Tichys Einblick
Ceuta

Spanien schiebt nach Marokko ab: Einzelfall oder Kursänderung?

Zum ersten Mal seit der Massenzuwanderung wurde im gegenseitigem Einverständnis ein über 25 Jahre altes Abkommen angewandt, das Marokko verpflichtet, Migranten aus anderen afrikanischen Ländern zurückzunehmen, die illegal über sein Territorium nach Spanien bzw. in die Enklave gekommen sind.

African migrants queue outside the Centre for Temporary Residence of Immigrants (CETI) after successfully breaching the border from Morocco into the Spanish exclave of Ceuta on August 22, 2018 in Ceuta, Spain. Approximately 100-150 refugees stormed the fence between Ceuta and Morocco at around 9.40 am this morning.

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Die große Freude der Afrikaner währte nur kurz: Dachten die 116 jungen Männer im Moment der erfolgreichen gewaltsamen Überwindung des hoch gesicherten sechs Meter hohen Grenzzauns (einige hatten auch Löcher in den Zaun geschnitten) zur spanischen Enklave Ceuta, sie wären quasi schon in Deutschland angekommen, wurden sie bereits 24 Stunden später nach Marokko abgeschoben. Die Policia Nacional habe am Donnerstag eine entsprechende Operation in Gang gesetzt, berichtet die spanische Tageszeitung „El Pais“.

Ein Schock. Denn bisher galt: Wer den Zaun überwindet und auf europäischem Boden „Asyl“ sagt, kann bleiben. Sogar unabhängig davon, ob bei der Überwindung der Grenzebefestigungen Gewalt gegen Beamte ausgeübt wurde – denn auch in diesem Fall, so berichtet die Welt, sei es laut Polizeiberichten zu Übergriffen gegen Grenzbeamte mit Ätzkalk, Batteriesäure und Exkrementen gekommen. Mehrere Personen wurden dabei verletzt. Einige der Grenzüberwinder mussten laut Meldung des Roten Kreuzes medizinisch versorgt werden, sie hatten sich Schnittwunden an den messerscharfen Klingen des Stacheldrahtes zugezogen.

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Nun gehören zu so einer „Zurücknahme“ immer zwei. Heißt, auch die Marokkaner müssen Willens sein, die Fremden aufzunehmen. Fremde, weil keine Marokkaner, sondern Migranten aus andere afrikanischen Herkunftsstaaten. Erstaunlicherweise berufen sich Spanien und Marokko bei dieser Zusammenarbeit nicht etwa auf aktuelle Vereinbarungen oder neue Deals, die beispielsweise Marokko endlich die Anerkennung der Westsahara mit ihren reichen Phosphat-Vorkommen als marokanisches Staatsgebiet durch die EU zugesichert hätten, auch weitere Millionen-Zahlungen der EU oder Spaniens an Marokko wurden hier nicht als Grund angegeben. Nein, in diesem Falle sollen Verträge von 1992 gelten gemacht und von beiden Seiten akzeptiert worden sein.

Zum ersten Mal wurde im gegenseitigem Einverständnis also ein über 25 Jahre altes Abkommen angewandt, das Marokko verpflichtet, Migranten aus anderen afrikanischen Ländern zurückzunehmen, die illegal über sein Territorium nach Spanien bzw. in die Enklave gekommen sind. Warum aber wurde dieses Abkommen erst jetzt aus der Schublade gezogen? Tatsächlich scheint diese Begründung vorgeschoben. Denn wenn sich Marokko bisher geweigert hatte, die Menschen zurückzunehmen, kann es nur um neue Deals und Vereinbarungen gehen und eben um das Agreement, die Zurücknahme offiziell mit dem Abkommen von 1992 zu erklären.

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Die Vertretung der spanischen Regierung in Ceuta erklärte bereits vorauseilend, das Abkommen stehe im Einklang mit den EU-Regeln. Die 116 Afrikaner sollen zunächst in das überfüllte Aufnahmelager von Ceuta gebracht worden sein, wo sie auf weitere Zuwanderer trafen, die hier schon seit Wochen auf ihre Weiterreise nach Deutschland oder ein anderes europäisches Wunschziel warten. Die Behörden stellten nach spanischen Zeitungsberichten zunächst die Identität der 116 Migranten fest, soweit das möglich war, bzw. wurden sie erkennungsdienstlich behandelt inklusive Aufnahme der Fingerabdrücke ins Eurodac-Register. Eine Maßnahme allerdings, die nach EU-Recht von diesem Moment an jede Einreise von Spanien aus nach Deutschland bzw. in ein weiteres europäisches Land automatisch illegal macht. Aber illegal ist so vieles.

Nun also wenigstens erst einmal offiziell Asyl in Spanien? Mögen die 116 jungen Afrikaner vielleicht gedacht haben. Umso größer der Schock, als sie nach der Eurodac-Registrierung in Bussen und in einzelnen Gruppen zu zehn Personen direkt zurück nach Marokko gebracht wurden. Das spanische Innenministerium bestätigte auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur die entsprechende Medienberichte. Eine Aktion, die sich umgehend auch im Aufnahmelager herumgesprochen haben muss. Tagesschau.de berichtete, im Lager, das der Sender „Versorgungszentrum“ nennt, sei unter den sich dort mittlerweile aufhaltenden 1.200 Migranten Panik ausgebrochen, als sie von der Abschiebungen der 116 erfuhren oder sie direkt miterlebten.

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Im Lager sollen sich bereits jene 600 Migranten aufhalten, die am 26. Juli in einem Massenansturm die Grenze überwunden hatten, als sie ebenfalls Branntkalk und sogar selbstgebaute Flammenwerfer gegen die Grenzbeamten eingesetzt hatten. Dieses Auffanglager ist allerdings nicht polizeilich gesichert, so dass eine Anzahl der Insassen es umgehend verlassen haben soll, als sie von den Abschiebungen erfuhren. Nur wohin?

Spanien soll Marokko nach Informationen des Tagesspiegels gleich nach dem Ansturm der 600 um eine Reaktivierung der Vereinbarungen von 1992 gebeten haben, dem jetzt offensichtlich entsprochen wurde.

Kursänderung
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Interessant dürfe hier sein, ob diese Rücknahme auch zukünftig gilt und noch interessanter, ob auch für Afrikaner, die nicht über Ceuta in die EU gelangen, sondern auf anderem Wege das spanische Festland erreichen und dort aufgegriffen werden. Private Smartphone-Aufnahmen von Schlauchbooten, die Urlaubsstrände erreichen und aus denen Afrikaner eilig zwischen badenden Touristen an Land sprinten, wurden in vielen europäischen Nachrichtensendungen gezeigt.

Auch stellt sich die Frage, ob diese erstaunliche Kehrtwende Spaniens möglicherweise sogar direkt zurückzuführen ist auf den jüngsten Besuch der Bundeskanzlerin beim spanischen Premier Pedro Sanchez. Wenn dem tatsächlich so wäre, könnte Angela Merkel sich diesen Erfolg allerdings kaum auf ihre Fahnen schreiben. Zu groß dürfte in den nächsten Tagen der Aufschrei von NGO und Menschenrechtorganisationen geraten, wenn der erste Schock überwunden ist, dass die neue und überaus erfolgreiche Zuwanderungsroute nach Spanien vakant werden könnte, wenn Spanien und Marokko hier den harten Kurs beibehalten und diese Abschiebungen nicht nur Einzelfälle bleiben sollten.