Tichys Einblick
Sonderbericht über Frontex:

Nicht nur die EU-Grenzschutzagentur, sondern das ganze EU-Migrationssystem versagt

Frontex wächst – und wird ineffektiver. Das Versagen liegt aber einem Bericht des Rechnungshofes zufolge längst nicht nur an der Agentur. Die nationalen Behörden werden von EU-Bürokratie daran gehindert, die Außengrenzen zu schützen.

Fabrice Leggeri, Generaldirektor von Frontex

imago images / GlobalImagens

Der Sonderbericht des EU-Rechnungshofs über die Arbeit der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex ist verheerend. Doch seine Bedeutung wird erst ganz deutlich, wenn man zunächst mit einem weit verbreiteten Missverständnis aufräumt:

Die EU-Agentur unter dem Vorsitz des Franzosen Fabrice Leggeri mit Sitz in Warschau/Polen hat keine mit einer nationalen Grenzsicherung vergleichbare Kompetenz, was die konkrete Sicherung der EU-Außengrenzen betrifft. Frontex soll an den EU-Außengrenzen mit den Grenzschutzbehörden der EU-Mitgliedsstaaten zusammenarbeiten und hier im Wesentlichen Analysetätigkeiten durchführen. Konkret geht es um Lagebeobachtungen, Risikoanalysen und um eine Beurteilung von Schwachstellen. Auch soll die Arbeit der nationalen Grenzschützer beurteilt werden dahingehend, in wie weit diese tatsächlich geeignet sind, die EU-Außengrenzen zu schützen.

Frontex ist demnach eine Art Informationssammeldienst, der bis 2027 auf 10.000 Mitarbeiter aufgestockt werden soll.

Der EU-Rechnungshof stellte der Arbeit von Frontex jetzt ein vernichtendes Zeugnis aus, so jedenfalls der Tenor deutscher Medien von Frankfurter Rundschau und Spiegel bis Tagesschau. Der Titel des Sonderberichts 8/2021 des EU-Rechnungshofes  verweist bereits auf das Fazit des EU-Rechnungshofes: „Von Frontex geleistete Unterstützung bei der Verwaltung der Außengrenzen: bislang nicht wirksam genug“.

Aber leistet Frontex tatsächlich so schlechte Arbeit wie es Medien kommentieren?

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Wer sich allerdings die Mühe macht, den 88-seitigen Sonderbericht des EU-Rechnungshofes Zeile für Zeile zu lesen, der könnte zu einem ganz anderen Schluss kommen. Nämlich zu jenem, dass Frontex nur so gut arbeiten kann, wie jeder einzelne EU-Staaten der gemeinsamen Grenzschutzagentur planmäßig zuarbeitet. Was man im Sonderbericht über den zwar verabredeten aber kaum stattfindenden Informationsfluss zwischen den Mitgliedstaaten liest, ist tatsächlich haarsträubend.

Eine Reihe von EU-Staaten sind offensichtlich nicht bereit oder in der Lage, ihren Teil zum Gelingen der Mission der EU-Grenzschützer zu leisten: So prüfte der EU-Rechnungshof die Arbeit von Frontex über eine Zeitraum von Ende 2016 bis Februar 2020 und stellte während dieser Überprüfung entsprechende Anfragen an die Mitgliedstaaten, um das Lagebild möglichst präzise werden zu lassen. Aber manche EU-Staaten verweigerten offensichtlich die Mitarbeit. So heißt es im  Bericht des Rechnungshofs:

Der Hof versandte Fragebögen an die übrigen 25 Mitgliedstaaten und erhielt 20 Antworten (siehe Anhang II – keine Antworten von Zypern, Griechenland, Irland, den Niederlanden und Slowenien).“ Das in Angelegenheiten der illegalen Massenzuwanderung so elementar bedeutsame Griechenland verweigert dem EU-Rechnungshof einfach mal die Zusammenarbeit!

Nebenbei bemerkt, der Sonderbericht betont an gleicher Stelle auch explizit, dass die Tätigkeiten von Frontex, die sich auf die Achtung und den Schutz der Grundrechte beziehen, nicht Gegenstand dieser Prüfung sei. Man hat sich also wohlweislich nicht mit der Frage beschäftigt, was Frontex eigentlich in der analogen Welt ist: Grenzschutzagentur oder eine Asylantragsannahmestelle?

So hatte sich Frontex beispielsweise 2018 aus Ungarn ganz zurückgezogen, weil dort u.a. illegal einreisende Asylantragsteller ohne Prüfung abgeschoben worden wären. Dazu schreibt die Süddeutsche Zeitung, der UNHCR fürchte, „dass die Praxis Schule mache, Migranten mit Gewalt an den Grenzen zurückzuweisen, erklärte die Organisation. Entsprechende Berichte häuften sich, klagt Gillian Triggs, die stellvertretende Flüchtlingshochkommissarin.“

Oder verkürzt: Wo die EU-Außengrenzen gegen illegale Migration geschützt werden sollen, funktioniert das nicht, wenn keiner der illegalen Grenzübertreter an dieser Grenze nach kurzer Prüfung umgehend wieder abgewiesen werden kann.

Und auch das darf keineswegs verwechselt werden: Wo Frontex 2017 ein Interventionsteam aufgestellt hatte zur beschleunigten Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern, ist dieses „Interventionsteam“ nicht etwa aufgestellt worden, um Illegale an den Grenzen abzuweisen. Nein, das 2017 mit 690 Spezialisten gestartete Frontex-Team engagiert sich dort, wo bereits abgelehnte Asylbewerber in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden sollen.
Und wie schwer es heute überhaupt ist, eine Abschiebung durchführbar zu gestalten, zeigen die hohen Zahlen der Ausreisepflichtigen und die niedrigen Zahlen der tatsächlich Ausreisenden. Im Sonderbericht heißt es dazu „Die Agentur unterstützt die Mitgliedstaaten auf deren Ersuchen oder auf eigene Initiative bei der Durchführung von Rückkehraktionen.“

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Noch im September 2018 hatte die Europäische Kommission beschlossen, Frontex schon zwei Jahre nach der letzten eine noch neuere Verordnung zu schreiben. Dazu heißt es im Sonderbericht: „Die gesetzgebenden Organe und die Kommission strebten die Schaffung einer gestärkten und voll funktionsfähigen Europäischen Grenz- und Küstenwache an, um die Bedenken der Bürgerinnen und Bürger hinsichtlich Gefahrenabwehr und Sicherheit in der Union auszuräumen.“

Die Liste der mangelhaften Zusammenarbeit von Frontex mit den Grenzschützern der EU-Mitgliedsstaaten ist im Sonderbericht des EU-Rechnungshofs besonders lang. Allein die Probleme rund um das 2013 gestartete Europäische Grenzüberwachungssystem Eurosur sind demnach Legion. So heißt es da u.a..:

„Frontex hatte Schwierigkeiten, die EUROSUR-Daten für statistische Zwecke der Risikoanalyse zu nutzen, da die Mitgliedstaaten/assoziierten Schengen-Länder ihre EUROSUR-Berichte nicht einheitlich übermitteln und unterschiedliche Formate verwenden.“ Zudem hätte „die Berichterstattung innerhalb der Analyse- und der Einsatzschicht aufgrund von Sicherheitsbedenken der Mitgliedstaaten nur einen sehr geringen Umfang.“ Deshalb könnten diese auch von Frontex nicht für Risikoanalysen auf EU-Ebene herangezogen werden.

Es ist wirklich ein Desaster. Und es ist ursächlich – entgegen der Interpretationen dieses Berichtes in diversen Medien – eben kein Desaster der Grenzschutzagentur Frontex alleine.

Was man da im Detail erfährt, erinnert über weite Strecken an den biblischen Turmbau zu Babel: „Während einige Länder ihre Daten tatsächlich echtzeitnah in EUROSUR erfassen, geben andere sie nur einmal pro Woche ein. Dies bedeutet, dass ein Vorfall an der Grenze (d. h. die Ankunft einer hohen Zahl von Migranten) möglicherweise erst eine Woche später im europäischen System erscheint.“

Oder weiter: Die EU-Staaten „übermitteln ihre Berichte in unterschiedlichen Formaten, sodass die Daten nicht einfach aggregiert werden können und aus technischen Gründen unter Umständen nicht einmal für andere Mitgliedstaaten/assoziierte Schengen-Länder zugänglich sind.“ Der Nachsatz entbehrt nicht eines gewissen Sinns für Humor seitens der Autoren im EU-Rechnungshof: „Dies kann zulasten der Datenqualität gehen.“

Zudem würden einige EU-Staaten für jede Person einen Vorfallbericht erstellen, während andere einen Vorfallbericht für mehrere Personen erstellen. „Infolgedessen“, so der Bericht, „ist es schwierig, die Statistiken über die Anzahl der gemeldeten Vorfälle zu nutzen, da sie weder kohärent noch vergleichbar sind. Aus diesem Grund ist es zudem für Frontex schwierig, die Entwicklungen zu überwachen und die Zuteilung zusätzlicher Ressourcen nach Bedarf zu priorisieren.“

Noch ein weiteres Fazit im Sonderbericht: „Daraus ergibt sich ein Flickenteppich nationaler Lagebilder anstelle eines einheitlichen europäischen Lagebilds. Leider haben frühere Versuche, die Dateneingabe zu vereinheitlichen (insbesondere durch verschiedene Überarbeitungen des EUROSUR-Handbuchs), nicht zur Behebung dieser Probleme geführt.“

Der Spiegel reiht sich erwartbar nahtlos in die Kritik an Frontex ein. Bezeichnend ist, dass dazu der grüne EU-Abgeordnete Erik Marquardt als Experte befragt wird. Der nämlich präsentiert sich schon über Jahre als Frontex-Kritiker und als ideologischer Unterstützer der Massenzuwanderung in die EU.

Im Rahmen des europäischen Lagebilds soll Frontex den nationalen Behörden täglich zeitnahe und relevante Informationen über die Lage an den Außengrenzen liefern. Aber auch dieses Lagebild wird torpediert, weil die dafür notwendige Datenlage seitens der EU-Mitgliedstaaten „im Hinblick auf deren Vollständigkeit, Kohärenz und Aktualität“ nicht gegeben ist. Leider hätten frühere Versuche, die Dateneingabe zu vereinheitlichen (insbesondere durch verschiedene Überarbeitungen des EUROSUR-Handbuchs), nicht zur Behebung dieser Probleme geführt.

Die EU-Mitgliedsstaaten übrigens, die sich bequemt hatten, die Fragen des Rechnungshofes zu beantworten, gaben u.a. an: „dass sie die Qualität der Risikoanalyseprodukte von Frontex schätzen. Sie berichteten jedoch auch, dass es kein gemeinsames, strukturiertes Verteilungssystem gibt, sodass die Produkte nur eingeschränkt verfügbar sind und begrenzte Auswirkungen haben.“

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Im Grunde genommen ist der Sonderbericht des EU-Rechnungshofes keine Kritik an Frontex, sondern eine fundamentale Kritik am EU-System selbst. Aber Frontex ist Teil des Problems, wo eine überbordende EU-Bürokratie zu immer mehr Untergruppen führt und diese dann immer mehr Kompatibilitätsprobleme in sich selbst tragen. So gelingt es dann noch weniger, sich mit den individuellen Bürokratien der unterschiedlichen EU-Staaten irgendwie sinnvoll zu vernetzen.

Die EU ist eine heillos verhedderte Jobmaschine geworden, der einen immer unübersichtler werdenden Bienenstock voller Büros produziert. Büros in denen tagein tagaus stille Post gespielt wird. Was so zusammengemischt wurde, wird dann 1:1 als Schnellbeton über die nationalen Verwaltungen gegossen und lähmt diese nachhaltig. Auch Frontex wurde so bis zur Unkenntlichkeit betoniert. Und wo nicht mehr viel zu retten ist, wenden sich die Schöpfer schon angewidert ab.

Aber ja: Es gibt Empfehlungen des Rechnungshofes, wie hier Abhilfe geschaffen werden soll. Aber auch die lesen sich teils hilflos kryptisch hingeschrieben wie beispielsweise der Beginn der Empfehlung Nummer 1b:

„Um die Interoperabilität der gebündelten Ausrüstung zu gewährleisten und den Erwerb technisch kompatibler Grenzkontrollkapazitäten durch die Mitgliedstaaten zu erleichtern …“

Unter Punkt 92 stellt der Bericht abschließend fest: „Die Auswirkungen der von Frontex im Bereich der Migration durchgeführten Risikoanalyse werden dadurch abgeschwächt, dass für seine Produkte kein weithin zugängliches Verteilungsnetz vorhanden ist.“

Wo die Reise dieses Berichtes dann tatsächlich hingeht, erfährt man unter Punkt 95. Dort heißt es:

„Trotz der Bedeutung, die der Aufnahme von Flüchtlingen im Rahmen gemeinsamer Aktionen zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung sowohl aus menschlicher Sicht als auch für die Erkenntnisgewinnung zukommt, hat Frontex der Rolle des Kulturmittlers keine ausreichende Bedeutung beigemessen.“

Die Aufnahme von „Flüchtlingen“ versus die „illegale Einwanderung“ – als wäre die Abweisung der Illegalen nicht schon Aufgabe genug, soll hier der UN-Flucht- und Migrationspakt auch noch mitgedacht werden? Und dann bekommt Frontex die Rolle eines „Kulturmittlers“ zuzgewiesen. Über die EU-Ebene wird die UN-Ebene gegossen – und die Betondecke wird immer dicker.

Frontex soll bis 2027 jährliche Haushaltsmittel von fast einer Milliarde Euro zur Verfügung gestellt bekommen. Und das obwohl Sinn und Zweck dieser Einsatztruppe bereits daran scheitert, dass es keine echten Einsätze gibt, viele Sprachen gesprochen und die Probleme der anhaltenden Massenzuwanderung gar nicht wirklich behoben werden sollen.

So bleibt das Fazit: Frontex wird immer voluminöser und gleichzeitig ineffektiver. Die EU-Grenzschützer dienen wohl vor allem als ein Placebo-Antidepressiva für eine EU-Bevölkerung, deren Regierungen die innereuropäischen Grenzen aufgegeben haben und die nun von einer Mischung aus EU-Bürokratie und UN-Ideologie planmäßig daran gehindert werden, ihre EU-Außengrenzen vor Asyltourismus zu schützen. Aber welcher weiße Ritter wäre schon in der Lage, diesen gordischen Knoten zu zerschlagen?

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