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Ökonom Stefan Homburg: Deutschland sollte den Lockdown beenden

Der Befund über die Corona-Politik der Bundesregierung ist höchst beunruhigend: Sie hat sich den apokalyptischen Hypothesen von Virologen ausgeliefert. Jetzt wird die Kehrseite des Lockdown deutlich: Die Maßnahmen überschießen und kosten mehr Leben als sie retten. Von Stefan Homburg

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Fühlen Sie sich gut regiert? Zweifel an guter Regierungsarbeit entstehen meist nicht autonom, sondern werden durch eine kritische Presseberichterstattung geweckt; durch Arbeit der Opposition, die den Finger in die Wunde legt, im Parlament unangenehme Fragen stellt und in den Talkshows Contra gibt; oder durch Demonstranten, die unter freiem Himmel bekunden, dass sie mit dem Regierungshandeln nicht einverstanden sind. All dies existiert im Moment nicht mehr: Demonstrationen und Plenarsitzungen sind verboten, die Opposition wurde komplett ins Boot geholt; und die Medien überbieten sich seit Wochen in seltsamer Uniformität mit einer Sensationsmache, die jeden Zweifel daran ausräumt, dass der chinesische Weg der Politik auch für Deutschland richtig ist.

Gewöhnlich werden Regierungen daran gemessen, ob die von ihnen gewählten Mittel zu den verfolgten Zielen passen. Schaut man genau hin, was die Bundesregierung mit ihren beispiellosen Maßnahmen erreichen will, ist der Befund beunruhigend. Anfangs wurde der Lockdown mit dem Ziel begründet, die Verdopplungszeit – also die Zeit, in der sich die Coronadiagnosen verdoppeln – zu verlängern, damit sich das Virus langsamer ausbreitet und das Gesundheitswesen nicht überlastet wird. In ihrem Podcast (ab Minute 04:00) vom 28. März wiederholte Bundeskanzlerin Angela Merkel dieses Mantra und meinte, die Verdopplungszeit müsse von anfangs zwei bis drei „in Richtung von zehn Tagen gehen“, bevor der Lockdown aufgehoben werden könne. Scheinbar eine klare Ansage.

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Nach Zahlen der Johns Hopkins Universität stieg die Verdopplungszeit in Deutschland schon zwei Tage nach Merkels Podcast auf 10,1 Tage. Das von der Bundeskanzlerin vorgegebene Ziel war erreicht und sogar übertroffen. Wurde der Lockdown aufgehoben? Natürlich nicht, vielmehr erkletterte Kanzleramtschef Helge Braun die Bühne und verlautbarte, nötig sei eine Verdopplungszeit von zehn oder besser vierzehn Tagen. Angelsachsen haben hierfür einen trefflichen Ausdruck parat: „pretend and extend“.

Noch irritierender erscheint der jüngste Auftritt des Chefs des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler. Nein, dabei geht es nicht um seine unglücklichen Rochaden zur Frage, ob Gesichtsmasken nun hilfreich seien oder nicht, sondern um etwas ungleich Wichtigeres, nämlich die aktuelle Reproduktionszahl der Coronainfektion. Die Reproduktionszahl (von Wieler fälschlich als Rate R0 bezeichnet) gibt an, wie viele weitere Personen eine infizierte Person ansteckt. Ist die Reproduktionszahl gleich Zwei, steckt jeder Infizierte zwei weitere an, diese stecken vier weitere an, und die Infektionen wachsen exponentiell. Genau diese Gefahr bildete den Legitimationsgrund für den Lockdown. Am 3. April erklärte Wieler (ab Minute 13:15), man habe die Reproduktionszahl auf Eins gedrückt, das wisse man.

Damit stellte er fest, die Gefahr eines exponentiellen Wachstums sei abgewendet, die Gesamtfallzahl wachse nunmehr linear. Hierdurch entsteht ein Flussgleichgewicht, wobei jeden Tag so viele Fälle neu hinzukommen wie Fälle aus den Vortagen nach Gesundung oder Versterben wegfallen. Die Anzahl der Patienten bleibt konstant, und die Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems besteht nicht. Kann der Lockdown somit beendet werden? Keinesfalls, so Wieler, weil man die Reproduktionszahl jetzt unter Eins drücken wolle. Damit wird das Eindämmungsziel ersetzt durch ein Ausrottungsziel, denn bei Reproduktionszahlen unter Eins verschwinden Viren allmählich.

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Insgesamt stellt sich die Kommunikation der Bundesregierung als unwahrhaftig dar. Ihre wirklichen Beweggründe teilt die Regierung nicht mit, wohl weil sie die Bevölkerung nicht beunruhigen will. Die wirklichen Beweggründe finden sich in einem alarmistischen Papier des RKI, das ohne geeignete Datengrundlage mehrere Szenarien durchspielt und 300.000 bis 1.700.000 Todesfälle in Deutschland annimmt. Zum Vergleich: Von China wurden insgesamt gut 3.000 Todesfälle berichtet, von Südkorea knapp 200. Der Erstautor des RKI-Papiers trat übrigens letzten Sommer mit der Behauptung in Erscheinung, die europäischen Hitzewellen würden bis zu 70.000 Tote fordern. Weitere wichtige Berater der Bundesregierung sind die Virologen Alexander Kekulé und Christian Drosten. Kekulé plädierte schon 2009 im Zusammenhang mit der Schweinegrippe dafür, Schulen und Kitas geschlossen zu halten, die er als „Drehpunkte einer Pandemie“ sah. Selbst nachdem sich die Schweinegrippe als Hype entpuppt, den Steuerzahler aber hunderte Millionen Euro für nutzlose Impfstoffe gekostet hatte, phantasierte Drosten (ab 27:30) von möglichen Vereinigungen der Schweine- und Vogelgrippenviren, die gefährlich werden könnten.

Auf den ersten Blick erscheint es human, mögliche Todesfälle durch Corona, Grippe oder Hitzewellen auszurotten, auch wenn die Betroffenen durchweg sehr alt sind, an anderen Erkrankungen leiden und in Abwesenheit dieser Auslöser ohnehin verstorben wären. Aber wie soll man dann mit Verkehrstoten oder den Opfern von Arbeits- und Freizeitunfällen umgehen? Will man konsequent alle Todesfälle eliminieren und die Lebenserwartung so weit wie möglich hochschrauben, hilft nur eines, nämlich das Einfrieren der Gesamtbevölkerung nach Art vieler Science-Fiction-Filme.

Betrachtet man umgekehrt die Kehrseite des Lockdown, so wird klar, dass die Maßnahmen überschießen und mehr Leben kosten als retten. Betroffen sind zunächst Krebs- und Herzpatienten, die wochen- oder monatelang auf eine Operation gewartet haben und jetzt nicht behandelt werden, weil die Regierung den apokalyptischen Prognosen ihrer Berater geglaubt und verschiebbare Operationen untersagt hat – als ginge es dabei um Nasenkorrekturen. Versterben die Nichtoperierten, dürfen sie nicht einmal von ihren Angehörigen und Freunden beerdigt werden. Auch die Zahl der Suizide wird aller Voraussicht nach stark steigen, wie es in Rezessionen regelmäßig passiert. Und das Gesundheitswesen wird vermutlich nicht mehr Geld erhalten, sondern weniger, weil Deutschland den Anteil der Gesundheitsausgaben an der Wirtschaftskraft nicht beliebig steigern kann und diese Wirtschaftskraft durch den Lockdown einbricht; die resultierenden Einschränkungen im Gesundheitssystem werden weitere Menschenleben kosten.

Es geht bei der Beurteilung folglich nicht in erster Linie um einen Zielkonflikt „Leben versus Kommerz“, wie oft behauptet, sondern um „Leben versus Leben“.

Worin könnte der Nutzen des Lockdown bei einer Reproduktionsrate von Eins bestehen? In der Vermeidung von Todesfällen jedenfalls nicht, denn die Zahl der „Corona-Toten“ ist maßlos übertrieben. Das RKI zählt als „Corona-Toten“ jeden Verstorbenen, der mit dem Coronavirus infiziert ist, unabhängig von der Todesursache. In Schleswig-Holstein war der erste „Corona-Tote“ ein 78jähriger Palliativpatient mit Speiseröhrenkrebs im Endstadium, der wenige Tage vor seinem Tod getestet wurde. Nur 2 Prozent der Infizierten leiden an einer Lungenentzündung, wobei selbst deren Ursache unklar ist und ebenso durch andere Viren, Bakterien oder Pilze versursacht sein kann. Die Gesamtsterblichkeit, die wöchentlich vom Europäischen Mortalitätsmonitor erhoben wird, um Infektionswellen rasch zu erkennen, ist geringer als während der Infektionswellen der Vorjahre; es gibt keine Übersterblichkeit. Zu diesem Befund passt die starke Unterauslastung der deutschen Notaufnahmen und Intensivstationen. Etliche Kliniken planen derzeit die Einführung von Kurzarbeit.

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Wahrscheinlich wäre der Hype um Corona ohne die schrecklichen Bilder aus Norditalien nie entstanden. Aber niemand fragt, wie es dort in den Vorjahren aussah. Die Luftqualität in Norditalien ist die schlechteste in Europa, Atemwegserkrankungen treten dort besonders häufig auf. Und das Gesundheitssystem war auch in den Vorjahren regelmäßig überlastet: Hier berichtet der Bergamo-Kurier über einen 24jährigen, der von sämtlichen Intensivstationen wegen Überlastung abgewiesen wurde und hernach verstarb, weil auch ein Hubschraubertransport scheiterte. Dies ereignete sich im Jahre 2013.

Zusammengefasst ist der Lockdown in keiner Weise gerechtfertigt: Die Bundesregierung nimmt den Tod anderweitig Erkrankter bewusst in Kauf, sie verbietet Angehörigen die Bestattung, hat die ohne Gesetzesvorbehalt gewährte Freiheit der Religionsausübung abgeschafft und zerstört unzählige Existenzen und Karrieren. Der Mittelstand, Rückgrat der deutschen Wirtschaft, hängt am Subventionstropf. Auf der anderen Seite war Regieren, in Abwesenheit nörgelnder Demonstranten, Abgeordneter und Journalisten, noch nie so einfach wie jetzt. Xi JinPing, der dem auf Rechtsstaat und Demokratie so stolzen Westen eine Harke gezeigt hat, lässt grüßen und freut sich über die weltweite Verbreitung des chinesischen Politikmodells. Beendet den Lockdown jetzt, sofort!


Eine Anmerkung zur Verdopplungszeit: Es gibt verschiedene Näherungsformeln, mit denen wohl auch die Bundesregierung operiert. Dem Text liegt die exakte Formel zugrunde: V = ln(2)/ln(Dt/Dt-1). Mit den von der Johns Hopkins University angegebenen Zahlen Dt = 66.885 für den Tageswert und Dt-1 = 62.435 für den Vortageswert erhält man 10,1.


Prof. Dr. Stefan Homburg ist Professor am Institut für Öffentliche Finanzen der Leibniz Universität Hannover. 

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