Tichys Einblick
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Europa: Small is beautiful

Die EU steht am Scheideweg. Muss die Antwort auf den Brexit mehr Zentralisierung sein? Laufen kleine politische Einheiten in Zeiten der Globalisierung Gefahr, abgehängt zu werden? Braucht es nicht mehr denn je die Ausnutzung von Größenvorteilen in der Politik?

© Andreas Solaro/AFP/Getty Images

Die Mehrheitsmeinung in Politik und Medien lautet: Größer ist immer besser. Langfristig gebe es gar keine Alternative zu einem EU- Staat. Man müsse nur warten, bis die Menschen reif genug seien. Auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker stieß auf der Münchner Sicherheitskonferenz in das Zentralisierungshorn. Mit (militärischer) Kleinstaaterei werde Europa untergehen.
Nun, das kann man auch anders sehen. Erstens ist Großstaaterei aus historischer Sicht uneuropäisch. Weder Karl dem Großen noch Napoleon, Stalin oder Hitler gelang es, dauerhaft einen europäischen Riesenstaat zu errichten. Gott sei Dank; denn historisch hat gerade die politische Fragmentierung Europa groß gemacht, wie der Historiker Eric Jones dargelegt hat.

Europa war durch das Erbe der Antike und das Christentum zwar kulturell eine Einheit, politisch jedoch fragmentiert. Mit Hunderten unabhängigen und miteinander konkurrierenden Einheiten. Durch diese einzigartige Konstellation konnte die Idee der Freiheit ihre volle Blüte entfalten und Europa als erster Kontinent die Massenarmut überwinden. Das politisch fragmentierte Europa setzte sich kulturell und wirtschaftlich an die Weltspitze.

„Euromantiker“ wollen Großstaat

Im Gegensatz zu Europa entstanden in Asien Riesenreiche in Persien, China oder Russland. Die politischen Führer konnten eine ungeheure Macht auf sich konzentrieren. Die Freiheit der Menschen blieb auf der Strecke. Umso erstaunlicher, dass die europäische Politelite auf einen EU-Zentralstaat hinarbeitet. Denn das meint sie, wenn sie „mehr Europa“ fordert. Nüchtern betrachtet, wollen die „Euromantiker“ asiatische Verhältnisse für Europa. Nur nennen sie das nicht so. Verlogen wird es dann, wenn sie diejenigen, die sich gegen die EU-Zentralisierung wehren, als Europaskeptiker beschimpfen. Die wahren Skeptiker sitzen in Brüssel.

Zum Gründungsmythos der EU gehört, dass der Frieden am besten durch einen EU-Staat gesichert werden kann. Dabei wird gänzlich unterschlagen, dass die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg durch die nukleare Abschreckung geprägt war. Weder theoretisch noch historisch lässt sich belegen, dass Großstaaten friedlicher sind als Kleinstaaten. Großstaaten können es sich viel eher erlauben, aggressiv zu sein, als Kleinstaaten. Meist mischen sie ganz aktiv in der Weltpolitik mit.

Für Kleinstaaten ist ein unbehinderter Handel überlebenswichtig. Liechtenstein benötigt offene Grenzen, weil es einen Großteil seiner lebenswichtigen Güter importiert. Wird der Handel aufgrund eines Krieges gestört, leidet Liechtenstein sofort unter erheblichen Wohlfahrtseinbußen. Großstaaten sind autarker. Die USA können sich Kriege erlauben, weil sie viele Güter im eigenen Land produzieren. Und in der Tat hat Liechtenstein seine Bevölkerung im 20. Jahrhundert besser geschützt als die USA, die Hunderttausende Kriegstote zu verzeichnen hatten.

Auch die deutsche Reichsgründung 1871 ließ einen Großstaat entstehen, der in der Weltpolitik mitmischen wollte und Kolonialambitionen entwickelte. Die zuvor bestehenden deutschen Kleinstaaten hatten keine Kolonien. Und auch bei der Friedenssicherung versagte das Reich. Millionen verloren ihr Leben im Ersten Weltkrieg.

Goergens Feder
Die offene Gesellschaft ist nachhaltiger
Zur Zeit der deutschen Kleinstaaterei wurde das politisch fragmentierte, aber kulturell und wirtschaftlich aufblühende Deutschland als Land der Dichter und Denker weltberühmt. Großdeutschland erlangte später den zweifelhaften Ruf als Land der Richter und Henker. Es schaudert einen, wenn Juncker heute wieder für militärische Großstaaterei plädiert. Der vielleicht größte Nachteil von Großstaaten ist, dass sie systematisch den politischen Wettbewerb verringern. Denn je größer die Staaten, desto weniger Wettbewerber (andere Staaten) gibt es insgesamt und desto entfernter ist die Grenze des Nachbarstaats. Die Kosten des Abstimmens mit den Füßen steigen. Sind die Staaten klein, ist die nächste Grenze nah, und die Nachbarstaaten sind wahrscheinlich kulturell ähnlich. Der Wettbewerb zwingt Kleinstaaten, für die Bürger attraktiv zu sein. Steuern und Freiheitbeschränkungen werden abgebaut, damit die Leistungsträger nicht abwandern.

Ein Kleinstaat kann seine Bürger auch nicht mit hohen Steuern und totalitären Vorschriften gängeln. Sonst entleert er sich. Etwa so, wie sich die DDR entleert hätte, wenn die Mauer nicht die Abstimmung mit den Füßen und den Auszug in die nahe und kulturell sehr ähnliche Bundesrepublik unterbunden hätte. Je kleiner die Staaten, desto mehr Freiheit. Die Politikeliten in Brüssel fürchten diesen Freiheitswettbewerb und damit um ihre Steuereinnahmen. Sie wollen ein Steuerkartell.

Informationsproblem potenziert sich

Politiker und zentrale Planer haben nach Friedrich Hayek ein Informationsproblem. Sie kennen die Ziele und Mittel der Bürger einfach nicht. Angela Merkel kennt die persönlichen Ziele und Möglichkeiten der Deutschen nicht; sie soll aber die Gesellschaft voranbringen. Dass das unmöglich ist, liegt auf der Hand. Ein staatlicher Planer verfügt einfach nicht über die Informationen, die notwendig sind.

Dieses Informationsproblem ist nicht unabhängig von der Staatsgröße. Je weiter der Politiker von den Bürgern entfernt ist, desto weniger wird er über ihre wahren Bedürfnisse und Wünsche Bescheid wissen. Er wird in seinem Regierungsviertel zunehmend in einer Blase leben, in die nur verfälschte, gefilterte und veraltete Informationen gelangen. So wundert es nicht, wenn man sich gegenseitig im Bundeskanzleramt auf die Schultern klopft. Je größer der Staat ist, desto schwieriger wird es werden, die Ziele und Wünsche der Menschen unter einen Hut zu bringen. Es wird zwangsläufig zu Enttäuschungen und Konflikten kommen.

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Dem Recht gehört der Primat, nicht der Politik
Die Entfernung zum Bürger hat auch Auswirkungen auf Verschwendung, Korruption und Bürokratie. Durch die Nichtgreifbarkeit entstehen plötzlich Spielräume, die Politiker und Bürokraten auszunutzen wissen. Wenn auf Gemeindeebene ein Bürgermeister Geld bei einem Projekt verschwendet, fällt das ins Auge. Die Bürger können den Bürgermeister zur Rede stellen. Auf EU-Ebene sieht das anders aus. Die meisten Bürger wissen gar nicht, was vor sich geht. Also werden sie sich auch nicht in den Zug setzen, um nach Brüssel zu fahren und einen der 751 Abgeordneten zur Rede zu stellen. In der bürokratischen Masse geht die Verantwortung unter. Niemand ist es gewesen.

Ähnliches gilt für die gefräßige Bürokratie. Nur auf lokaler und regionaler Ebene können die Bürger sie kontrollieren. Fordert das örtliche Tourismusbüro eine Budgetverdopplung, können die Bürger noch einigermaßen überprüfen, ob das gerechtfertigt ist. Aber wie sollen sie beurteilen, ob der gesellschaftliche Nutzen einer Budgetverdopplung für das European Institute for Gender Equality die Kosten übersteigt? Die meisten EU-Bürger werden das European Institute for Gender Equality noch nicht einmal kennen. Dadurch steigt der Spielraum derartiger Institutionen, immer weiter und weiter zu wachsen.

Wohin sollte der Weg also führen? Großstaatenfans und Politiker irren jedenfalls. Eine EU-Kommission braucht Europa für sein Wohl nicht. Europa sollte sich auf das besinnen, was es groß gemacht hat, nämlich friedlich miteinander konkurrierende Kleinstaaten: „Small is beautiful“.

Philipp Bagus ist Erasmus-Student und Diplom-Volkswirt, ist Professor für soziale und juristische Studien im Department of Applied Economics an der Universidad Rey Juan Carlos, Madrid. 2016 erhielt er den Förderpreis der Ludwig Erhard Stiftung. – Andreas Marquart und Philipp Bagus: Warum kleinere Staaten einfach besser sind.