Tichys Einblick
Journalistenverbandsfunktionär vs Querdenker

Übergriff oder Zivilcourage? Was wirklich passiert ist in Weimar am 1. Mai

Öffentlich-rechtliche Sender ergreifen Partei für den Geschäftsführer des Journalistenverbands. Doch dessen Selbstdarstellung jetzt passt nicht zu dem, was er unmittelbar nach seiner Aktion am Rande einer verbotenen Querdenker-Demo in Weimar sagte.

screenprint via twitter / zdf

Über die Aktion des Geschäftsführers des Deutschen Journalistenverbands (DJV) Thüringen am Rande einer verbotenen Demonstration so genannter Querdenker in Weimar am 1. Mai gibt es widerstreitende Deutungen. Der DJV stellt das Zufallbringen eines vor der Polizei flüchtenden Mannes durch seinen Funktionär Sebastian Scholz als „zivilcouragiert“ dar und sieht ihn als Opfer durch eine „beispiellose Welle des Hasses“. Die Polizei bestätigte, dass gegen ihn mindestens eine Anzeige eingegangen sei.

Aber was wissen wir anhand von Bild- und Filmmaterial und aus Befragungen? Welches Bild ergibt sich daraus von der gewalttätigen Aktion gegen einen die Polizeimaßnahmen missachtenden Demonstranten durch den DJV-Funktionär Sebastian Scholz?

Am 1. Mai am frühen Nachmittag steht eine Polizeikette in Weimar auf der Ernst-Thälmann Straße/ Ecke Meyerstraße einer verbotenen Demonstration gegenüber. Einige Beamte in vorderer Reihe tragen größere Pfefferspray-Spritzen (Reizstoffsprühgerät/RSG) mit sich. Die Demonstranten können ihren Weg hier nicht fortsetzen, später werden sie an anderer Stelle in einem so genannten Polizeikessel festgesetzt.

Die Straße ist breit. Einige der Demonstranten versuchen, die Polizeikette zu durchbrechen. Pfefferspray wird eingesetzt. Einer von mehreren anwesenden Video-Filmern kommentiert hier von einer Art Anhöhe herunter, jetzt hätte es der erste geschafft, der Durchbruch sei gelungen. Die Person, die diese Sperre durchbricht, ist ein bisher Unbekannter ca. fünfzig Jahre alter kurzhaariger hellhäutiger großer und etwas korpulenter Mann in dunkler Bekleidung wurde bei diesem Durchbruch von Sebastian Scholz in gefährlicher Art und Weise zu Fall gebracht. Später gab es dazu eine Anzeige wegen Polizeigewalt, in der Annahme, Scholz sei Zivilpolizist.

Die genannte Person jedenfalls bahnt sich ihren Weg durch die Polizeikette, wird festgehalten, windet sich mehrfach unter Einsatz der Arme aus dem Polizeigriff, dann gelingt es beinahe, ihn in den Schwitzkasten zu nehmen, aber erneut kann sich der kräftige große Mann herauswinden. Allerdings bekommt er auf den ersten Metern Pfefferspray ins Gesicht, sein Sichtfeld muss also zumindest stark eingeschränkt sein, wenn man davon ausgeht, dass er im üblichen Maße irritiert auf den in destilliertem Wasser gelösten Cayennepfeffer reagiert.

Der Mann schwankt schon nach den ersten fünf Metern, rudert mit den Armen, er beschränkt sich darauf nur irgendwie vorwärts zu kommen. Ein Kameramann will ihn im Profil filmen, steht also im Weg und wird vom Flüchtenden mit rudernden Armen weggedrückt, geschubst, verdrängt – der Kameramann kommt nach einer heftigen Körperdrehung zu Fall, mindestens eine Polizistin setzt dem Flüchtenden nach. Ca. 100 Meter weiter allerdings stehen schon weitere Beamte, die den Mann erwarten. Aber so weit kommt er gar nicht, da im neunzig Grad Winkel bereits Sebastian Scholz, der Geschäftsführer des DJV Thüringen, heran eilt und dem Weglaufenden so von der Seite kommend ein Bein stellt, dass dieser zu Fall kommt. Die Polizei ist in Sekunden über dem jetzt am Boden Liegenden. Scholz geht aus der Szene zur Seite ab. Der Kameramann humpelt, hat sich offenbar beim Sturz am Bein verletzt.

Das umfangreiche Filmmaterial verschiedener Filmemacher und Streamer zeigt aber keine Verhaftung, nicht einmal die Personalien des Mannes scheinen festgestellt worden zu sein. Noch im Sitzen bekommt der Mann von einem Polizisten, der schon in der Rückwärtsbewegung ist, noch eine Ladung Pfefferspray ins Gesicht. Der Mann steht auf, wischt sich die Augen und geht mit anderen, die sich jetzt um ihn kümmern, zur Seite ab. Eine Person fragt den Mann nach seinem Namen, eine Antwort ist nicht mehr verständlich.

Der Polizeisprecher der Polizei Thüringen weiß nichts über diesen Mann, man warte aber noch auf die Berichte aus Bayern; die Polizisten in der Szene kamen aus Bayern.

Wieder eine halbe Stunde später auf der Kreuzung Herbststrasse/Asbachstraße sind die Demonstranten von der Polizei in einem so genannten Polizeikessel festgesetzt. Am Rande dieses Kessels vor einem kleineren Parkstück stehen ein paar Mannschaftswagen und hier hält sich auch die Pressesprecherin auf. Einer der Filmer der zuvor geschilderten Szene will die Sprecherin befragen, die mit einem weiteren Uniformierten und drei Zivilpersonen zusammen steht.

Einer der drei ist Sebastian Scholz, ein weiterer der bereits erwähnte Kameramann und eine weitere Person, die ebenfalls schon in der Szene zuvor unterwegs war. Der Kameramann humpelt nicht mehr sichtbar. Bis auf Scholz tragen die anderen beiden Personen Presseausweise am Hals. Im Hintergrund der Szene wird eine Frau von einem Uniformierten aus diesem Bereich in Richtung Grünanlagen geführt.

Scholz inspiziert gemeinsam mit den beiden anderen Personen den Ausweis des Filmers und befragt diesen, für welches Medium er denn arbeite. Die zunächst kontaktierte Pressesprecherin hat hier nur noch eine Nebenrolle. Zu Beginn wendete sie sich Scholz zu. Bat sie Scholz so darum, sich der Sache anzunehmen? Der befragte Filmer konfrontiert Scholz dann mit seinem Übergriff gegen den Demonstranten, Scholz gibt an, nicht schnell genug weggekommen zu sein.

Was machen die Medien, was machen Sebastian Scholz und der DJV-Thüringen zehn Tage später daraus? Und warum wartete man so lange?

Zehn Tage später behauptet der DJV Thüringen, Scholz habe in dieser Szene „Zivilcourage“ gezeigt. Weitere zwei Tage später taucht Scholz in einem vorangekündigten Beitrag von ZDF Frontal21 auf und ist später auch als Gesprächspartner für einen Beitrag beim MDR. Hier heißt es beispielweise, Scholz sei auf der Demonstration privat unterwegs gewesen. Allerdings finden sich auf der Facebook-Seite von Scholz/DJV mehrere Kommentare, die sich bei Scholz dafür bedanken, dass er „seit Wochen für den @DJV Thüringen bei den Demos als Ansprechpartner für Journalist*innen vor Ort“ sei. Der DJV/Scholz bedankt sich mehrfach bei den Kommentatoren. Er war also auch nach Selbstbekunden nicht eindeutig nur privat vor Ort.

Zwischenzeitlich twittert der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) eine Solidaritätsadresse für Scholz und den DJV Thüringen. Der Verband und Scholz sprechen von Beleidigungen, Beschimpfungen und von Schmähungen, die auf einigen Kanälen eingegangen wären. Der eigentliche Vorfall, also dass Scholz einen Demonstranten zu Boden gebracht hat, gerät darüber in den Hintergrund. Der Ministerpräsident nennt das Vorgehen von Scholz explizit „Zivilcourage“. Zur Erinnerung: Es geht um jene Aktion, von der Scholz ziemlich direkt im Anschluss daran sagte, er sei „nicht schnell genug weggekommen“.

Frontal21 wählt für seinen Teaser zum noch nicht ausgestrahlten Beitrag: „Welle voller Hass“. Auch die öffentlich rechtliche Sendung knüpft im Tenor an die DJV-Präsentation der Beschimpfungen aus den sozialen Medien an. Dass hier die berufsethische Frage über die Rolle des Geschäftsführers des DJV (als solcher war Scholz aber zwar nicht unterwegs, wirklich privat aber auch nicht, wie FB-Kommentare belegen) in solch einer Situation unbeantwortet bleibt, scheint den Sender nicht weitergehend zu interessieren.

Man könnte eher den Eindruck gewinnen, als ginge es um die Etablierung der Idee, dass man gegen Andersdenkende privat Gewalt anwenden darf und diese Gewalt dann bis in die Politik hinauf „Zivilcourage“ genannt wird. Aber welchen Eindruck hinterlässt so etwas beispielsweise bei gewaltbereiten Antifa-Gruppen und anderen Extremisten? Welches Signal geht davon aus, einen gewalttätigen Übergriff als „Zivilcourage“ zu bezeichnen?

Frontal21 spricht im Teaser von Gewalt gegen Polizisten von Seiten der Demonstranten. Zu sehen sind Abwehrmaßnahmen gegen eine Festsetzung von Personen, die widerrechtlich eine Polizeisperre durchbrechen wollen.

Im Mittelpunkt des ZDF-Teasers stehen zunächst Beschimpfungen, die der DJV und Scholz aus den sozialen Netzwerken vorgelegt haben. Scholz tritt im Teaser mehr als Experte auf, denn als einer, der selbst als möglicher Gewalttäter im Mittelpunkt steht. Vom eingesetzten Pfefferspray gegen den Demonstranten ist bei Scholz keine Rede. Gegenüber Frontal21 sagt er mit Blick auf einen der Filme: „Da sieht man, wie ich dann aufgrund des Nachsetzens der Polizei entscheide einzugreifen, um ihn an einer weiteren Flucht zu hindern, damit er eben von der Polizei festgesetzt werden kann, wie es ja hier auch geschehen ist.“ Ist es allerdings gar nicht, der Mann wurde nicht festgesetzt, er wurde vielmehr lediglich kurzfristig außer Gefecht gesetzt und dann nicht weiter behelligt nach einer weiteren Dosis Pfefferspray.

Scholz spricht von Straf- und Gewaltaten und davon, dass er der festen Überzeugung war, richtig gehandelt zu haben. Das sagt er zwei Wochen später gegenüber Frontal21. Eine halbe Stunde nach dem Übegriff allerdings spricht er davon, dass er nicht schnell genug weggekommen sei. Was ist passiert in den zehn Tagen des Schweigens beim DJV Thüringen?

Scholz sagt weiter gegenüber Frontal21, er sei als Privatperson dort gewesen. Auch das widerlegen die Kommentare auf Facebook, für die sich der DJV/Scholz explizit bedankt. Zum Abschluss des kurzen Trailers (1:51 min.) werden wieder eine Reihe von Schmähbriefen eingeblendet.

Mittlerweile spricht beispielsweise der Journalist Henrik Merker (Zeit, Übermedien usw.) via Twitter bereits von Mordrohungen gegen Scholz.

Dann folgt der MDR mit einer Veröffentlichung zum Vorfall rund um den Übergriff von Sebastian Scholz. Auch hier darf der doch wegen seines Übergriffs eigentlich im Fokus der Investigation befindende Scholz den Experten geben. Selbst der schon in den Filmen mit Scholz erlebbare Kameramann ist jetzt mit dabei. Auch der MDR stellt „Drohungen“ gegen den Geschäftsführer des DJV Thüringen in den Mittelpunkt seines Berichtes.

Selbstverständlich: Solche Drohungen sind umstandslos zu verurteilen. Dennoch kann man sich damit nicht herauswinden aus der journalistischen Verantwortung, sich mit dem gewalttätigen Übergriff von Scholz und mit allen Ungereimtheiten zu beschäftigen.

Das sollte für ZDF/Frontal21 ebenso gelten wie für den MDR. Der Sender spricht in seinem Kurzbericht (2:17 min) zunächst von Angriffen gegen Journalisten, „Lügenpresse“-Rufe werden eingespielt. Der vom Flüchtenden umgerissene Kameramann Johannes Krey berichtet, dass er sich mittlerweile unwohl fühlt auf Demonstrationen. Er sei schon seit zehn Jahren in Thüringen unterwegs.

Krey war zuletzt entlang des vorhandenen Filmmaterials in Weimar am 1. Mai mindestens zeitweilig mit Sebastian Scholz unterwegs. Aber für welches Medium und in welcher Aufgabe? Vom MDR fragt hier keiner weiter nach. Einmal wäre Krey „gezielt angegriffen“ worden, berichtet der MDR und zeigt die hier schon beschriebene Szene. Das ist allerdings jene Szene, in der der Flüchtende, der jetzt Angreifer sein soll, bereits mit den Armen rudert, als sei er geblendet und würde nach reichlich Pfefferspray im Gesicht unter einer gewissen Orientierungslosigkeit stehen.

Zu erwähnen wäre eigentlich auch, dass Sebastian Scholz schon seit Monaten Übergriffe gegen Journalisten thematisiert, zum Beispiel am 03. Mai, als er bei der Friedrich-Ebert-Stiftung sprechen sollte.

Der Übergriff von Scholz ist zwar eigentlich Auslöser dieser Geschichte, wird
aber vom MDR nicht ins Zentrum gestellt. Man berichtet lediglich davon, dass der Kameramann, mit dem Scholz in der letzten Sequenz beim MDR auf einer Parkbank über einem Tablet sitzt, Anzeige erstattet hätte. Dass aber gegen Sebastian Scholz Anzeige wegen seines Übergriffs erstattet wurde, erfährt man in dem MDR-Kurzfilm nicht. Es geht um Anfeindungen gegen Journalisten, wo eigentlich die Debatte rund um einen gewalttätigen Übergriff eines Journalisten gegen einen Demonstranten Anlass des Berichtes sein sollte.

Auch beim MDR tritt Scholz als Experte auf und kann dort die Anwürfe gegen ihn indirekt, verallgemeinernd und widerspruchslos als Fake News abtun: „Wir wissen alle um die Gefahr von Fake News. Deep Fakes sogar, die sogar für Profis schlecht zu erkennen sind.“

Und weiter: „Dadurch baut sich möglicherweise bei dem einen oder anderen das Gefühl auf, das die etablierte Presse nicht das berichtet, was wahr ist.“ Das allerdings die „etablierte Presse“ selbst schon eine Art Abbitte geleistet hat, beispielsweise der Chefredakteur der ZEIT, Giovanni di Loronzo, 2017 im Cicero und der SWR-Intendant und ehemalige Tagesschau-Chef Kai Gniffke 2020, ist Scholz während seines MDR-Moments unter das Radar gerutscht.

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