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Kampf um Deutungshoheit: Kleines Einmaleins der Massenzuwanderung

Wenn beispielsweise dpa aktuell meldet: „Weniger Flüchtlinge in Niedersachsen“ und wenn die Braunschweiger Zeitung und andere diese Meldung in ihren Publikationen abbilden, dann ist das ohne wenn und aber eine Falschmeldung.

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Eins und eins gleich zwei. Der Weg dorthin ist einfach. Erstklässler bekommen es in Obst erklärt: Ein Apfel und ein weiterer sind zwei Äpfel. Aber schon hier kann man es verkomplizieren, wenn die Lehrerin es so erklärt: Ein Apfel für Dich, einer für Deine Freundin/Freund. Dann hat jeder einen, beide werden satt, beide sind glücklich und zusammen hat man zwei?

Die Abweisung von außereuropäischen Ausländern wird von Erwachsenen gerne komplexer verhandelt. Dabei sind die Fakten so eindeutig wie die Frage nach der Summe von eins und eins. Wenn aber die eins nicht als eins erkannt wird, dann kann auch kein korrektes Ergebnis zustande kommen.

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Wenn beispielsweise dpa aktuell meldet: „Weniger Flüchtlinge in Niedersachsen“ und wenn die Braunschweiger Zeitung und andere diese Meldung in ihren Publikationen abbilden, dann ist das ohne wenn und aber eine Falschmeldung. Warum? Weil weniger Zuzug von Migranten die Anzahl der Migranten in Niedersachsen nicht verringert, sondern lediglich die Geschwindigkeit des Zuzugs abgebremst hat. Denn wenn kaum jemand wieder ausreist und kaum jemand abgeschoben wird, dann werden es einfach mehr. Unabhängig davon, wie schnell oder langsam diese Zuwanderung vor sich geht. Mehr Menschen, die hier voll versorgt, untergebracht und medizinisch betreut werden müssen.

Aber die Überschrift dieser dpa-Meldung ist aus noch einem weiteren Grunde eine Falschmeldung, dann nämlich, wenn hier von „Flüchtlinge(n)“ gesprochen wird, also entgegen der allgemein anerkannten Definition der Genfer Flüchtlingskonvention formuliert wird, die nämlich besagt: «Ein Flüchtling ist eine Person, die “[…] aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will […]» Streng genommen wäre also die Forderung: „Refugees Welcome“ auch von jedem zuwanderungskritischeren Bürger zu unterschreiben, ist es doch ein verschwindend geringer Teil, der tatsächlich in Deutschland als Asylbewerber (also als Flüchtling) anerkannt wird. Viel mehr Ankommende werden lediglich „geduldet“ oder erhalten „subsidiären“ Schutz.

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Beginnen wir mit dem Begriff „Duldung“. Seit Jahren in aller Munde aber in seiner korrekten Definition auch deshalb so verwaschen, weil nicht nur dpa mit Begrifflichkeiten ungenau umzugehen bereit ist. Was ist eine Duldung? Nach Definition des deutschen Aufenthaltsrechts eine „vorübergehende Aussetzung der Abschiebung“ von ausreisepflichtigen Ausländern ohne Aufenthaltstitel, also auch ohne rechtmäßigen Aufenthalt. Geduldete sind also weiterhin ausreisepflichtig. Und was die subsidiär Geschützten angeht, sind auch das rechtlich gesehen keine Flüchtlinge im Sinne der Definition der Genfer Konventionen. Erst mit der verpflichtenden Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU wurde der subsidiäre Schutz in Deutschland zu institutionalisierten Schutzstatusformen aufgewertet, wo subsidiärer Schutz zuvor lediglich ein Abschiebungsverbot bedeutete.

Hier geht es also im Grunde genommen nicht um komplizierte Auslegungen oder um Interpretation von Sprache und Titeln, sondern um recherchierbare Sachlagen, um Fakten, um die Frage, was eins und eins in Summe ergibt. Natürlich läst sich alles ideologisch verkomplizieren, wenn man bereit ist, in Äpfeln zu denken und beispielsweise eine soziale Komponente einbauen möchte: Ein Apfel für dich, einer für deinen Freund.

Der Spiegel beklagt sich gerade über eine Verrohung von Sprache in der „Flüchtlingsfrage”. Und das Magazin möchte beweisen, dass es die Grundrechenarten beherrscht und spricht also in der Headline nicht mehr von Flüchtlingen, sondern titelt: „Wie rechte Politik die Migrationsdebatte prägt“. Die „Flüchtlingsdebatte“ gibt es für den Moment einfach nicht mehr, weil die Autorin damit den Inhalt ihrer Rede ad Absurdum stellen würde. Der Spiegel sprach dafür mit einer promovierten Linguistin. Also mit einer Fachfrau, die das Einmaleins der Sprache studiert haben sollte. Und die dann im Interview mit dem Spiegel zum Schluss kommt, dass wir nicht sorgsam genug mit Sprache umgehen würden, aber diese würde doch unser politisches Handeln prägen.

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Interessanterweise antwortet die Linguistin hier auf eine Frage, die nun entgegen der Überschrift zum Artikel wieder den Begriff „Flüchtling“ verwendet: „Frau Wehling, in der Flüchtlingsdebatte wird auch über Begriffe diskutiert …“ Weiter befindet die Fachfrau für Sprache: „Wir alle besitzen ein sehr genaues Gespür dafür, dass bestimmte Begriffe ideologisch aufgeladen sind.“ Merken würde man das daran, dass Begriffe wie Asyltourismus in den Medien immer in Anführungszeichen gesetzt würden. Dass nun der Begriff „Flüchtling“ in der Fragestellung nicht in Anführungszeichen gesetzt wurde, zeigt nur das geschriebene Wort der Online-Ausgabe de Spiegels. Oder hatte die Fragestellerin, als sie „Flüchtling“ sagte, gegenüber der Lingustin beide Hände gehoben und die Gänsefüßchen in den Himmel über Hamburg gemalt? Wir wissen es nicht.

Richtiggehend durcheinander gerät es dann, wenn die Fachfrau selbst den ideologisch aufgeladenen Begriff „Flüchtling“ verwendet, wenn sie erklärt: «Denken Sie an Formulierungen wie „Flüchtlinge zurückweisen“ – da verlagert sich im Kopf der Fokus auf die Herkunft, in die es zurückgehen soll. Es wird propagiert, es gäbe noch eine Heimat. „Abweisen“ wäre das ehrlichere Wort.» Nein, ehrlicher wäre es hier, zu sagen, „Migranten abweisen“. Wenn sich nun aber schon eine Lingustin verheddert, wie soll der Bürger hier noch bei irgendjemandem irgendeine Deutungshoheit anerkennen? Nein, der Bürger vertraut auf seinen gesunden Menschenverstand. Darauf, dass eins und eins zwei ergibt. Ganz gleich zunächst, wer nachher die Äpfel isst, es bleiben immer zwei, die zu verteilen sind, wenn vorher zwei einzelne vom Baum gepflückt wurden.

Aber die Sprachwissenschaftlerin ist so frei, sich gegenüber dem Magazin aus Hamburg zu erkennen zu geben als ideologisch positionierte Person, wenn sie weiter erklärt, die CDU sei bereits eine rechtspolitische Gruppe. Die AfD sowieso. Und wenn sie zu wissen vorgibt, diese Gruppe würde „stärkere Frames“ setzen, als linkspolitische Gruppen. Die Rechten würden „also Deutungsrahmen“ setzen, „durch die Realität betrachtet und so auch politisches Geschehen eingeordnet wird.“

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Nun ist der Streit um Worte, um Wortbedeutungen und um Auslegungen von Worten und Begrifflichkeiten nie in der Lage, Realitäten nachhaltig zu verändern. Er verändert maximal den Blick auf das, was geschieht, dann, wenn er die Deutungshoheit für sich in Anspruch nimmt. Wer hier aber darauf setzt oder hofft, der Bürger würde nicht erkennen, von welcher Seite ihm ein A für ein U vorgemacht wird, der will am Ende auch diskutieren, wer die Äpfel bekommt. Und spätestens da muss man ihm entgegen: Eins und eins ist zwei. Und zwei Äpfel sind meine zwei Äpfel, dann nämlich, wenn sie an meinem Baum hingen. Egal, wer gerade vorbeikommt und sich verbiegt, sie zu ergreifen.