Tichys Einblick
Merkelland Exkursion 1

Angela Merkel: Mehr geht eben nicht

Teil I einer nicht repräsentativen Exkursion durch Merkelland. Zu Besuch bei Deutschen, die der Kanzlerin ihre Stimme geben wollen. Heute eine 89-jährige Ex-Werksbibliotheksmitarbeiterin, die glaubt, Merkel hole für uns Deutsche aus dem Amt alles heraus.

© Getty Images

Mit 89 Jahren, könnte man denken, hat man andere Probleme, als sich mit der deutschen Tagespolitik auseinanderzusetzen. Und so ein Gespräch mit einer 89-Jährigen beginnt auch meistens mit einer Art Ritual: Man fragt, wie es geht und hofft für die alte Lady, dass die Liste der Gebrechen nicht wieder so umfangreich sein möge wie beim letzten Mal. Nun ist so ein langes Leben aber viel mehr, als nur ein Anhäufen von Krankheiten. Im besten Falle trifft man auf ein erstaunliches Reservoir an Wissen und Weisheit.

„Nun lassen Sie doch mal die Merkel in Ruhe. Ich kann das nicht mehr hören!“, erklärte mir die Gesprächsfreudige auf dem Weg von Edeka zurück zu ihrer bescheidenen Erdgeschoss-Wohnung in einem zweistöckigen Haus, das auf den Abriss wartet, also auf das Ableben der alten Dame. Das Geschoss über ihr ist schon seit Jahren unbewohnt und wird nicht mehr vermietet. Ich half ihr einmal einen ollen Kohleofen wieder in Gang zu bringen. Dabei erzählte sie von ihrer Jugend irgendwo im Niederschlesischen. Sie war eine ganz junge BDM- oder Jungmädel-Führerin. Jedenfalls präsentierte sie zwischen Kaffee und einem schmalen Streifen trockenen Streuselkuchen irgendeinen ledernen Knoten samt Tuch und Hemd, Uniformteile, die sie irgendwie durch Krieg und Vertreibung gerettet hatte. Noch heute pflegt sie Kontakte zu ebenfalls schon steinalten BDM-Führerinnen, erzählte sie stolz. Aber wohl weniger, um der Ideologie dahinter nachzutrauern, als um den Wert sportlicher Ertüchtigung und disziplinierter Lebensweise und Ernährung zu unterstreichen, der ihr so ein langes Leben beschert hätte.

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Die alte Dame las mir also die Leviten, was meine Kritik an Angela Merkel angeht. Was denn mit dieser Massenzuwanderung sei, warf ich ein. „Ach“, meinte die Alte, „Mein Vater hat immer gesagt, Politik ist ein schmutziges Geschäft. Und eine Einzelne kann doch dafür überhaupt nicht verantwortlich sein, da spielen andere Mächte im Hintergrund mit.“ Sie erklärte mir also, dass die Bundeskanzlerin das alles nicht gewollt haben konnte, oder verhindert hätte, wenn nur die Möglichkeit bestanden hätte. Ihr wären also offensichtlich die Hände gebunden gewesen. Sie täte Ihr Möglichstes, was viel gewesen sei.
Sie tut doch alles Mögliche

Ist das eine gute Erklärung für den hohen Zuspruch, den Partei und Kanzlerin nach wie vor im Wahlvolk genießen? Dass Angela Merkel ihr Bestes gibt als Kanzlerin eines europäischen Mittelstaates in diesem unübersichtlichen Orchester internationaler Verpflichtungen und Herausforderungen, noch dazu inmitten einer entfesselten Globalisierung, die ebenfalls politische Entscheidungen diktiert? DIe Lebenserfahrung der alten Dame besagte also offenbar, dass souveräne Entscheidungen kaum möglich seien. Oder wie es ihr Vater erklärt hatte: Politik ist ein schmutziges Geschäft. Fast hundert Jahre leben in Deutschland hinterlässt hier also die Gewissheit, dass es nicht so weit her ist mit souveränen Entscheidungen. Dass Merkel es nur so gut macht, wie sie eben kann oder darf. Was ist das? Irgendeine hartnäckige NS-Verschwörungstheorie aus den Tiefen der deutschen DNA? Staatliche Souveränität also nur eine leere Worthülse?

Die Süddeutsche fragte noch 2013 „Wie souverän ist Deutschland?“ Und konstatierte tatsächlich: „Auf deutschem Boden existieren offenkundig zwei Staatsgewalten – die deutsche und die amerikanische. Wenn die Deutschen das Schalten und Walten der US-Geheimdienste tolerieren, akzeptieren, respektieren, wirft das die Frage nach ihrer Souveränität auf.“ Ist es mit der Souveränität womöglich so wie mit der Wirtschaft, hat sie sich globalisiert?

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Wenn es nun nach der 89-Jährigen netten alten Dame von nebenan ginge, dann war das in ihrer langen Lebensspanne nie anders. Der Journalist Heribert Prantl hat eine weitere Erklärung, die indirekt die Fesseln des Bundeskanzleramtes umschreibt: „Es hat einen Entstaatlichungsprozess gegeben – das bekannteste Kürzel dafür heißt Europäische Union.“ Nach Prantl sind die Nationalstaaten von Rechts- und Quasi-Verfassungsverordnungen umgeben und eingehüllt von vielen internationalen Vertragswerken.
Prantls zwei Staatsgewalten

Der Rechtswissenschaftler Volker Boehme-Neßler sieht in der grenzenlosen Digitalisierung eine Ursache für die Korrosion staatlicher Souveränität. So führe Digitalisierung üblicherweise dazu, dass – territoriale und andere – Grenzen eine immer geringere Rolle spielen. Die Rolle des Staates würde so immer weiter relativiert. Logischerweise müsste nun, was Boehme-Neßler beobachtet hat, auch am Amt der Regierungschefin nicht spurlos vorbei gehen. „Der Staat wird eine neue Rolle finden (müssen).“, meint der Rechtswissenschaftler. So klang dann auch Prantls Abschiedslied: „Die Exzesse eines fast mystisch aufgeladenen Staatlichkeit hatten sich im alten, klassischen Konzept von Souveränität niedergeschlagen. Heute sind Deutschland und Co weit entfernt von der absoluten Befehls- und Selbstbestimmungsmacht, von der ‚summa soluta potestas’.“

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Liest man den Prantl von 2013 genauer, staunt man nicht schlecht. Denn für den linksliberalen Journalisten gibt es dieses „Unser Deutschland“ aus dem Verständnis der Bevölkerung offensichtlich überhaupt nicht. Für Prantl existieren nämlich zwei Staatsgewalten nebeneinander her. Und beide sind alles andere als auf Souveränität basierende Konstrukte: Erstens wäre da die deutsche, allerdings in jener Gestalt, „die ihr die EU- und andere Verträge gegeben haben“ und zum anderen die US-amerikanische, „in nicht genau bekannter Form“.

Und da ist Prantl dann wieder ganz nah bei einer 89-Jährigen ehemaligen BDM-Führerin, die der Bundeskanzlerin schon deshalb ihre Sympathien ausspricht, weil diese gar nicht anders könne, wenn doch andere Mächte in diesem Maße souveräne Entscheidungen beschneiden könnten und würden. Für Prantl ist das dann alles nur eine Ablösung der althergebrachten nebeneinander existierenden Machtsysteme wie Kaiser und Papst, Staat und Kirche.

Kann es also sein, dass dieses erstaunlich hohe Maß an Zustimmung für die Bundeskanzlerin und ihre Partei trotz all der Verwerfungen der letzten beiden Regierungsjahre auch darauf fußt, dass der Bürger sehr wohl realisiert, dass Angela Merkel immer noch das Beste herauszuholen im Stande ist – im Rahmen der arg begrenzten Möglichkeiten einer deutschen Bundeskanzlerin? Arbeitet hier möglicherweise eine tief verankerte Generationen-Erfahrung mit an der vierten Amtszeit Angela Merkels?