Tichys Einblick
Stunden der Wahrheit

Fehlende Integration in Deutschland schuld an „Evet“

Das Abstimmungsverhalten der Türken in Deutschland und Westeuropa bringt die üblichen politischen Fronten ganz schön durcheinander, passen doch die eingefahrenen Bilder nicht mehr übereinander.

People celebrate the "Evet" (Yes) vote result

© Chris McGrath/Getty Images

Daran dass so viel Türken in Deutschland der – beschönigend „Präsidialsystem“ genannten  – Alleinherrschaft von Erdogan zugestimmt haben, sind nun wirklich nicht die Deutschen schuld. Da können Claudia Roth und andere ihre Rhetorik noch so sehr verbiegen, das kann niemanden überzeugen, der nüchtern auf die Umstände des Referendums in der Türkei schaut.

Ach du je, die Bedrohung aus „der Mitte der Gesellschaft“, dieses neue „Kranken am Deutschsein“, diese Deutschen mit ihrem angeblichen Hang zum Totalitarismus, zu ihrem angestammten „Rassismus“, bekommen nun Gesellschaft ausgerechnet von denen, die bisher als ihre liebsten Opfer identifiziert wurden, von den Migranten und Nachfahren der Migranten, von Deutschen mit Hintergrund, von Doppelpässlern und am allermeisten noch von Türken in Deutschland? Von denen, an denen sich der Integrationsunwillen der Deutschen jahrzehntelang so unliebsam ausgetobt hätte?

Tatsächlich hat dieser etablierte „linksgrüne“ Blick auf die Welt einen empfindlichen Schlag mitten ins Kontor bekommen: Millionen Türken unter uns wünschen sich einen starken Mann als Führer der Nation, einen waschechten Autokraten. Make Turkey great again! Und sie haben das per Votum in überwältigender Mehrheit so beschlossen, als sie Erdogans Referendum mit einem herzlichen „Evet“ bestätigten. Doch nicht alle?

Stimmt, aber noch viel mehr, als man offiziell statistisch präsentiert bekam, wie der islamkritische Autor Hamed Abdel-Samad feststellen musste, als er einmal der Einfachheit halber Kurden, Aleviten und christliche Assyrer und Aramäer mit türkischem Pass weg rechnete und so auf eine Zustimmungsquote für die Einführung der türkischen Diktatur bei den muslimischen nichtkurdischen Türken von über 90% kam. Für Abdel-Samad sind „die Türken in Deutschland gar nicht gespalten, was Erdogan angeht, wie es in der Türkei der Fall ist, sondern stehen geschlossen hinter dem Islamismus, dem Chauvinismus und der Todesstrafe.“ 

Noch immer nichts gelernt?
Türkei Referendum: Die Unbelehrbaren
Nichts ist mehr wie zuvor. Wie das zuvor war? Damals in dieser noch so vermeintlich ordentlich sortierten Welt aus Guten und Bösen erklärte der niedersächsische Ministerpräsident a.D. David McAllister: „Die türkischen Migranten der ersten Stunde haben unser Land mit aufgebaut und unseren Wohlstand mit begründet.“ Für Armin Laschet war es ein „Glücksfall“, dass in Deutschland hauptsächlich Muslime türkischer Herkunft leben. Und auch Claudia Roth erinnerte im Bayrischen Rundfunk: „Die Türken haben Deutschland nach dem Krieg wieder aufgebaut.“ Mal davon abgesehen, dass die türkischen Gastarbeiter nur deshalb kamen, weil es bereits das Wirtschaftswunder gab und nicht noch, um den Trümmerfrauen bei der Arbeit zu helfen, reichen diese drei Beispiele aus, das ganze Dilemma zu umschreiben. Selten noch wurde ein so kompaktes Gedankengebäude rund um die Integrationserfolge türkischer Menschen in Deutschland so erschüttert.

Die Architekten dieses Erfolges macht das ganz nervös. Eine weitere Eskalation des „Gutmenschlichen“. Prompt weiß dann auch besagte Roth nach dem Referendum: „Wir müssen uns schon fragen, warum junge Menschen mit türkischen Wurzeln, die hier zur Schule gegangen sind und vielleicht sogar studiert haben, Erdogan als ‚ihren Präsidenten’ bezeichnen. Diesen Menschen müssen wir deutlich machen, was Demokratie ausmacht.“

Deutlich machen, was Demokratie heißt … Ja aber was heißt denn Demokratie? Claudia Roth findet, dass diese „deutschen“ Evet-Stimmen einem „Präsidialsystem“ zugestimmt hätten, das „mit unserer Rechtsstaatlichkeit und Demokratie wenig zu tun hat. Das gilt aber auch für alle, die der AfD ihre Stimme geben. Denn die AfD hat mit Demokratie genauso wenig zu tun. (…) Wir müssen unser Modell eines demokratischen Europas entschiedener gegen diejenigen verteidigen, die es ablehnen.“

Nein, sie meint nicht die 90% der hier lebenden muslimischen nichtkurdischen Türken, die nach Hamed Abdel-Samad die Diktatur in der Türkei wünschen, Claudia Roth meint wirklich die AfD und ihre Wähler, von denen nicht gerade wenige auch aus der bisherigen Wählerschaft der Grünen stammen. Auf so etwas muss man erst einmal kommen. Das ist zumindest rein dialektisch eine Meisterleistung der gedanklichen Verirrung.

Fassen wir mal zusammen: Wenn die Stimmen der in Deutschland lebenden Türken entscheidend für den Ausgang des Referendums sein sollten, dann sind wir Herkunftsdeutschen Schuld an der kommenden Diktatur in der Türkei? Das ist wirklich stark. „Es gibt viele, die strengen sich sehr an und erfahren trotzdem Zurückweisung.“, sagt Claudia Roth. Und diese unsere Zurückweisung macht sie also zu Liebhabern von Diktatoren?

 

Aber welche andere Zurückweisung hat denn nun dazu geführt, dass die Mitte der (herkunfts)deutschen Bevölkerung angeblich „rassistisch“ und demokratiefeindlich geworden ist? Auch darauf weiß Claudia Roth eine Antwort: „Auch so manchem AfD-Anhänger muss der Wert einer freiheitlichen Gesellschaft noch viel stärker klar gemacht werden. Dazu gehört auch, den Wert unabhängiger Medien zu verdeutlichen.“

Ein vernachlässigter Blick
Deutsche und Türken
Wie durcheinander geraten nun schon die rothgrüne Dialektik ist, beweist ein weiteres Roth-Zitat: „Erdogans unsägliche Kampagne mit inakzeptablen Nazi-Vergleichen hat die Stimmung aufgeheizt. Wir dürfen nicht zulassen, dass jetzt eine antitürkische Stimmung aufkommt.“ Das muss man erst einmal raus bringen, ohne über sich selbst schallend zu lachen. Also über die politische Alchemie, aus einer von Erdogan angeheizten antideutschen Stimmung eine antitürkische zu basteln. Dabei sieht doch die „antitürkische“ Stimmungsmache im Lande ganz anders aus: Da könnte man tatsächlich auf den Gedanken kommen, dass diese  Ganztagsschulen und Gratis-Kitas nicht ausschließlich neokapitalistische Wunschträume sind, also den deutschen Doppelverdiener fördern wollen, sondern noch viel mehr, den Einfluss besonders von türkischstämmigen Eltern auf ihre Kinder unterbinden soll – nein, nicht Umerziehung, sondern gleich die Übernahme der ganzen Erziehungsarbeit.

Wenn die Publizistin Birgit Kelle im Interview erklärt, „Margot Honecker wäre stolz auf Maas und Schwesig“, und damit deren Versuch meint, über die Erweiterung von Kinderechten, die elterliche Erziehungshoheit zu beschneiden, dann trifft das möglicherweise die „Rassismus“-verdächtige Mitte der Herkunftsdeutschen nur so nebenbei und ist tatsächlich noch viel mehr auf unsere türkischen Mitbürger gemünzt, deren Kinder man zu brauchbaren Bessermenschen erziehen will. Zu – ähm – hayır-Sagern.

Aber Vorsicht, wenn man bedenkt, was für eine Phalanx sich da anbietet. Kindergärten haben das ja schon öfter erlebt, wenn sich plötzlich wertkonservative Türken, Türkischstämmige und Deutsche zusammentun beispielsweise gegen diese ganzen Gender-Bemühungen der Erzieherinnen. Aber diese Art des innerkulturellen Einvernehmens meinen die Roths und Laschets der Republik ja überhaupt nicht. Das fürchten sie geradezu.

Denn auch „der Türke“ will das alles vielleicht gar nicht. Wie so viele Deutsche auch. Wohlan also, gemeinsam.