noch mit eingerechnet.

Würde man nun rechnerisch nach dem gleichen Verfahren bei linken und rechten Extremisten vorgehen, wären das – bezogen auf die Bevölkerungszahl abzüglich der Muslime in Deutschland – grob geschätzt jeweils einer von Dreitausend.

Nun passiert Folgendes: Journalisten lesen die Zahlen der Tabellen und addieren dann ebenso wie der Verfassungsschutz unter Auslassung der Extremistengruppen mit „keine gesicherten Daten.“

Ein Fazit kann sein, dass der prozentuale Anteil des „Personenpotenzial islamistischer Terrorismus/Islamismus“ unter den männlichen Muslimen in Deutschland exorbitant hoch ist. Um ein vielfaches höher, als jener von Rechtsextremen und Linksextremen zusammengenommen bezogen auf die deutsche Gesamtbevölkerung ohne Muslime. Oder kürzer: Jeder hundertste Muslim in Deutschland wird vom Verfassungsschutz zum „Personenpotenzial islamistischer Terrorismus/Islamismus“ gezählt. Nur deutlich wird das eben nicht in den Tabellen der neueren Berichte.  

Zum Schluss noch eine kurze Anekdote aus den deutschen Amtsstuben, erlebt im Rahmen der Recherche zur Eingangsfrage. Wir wollten wissen, wie sich die Altersstruktur der Muslime in Deutschland aufschlüsselt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge teilte schriftlich mit: „Leider liegen dem Bundesamt keine aktuellen Zahlen oder Schätzungen zum Alter der in Deutschland lebenden Muslime vor. Möglicherweise können Ihnen die Kolleginnen und Kollegen des Statistischen Bundesamts – auch mit Vergleichszahlen –weiterhelfen.“ Haben wir gemacht, dort war der erste Satz der Pressestelle „Auf gar keinen Fall.“, wir müssten uns ans BAMF wenden, hatten wir aber schon. Also wurden wir ausnahmsweise doch noch im Hause weitergeleitet und bekamen dort diverse Kontaktadressen, die möglicherweise etwas wüssten, wie Islamkonferenz, Zentralrat der Muslime, Innenministerium und zu guter Letzt noch die Telefonnummer des religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienstes. Eben dort sprang am frühen Nachmittag der Anrufbeantworter an, es wäre zur Zeit niemand im Hause. Aber es gäbe eine Handyrufnummer für „dringende Notfälle“. Nun ist die Not groß, aber so groß dann doch wieder nicht, oder?