Tichys Einblick
So ist die Rechtslage

Wiederholung der Bundestagswahl in Berlin – Bundesverfassungsgericht entscheidet

Die Berliner Wahlproblematik – nämlich dass zugleich mit der zu wiederholenden Landtagswahl auch eine Bundestagswahl stattfand, die aber, jedenfalls nach dem Willen des Wahlprüfungsausschusses des Deutschen Bundestages, weitestgehend gültig bleiben soll – ist historisch beispiellos. Von Ulrich Vosgerau

Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe

IMAGO / Arnulf Hettrich
Die im Bundesland Berlin nun entstandene Situation hat keinen historischen Präzedenzfall. Die Feststellung der Ungültigkeit einer gesamten Landtagswahl hat es in der Bundesrepublik Deutschland erst einmal gegeben, nämlich in Hamburg 1993; dort fand nach Hamburger Rechtslage dann aber keine Wiederholungswahl, sondern eine Neuwahl im Anschluss an die Selbstauflösung der Hamburger Bürgerschaft statt. Außerdem hat das Landesverfassungsgericht Schleswig-Holstein 2010 die Legislaturperiode eines aufgrund eines verfassungswidrigen Wahlgesetzes gewählten Landtages von (damals noch) vier auf drei Jahre verkürzt. Die heutige Berliner Problematik – nämlich dass zeit- und organisationsgleich auch eine Bundestagswahl in Berlin stattfand, die aber, jedenfalls nach dem Willen des Wahlprüfungsausschusses des Deutschen Bundestages, weitestgehend gültig bleiben soll – spielte damals aber jeweils keine Rolle.

Die Rechtslage stellt sich so dar:

Erstens: Das Urteil des Berliner Verfassungsgerichtshofs hat Bestand.

Abgeordnetenhaus und Senat amtieren weiter bis zur Wiederholungswahl. Alle bisherigen Rechtsakte bleiben wirksam, zur Sicherung der Kontinuität staatlichen Handelns sind Abgeordnetenhaus und Senat bis dahin weiter berechtigt, ihre gesetzlichen Aufgaben wahrzunehmen.

Eine – sei es auch nur sehr vorübergehende – Wiedereinsetzung des „alten“ Abgeordnetenhauses der vorherigen Legislaturperiode kommt keinesfalls in Betracht. Zwar ist das demokratische Legitimationsniveau – so der terminus technicus des Bundesverfassungsgerichts – des gegenwärtigen Abgeordnetenhauses infolge zahlloser Wahlfehler nicht hinreichend, deswegen muss ja die Wahl komplett wiederholt werden. Aber das vorige Abgeordnetenhaus besitzt überhaupt keine demokratische Legitimation, ganz einfach, weil dessen Legislaturperiode längst vorbei ist. Demokratie ist eben Herrschaft auf Zeit, und nicht hinlängliche demokratische Legitimation für einen beschränkten Zeitraum ist immer noch besser als gar keine demokratische Legitimation für einen beschränkten Zeitraum. Und so haarsträubend die Wahlfehler auch gewesen sind: Die deutliche Mehrheit der Berliner Wahlberechtigten dürfte dennoch „fehlerfrei“ gewählt haben.

Die Wiederholungswahl wird stattfinden, insbesondere das Bundesverfassungsgericht mischt sich hier nicht ein. Es ist zwar denkbar, dass zum Beispiel Abgeordnete des jetzigen Abgeordnetenhauses gegen die in ihren Augen unberechtigte Wahlwiederholung das Bundesverfassungsgericht zu bemühen versuchen. Solche Versuche, die politisch unbequeme Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs vom Tisch zu wischen, haben aber keine Erfolgsaussichten. 

Denn zum einen hat sich das Bundesverfassungsgericht bereits 1999 aus der Kontrolle von Fehlern bei Landtagswahlen zurückgezogen; die Länder sind (in der Diktion des Bundesverfassungsgerichts) „Verbände von Staatsqualität“ mit eigenen Verfassungen und eigenen Verfassungsgerichten, das Bundesverfassungsgericht führt nicht die „Rechtsaufsicht“ über den Berliner Verfassungsgerichtshof, sondern beide Verfassungsgerichte haben eben unterschiedliche Zuständigkeiten. 

Demgegenüber trifft man bis heute oft auf die Rechtsauffassung, das Bundesverfassungsgericht habe auch bei Landtagswahlen stets das letzte Wort. Diese Ansicht hat folgenden Hintergrund: Früher gab es in mehreren Bundesländern, zum Beispiel in Hessen und in Nordrhein-Westfalen, gar keine gerichtliche Überprüfung von Landtagswahlen, sondern das Wahlprüfungsverfahren wurde ausschließlich durch die Landtage geführt, die sich im Ergebnis natürlich immer selbst die eigene Legitimität bestätigten. Hiergegen ist in der Tat das Bundesverfassungsgericht eingeschritten, weil ohne die Möglichkeit einer Überprüfung durch ein unabhängiges Gericht selbst minimale rechtsstaatliche Standards verfehlt wurden. Heute gibt es aber in allen Bundesländern – wie eben auch in Berlin – die Wahlprüfung durch das Landesverfassungsgericht, damit hat es sich dann aber auch.

Zum anderen stünde einem Mitglied des Abgeordnetenhauses, das gegen die Wiederholungswahl das Bundesverfassungsgericht anrufen will, dazu einzig und allein die Verfassungsbeschwerde zur Verfügung. Die Verfassungsbeschwerde dient aber dem Schutz persönlicher, individueller Grundrechte; das mögliche „Recht“ eines Abgeordneten, sein Mandat nicht vorzeitig wieder zu verlieren, ist aber von Anfang an kein „Grundrecht“ (das dann ja jeder Mensch haben müsste), sondern es betrifft die organschaftliche Stellung des Abgeordneten in seiner Eigenschaft als Teil der Legislative. 2010 hatte ein schleswig-holsteinischer Landtagsabgeordneter gegen die durch das Landesverfassungsgericht angeordnete vorgezogene Neuwahl des Landtages Verfassungsbeschwerde eingelegt; diese wurde aber durch das Bundesverfassungsgericht als offensichtlich unzulässig nicht zur Entscheidung angenommen. Ähnlich würde es möglichen Verfassungsbeschwerden von Mitgliedern des Abgeordnetenhauses ergehen.

Übrigens: Die Regierende Oberbürgermeisterin Giffey hat ja alsbald nach der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs namens des Senats geäußert, dieser werde keine „Beschwerde“ einlegen, sondern den Richterspruch akzeptieren. Das ist nobel und demokratisch gedacht – indessen hat der Senat von vornherein keine Möglichkeit der „Beschwerde“ gegen Urteile des Berliner Verfassungsgerichtshofs – bei wem wollte er sich auch „beschweren“? Einen „Oberverfassungsgerichtshof“ gibt es eben nicht.

Zweitens: Über den Umfang der Wiederholungswahl zum Bundestag entscheidet das Bundesverfassungsgericht.

Das Berliner System, nach dem die Wahlüberprüfung gleich und von Anfang an Aufgabe des Landesverfassungsgerichts ist, ist eine Ausnahme. In allen anderen Bundesländern wie auch im Bund ist die Wahlprüfung hingegen zweistufig angelegt: Zuerst entscheidet das betroffene Parlament selbst auf Vorschlag seines Wahlprüfungsausschusses, und gegen dessen Entscheidung kann dann das Verfassungsgericht angerufen werden. Das zweistufige System entspricht einer langen Tradition, ist aber völlig sinnlos. Denn ein frisch gewähltes Parlament, das also in eigener Sache entscheidet, wird sich selbst nie die Legitimation absprechen. Nicht von ungefähr wird also heute erwogen, das einstufige Berliner System auch im Bund einzuführen (wofür Artikel 41 des Grundgesetzes geändert werden müsste). Man sollte es nicht für möglich halten, aber: Das Entwicklungs-Bundesland Berlin, diese Exklave der Dritten Welt auf deutschem Boden, hat das beste und fortschrittlichste Wahlprüfungsrecht in Deutschland!

Gegen die Bundestagswahl 2021 sind insgesamt 2.121 Wahleinsprüche beim Wahlprüfungsausschuss des Deutschen Bundestages eingegangen, zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik hat auch der Bundeswahlleiter Einspruch eingelegt. Die meisten dieser Einsprüche thematisieren das Berliner Wahlchaos; andere wurden aber auch aus ganz anderen Gründen, zum Beispiel dem enorm hohen Briefwähleranteil, erhoben. Über diejenigen Wahleinsprüche, die sich auf das Berliner Wahlchaos beziehen, hat der Deutsche Bundestag auf entsprechende Empfehlung des Wahlausschusses am 10. November 2022 nun beschlossen, dass eine Wahlwiederholung zwar mit beiden Stimmen, aber nur in 431 Wahllokalen, stattfinden soll. Da jeder Einspruchsführer gegen diesen Beschluss binnen zweier Monate, also bis zum 10. Januar 2022, Wahlprüfungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erheben kann, steht es außer Frage, dass über den Umfang der Wiederholung auch der Bundestagswahl in Berlin nun das Bundesverfassungsgericht entscheiden wird. Die Wiederholung der Bundestagswahl – ganz oder teilweise – wird mithin zu einem viel späteren Zeitpunkt als die Wiederholung der Wahlen zum Abgeordnetenhaus bereits im Februar 2023 stattfinden.

Wie das Bundesverfassungsgericht in der Sache entscheiden wird, ist völlig offen. Vorgänge wie das Berliner Wahlchaos – die nach einer Äußerung des Bundesverfassungsrichters Peter Müller an die Zustände in diktatorischen Entwicklungsländern denken lassen – hat es bisher noch nicht gegeben, weswegen die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Wahlprüfungsrecht unter Umständen nicht ohne weiteres auf diesen Fall übertragen werden kann. 

Ob der Verfassungsgerichtshof Berlin mit seiner Entscheidung juristisches Neuland betreten hat oder nicht, ist strittig geblieben. Der Verfassungsgerichthof geht davon aus, (1) dass die zahlreichen bekanntgewordenen Wahlfehler vermutlich nur die „Spitze eines Eisberges“  seien, und (2) dass Ungewissheiten und die nachträgliche Unaufklärbarkeit tatsächlicher Umstände gegen die Gültigkeit der Wahl sprechen und nicht etwa dafür. Die Senatsverwaltung für Inneres hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Verfassungsgerichtshof durch eine bekannte Bonner Rechtsanwaltskanzlei vehement vortragen lassen, diese Herangehensweise widerspreche der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Wahlprüfungsfragen. Der Verfassungsgerichtshof weist dies in seiner Entscheidung explizit zurück.

Nebenher bemerkt: Wie kann es eigentlich sein, dass die Senatsverwaltung für Inneres, für die Dutzende von Volljuristen mit Schwerpunktsetzung im öffentlichen Recht tätig sind, die einst nach dem im Beamtenrecht zwingenden Grundsatz der „Bestenauslese“ eingestellt worden sind, sich vor dem Verfassungsgerichtshof der Hilfe zweier Anwälte einer Boutique für öffentliches Recht bedienen muss, die – jedenfalls der Größenordnung nach – vermutlich rund 500 Euro pro Anwalt und Stunde berechnet?

Übrigens: Weiter ließ die Senatskanzlei für Inneres vortragen, der Verfassungsgerichtshof solle den Fall nicht selber entscheiden, sondern dem Bundesverfassungsgericht vorlegen. Eine solche rechtliche Möglichkeit bestand aber gar nicht. Man könnte an zwei Arten der Vorlage eines Rechtsfalles durch ein Landesverfassungsgericht beim Bundesverfassungsgericht denken: einmal die konkrete Normenkontrolle (Artikel 100 Absatz 1 GG). Diese ist einschlägig, wenn ein Gericht ein Gesetz anwenden müsste, das es für verfassungswidrig hält. Oder auch die Divergenzvorlage (Artikel 100 Absatz 3 GG). Diese kommt zum Zug, wenn ein Landesverfassungsgericht das Grundgesetz (aber auch nur dies!) anders auslegen möchte als ein anderes Landesverfassungsgericht zuvor. Aber weder die eine noch die andere Variante war hier gegeben; es geht um die Anwendung Berliner Landesrechts, das als solches niemand für verfassungswidrig hält.


In eigener Sache: Tichys Einblick will die Verfassungsmäßigkeit auch der Bundestagswahlen in Berlin nun durch das Bundesverfassungsgericht prüfen lassen; wir halten dafür, dass auch nach den Wahlprüfungsgrundsätzen im Bund eine komplette Wiederholung auch der Bundestagswahl im Bundesland Berlin erforderlich ist, da insofern keine anderen Maßstäbe gelten können als für die Wahl zum Abgeordnetenhaus. Denn beide Wahlen fanden gleichzeitig, in denselben Wahllokalen, in denselben Wahlkabinen statt – wenn sie denn überhaupt stattfanden und die Wähler nicht zum Beispiel wegen der langen Schlangen wieder nach Hause gegangen waren.

Deshalb hat Roland Tichy, Herausgeber von TE, entschieden, eine Initiative zu gründen, die die Wiederholung der Bundestagswahl in allen Berliner Bezirken einklagen wird. Die Klage vor dem Bundesverfassungsgericht wird von dem namhaften Verfassungsrechtler Ulrich Vosgerau in Karlsruhe im Namen von zwei Tichys-Einblick-Lesern geführt. Unsere Leser haben bereits mit einer Formulierungshilfe von TE Antrag auf Wahlwiederholung gestellt und sind damit klageberechtigt. Die Klagefrist läuft am 10. Januar 2023 ab. Die Finanzierung hat „Atlas – Initiative für Recht und Freiheit“ übernommen.

Unterstützen Sie bitte die Öffentlichkeitsarbeit dieses Vorhabens.

Für Spenden haben wir bei der Commerzbank Köln das Konto mit der IBAN DE14 3704 0044 0543 2000 02 eingerichtet (Empfänger: TE Sonderkonto Rechtsstreitigkeiten). 

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