Tichys Einblick
Verloren

Deutsche Identität – das Magazin „Der Spiegel“ hat Diskussionsbedarf

Der Witz hinter dieser komödiantischen Strampelbewegung beim Spiegel: Tatsächlich führt der grelle Fokus auf Minderheiten, Identitäten und diverse Geschlechter zwangsläufig dazu, dass es am Ende nur noch die Vielfalt des ICH gibt in mehr oder weniger komfortablen Elfenbeintürmen. Dann, wenn die alten Identitäten aufgelöst sind, wenn Klasse, Nation und Stand verschwinden.

Johannes Eisele/AFP/Getty Images

Der Deutsch-Franzose Nils Minkmar gehörte in einer anderen Zeit einmal zu den großen Talenten des deutschen Feuilletons, seine Texte für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung waren mit das Beste, was dieses Genre zu bieten hatte. Der Journalist ist mittlerweile beim Spiegel angekommen und pulverisiert dort seit 2015 sein Talent auf den Politkulturseiten des Hamburger Magazins im vergeblichen Versuch, die Nachfolge des Debattenkönigs Frank Schirrmacher anzutreten.

In so einem neuerlichen Anlauf möchte der Autor eine Vorliebe der Deutschen für identitätspolitische Minimalskandale erkannt haben. Von Minimal-Debatten kann allerdings nur schreiben, wer die schmerzhaften Debatten über illegale Migration bis zum Migrationspakt, über Kölner-Domplatte bis explodierender Gewalttätigkeit und von einer Energiewende bis zum drohendem Blackout der deutschen Industrie einfach ignoriert oder die Debattierenden als Volltrottel bis Alt-Nazis eingestuft hat.

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Minkmar als Lautsprecher steht hier allerdings auf zunehmend einsamem Posten, wenn z.B. gerade die Kolumnen der Schreihälse des Spiegels von Georg Diez bis Jakob Augstein reihenweise gegen die neuer Autoren ersetzt werden bzw. sich obendrein noch ein Skandal Münchhausen die Arbeitsweise des Spiegel erschüttert, als hätte es die Hitler-Tagebücher des Stern und das anschließende Siechtum des Magazins nie gegeben.

Nun fischt der Spiegel im Trüben, beschäftigt sich neuerdings mit Titelgeschichten zu Abschiebungsskandalen und setzt obendrauf auf einen Gestaltungsrahmen aus den erfolgreicheren 1970er Jahren des Magazins mit düsteren Fotocollagen anstelle provokativ-minimalistischer Grafiken beispielsweise eines Edel Rodriguez.

Minkmar erkennt den neuen Opportunismus beim Spiegel, will dabei sein, will aber um Himmelswillen keine kleinen Brötchen backen, sondern gleich ganz groß einsteigen, indem er gleich mal die Deutungshoheit über die deutsche Identität für sich reklamiert.

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Ja, es muss die alten Hasen aufscheuchen, wenn der Spiegel weniger prominente, viel jüngere Autoren auf die Straße schickt, die in die deutschen Ämter schauen, die mit solchen Leuten reden, die die Massenzuwanderung seit 2015 verwalten müssen und die dann Verstörendes mitbringen aus der deutschen Provinz; wenn beispielsweise Mitarbeiter der Ausländerbehörde berichten, was tatsächlich los ist an der zusammenbrechenden Bürokratenfront. Was dort passiert, wo man täglich erleben darf, was massenhaft zuwandernde Menschen an diesem Land so sympathisch finden. Jedenfalls nicht zuerst das Wertesystem, nicht die Freiheit oder die Menschenrechte: Die sind nur schmückendes Beiwerk beim groben Eindringen in die prallen Sozialsysteme.

Nils Minkmar rudert hektisch mit den Armen und befindet im Vorübergehen, es gäbe eine deutsche Identitätskrise und die hätte damit zu tun, dass die Deutschen zwar „über Karnevalswitze, Kostümvorschriften und sogar über Osterhasen“ streiten, damit aber nur eine „Vorliebe für identitätspolitische Minimalskandale“ zeigen würden.

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Doch, das muss man sich erst einmal trauen auf dem havarierten Dampfer des so genannten Mainstream-Journalismus, einst „Leitmedien“. Also auf schwankendem Deck einen Anker der Deutungshoheit werfen, den Menschen erklären zu wollen, ihre Sorgen um Deutschland seien allesamt Pillepalle, ein wandelnder Häschenwitz nur deshalb, weil einem der Wille zur Debatte und überhaupt die Ernsthaftigkeit abhanden gekommen ist.

Eine lupenreine Elfenbeinturmdemonstration. Der misslungene Versuch, die gipfelhohen Debatten der letzten drei Jahre zu umschiffen und die dicken Löcher in den Abonnentenzahlen zu ignorieren, entstanden, seit der Leser die Probleme der Gegenwart nicht mehr widergespiegelt sieht im Blatt.

Klar, Jakob Augstein ist trotzdem begeistert von Minkmar, vielleicht grillt man an den Wochenenden zusammen. Jedenfalls mischt sich er sich aus dem Off seines Twitter-Accounts ein und empfiehlt: „unbedingt noch mal den klugen Text von @nminkmar über echte und falsche Skandale lesen!“

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Haben wir getan. Klug ist daran allerdings leider gar nichts. Der Text ist im Gegenteil mit einem gehörigen Maß an Desorientierung und Verzweiflung geschrieben, wenn hier einer über die Identität der anderen schreibt und dabei in jeder Zeile vermittelt, wie übergroß die eigenen Identitätsprobleme sind. Nur um dann jene, die über alle Verwerfungen hinweg noch selbstverständlich mit ihrem Deutschsein umgehen, zu so etwas wie Provinzdeppen zu erklären. Ja, es ist mies. Aber es kann dem guten Michel ja längst nicht mehr wehtun. Über diese Phase ist er hinaus. Die Minkmars der Republik sind ihm kein kostbares Adrenalin mehr wert.

„Deutschland lebt in einer neuen Epoche, der des Minimalskandals.“, eröffnet der Autor. So, als hätte es die großen Debatten der Gegenwart nie gegeben, als dürfe es sie nicht geben, weil sich Kollegen wie Minkmar und Co. nicht daran beteiligt haben, als es darum ging, beispielsweise zugewanderte Kriminalität als solche zu benennen, Asylbetrug zu brandmarken oder die Ausweitung der Zuwanderung mittels UN-Migrations- und Flüchtlingspakt zu erklären.

Viel zu lange waren die Minkmars und Ralf Stegners der Republik damit beschäftigt, all jene zu Nazis zu erklären, die sich den Debatten stellen wollten. Stattdessen wurde der Untergang des demokratischen Abendlandes beschworen mit einem Fackelzug von Bildern der 1930er Jahre als eine Art Pendant zur Pegida-Bewegung. Schrecklich.

Wer sich noch an die verstörenden TV-Auftritte Augsteins erinnert, ist klar im Vorteil. Der weiß, wie weit die Hysteriespirale beim Spiegel gedreht wurde. Und nun stellt sich ein paar Jahre später ein Nils Minkmar hin und schreibt, der Deutsche rege sich immer nur „kurz und heftig über ein Thema auf, dessen Irrelevanz nicht bezweifelt werden kann.“

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Die Aufregung der Straße wird also zu einer irrelevanten, weil hier Kindergartenkostüme eine Rolle spielen würden? Nils Minkmar möchte über die deutsche Identität referieren. Aber wer über das Sein der anderen berichten will, der tut gut dran, erst einmal zu schauen, wo er persönlich zu Hause ist. Der sollte sich bestenfalls entsprechend erklären, will er einen Rest von Glaubwürdigkeit behalten als notwendige Grundlage für die Welterklärung.

Sicher ginge bald wieder der „jährliche Kampf wackerer Männer für den Osterhasen aus Schokolade los, der angeblich aus politischer Korrektheit zum Traditionshasen umgetauft wurde.“, orakelt der Autor weiter in seinem Text und erklärt über alle Debatten hinweg, die sich beispielsweise mit der Implantierung der türkischen Sprache an Schulen beschäftigen oder mit der Abwertung des angesehenen deutschen dualen Ausbildungssytems, Minkmar behauptet also darüber hinweg, es gäbe gar keine realen Probleme. So fände beispielsweise eine Islamisierung nicht statt, „solche Ängste entbehren einer sachlichen Grundlage.“

Ja, sie entbehren wohl tatsächlich einer Grundlage bei jenen, die sich den Debatten seit Jahren verweigern, die stattdessen in anderen Debattenteilnehmern Widergänger Himmlers, Hitlers und Goebbels erkennen wollen.

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Der Witz hinter dieser komödiantischen Strampelbewegung beim Spiegel geht heute so: Tatsächlich führt der grelle Fokus auf Minderheiten, Identitäten und diverse Geschlechter zwangsläufig dazu, dass es am Ende nur noch die Vielfalt des ICH gibt, nur noch Minkmars in mehr oder weniger komfortablen Elfenbeintürmen. Dann, wenn die alten Identitäten aufgelöst sind, wenn Klasse, Nation und Stand verschwinden. Dann, wenn sich die Herren Minkmar so wundersam neoliberal fühlen.

Dann, wenn sich so ein Identitätsflüchtling selbst ermächtigt, das Pfui-Thema zu besprechen, wenn er sich anmaßt, die Deutungshoheit über die Identität derer zu beanspruchen, die noch bereit sind, eben diese zu verteidigen, wenn Minkmar schreibt: „Die Lächerlichkeit der einzelnen Fragen sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Nervosität und Empörungsbereitschaft über Fragen der Identität auf eine Schwäche in dieser Hinsicht schließen lässt.“

Sagt ausgerechnet der Identitätssucher Minkmar beispielsweise einer Familie aus dem Dresdner Umland, die in älteren Monoblockstühlen zwar, aber gerade ganz gemütlich und zufrieden in der Frühlingssonne am Ufer der Elbe im Schatten der Festung Königstein am Grill sitzen und der weißen Flotte mit den Ausflugsgästen hinüberwinken oder einfach den lieben Gott in ihrem geliebten Deutschland für den Moment mal einen guten Mann sein lassen.

Minkmar schaut mit zusammengekniffenen Augen hinüber zu den grellen Deutschen und ihm fällt nicht mehr ein  als: „Identität entsteht nicht vereinzelt, also herrscht die kulturelle Konfusion. Reist man ein wenig in der Provinz herum, entdeckt man allenthalben die große Ratlosigkeit.“

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Ratlosigkeit? Woran misst sie Minkmar? Daran, dass die SPD beispielsweise im Wahlkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge gerade noch 7,8 Prozent der Stimmen einfährt? Jene SPD, die immer noch Bundespolitik mitbestimmen über ihre unheiligen Stellvertreter im Außenministerium, Familienministerium, Arbeits- und Sozial- und weitere Ministerien?

Der Spiegel-Autor endet mit den Sätzen:

„Das Neue, die Welt und die Anderen sind derzeit wie bedrohliche Schatten unter deutschen Betten. Es nutzt aber nichts, unter der Decke zu bleiben, dann und wann für Minimalskandale hochzuschrecken – es ist längst Zeit, sich etwas vorzunehmen und Identität zu denken, als Bürger einer Kommune, einer Region, als Deutscher und Europäer. Wer sind wir und was können wir dafür tun?“

Ein gelungener Witz zum Abschluss. Dann, wenn die Schatten unter dem Bett da oben in den deutschen Elfenbeinturmschlafzimmern so überwältigend groß geworden sind. Wenn sich einer wie Minkmar unvermittelt wie Phoenix aus der Asche hinstellt und die Menschen auffordern will „Identität zu denken“ als Deutsche. Wenn er im Richard-David-Precht-Gestus die Frage stellt: „Wer sind wir?“, wo er selbst gar nicht mehr weiß, wer er eigentlich ist und woher er die Kühnheit nimmt, als Veganer den Menschen am Grill erklären zu wollen, wann das Fleisch zu drehen sei.

Ach übrigens: Wie Nils Minkmar auf seiner Suche nach einer deutschen Identität wirklich tickt, offenbart ein aktueller Twitter-Tweet, wenn er uns so schief lächelnd noch einmal seine beiden größten Vorbilder vorstellt:

„Sarah Wagenknecht ist eine besondere Persönlichkeit, eine Intellektuelle in der Politik. Frank Schirrmacher schätzte sie, bat sie um Texte für das @FAZ_Feuilleton. Für den Politzirkus ist es schade und hoffentlich gut für sie. #Wagenknecht“