Tichys Einblick

Inklusion oder Mythos der Gleichheit

Wenn ich meine letzten drei Lehrerpatienten Revue passieren lasse, ist die Ursache für die psychische Symptomatik eindeutig „von oben verordneter Unsinn“.

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Klar, Lehrer stöhnen. Wie fast alle Berufstätigen. Ursachen: Mal hausgemacht, mal wegen von oben verordnetem Unsinn, und die objektive Arbeitsbelastung wird in nicht gerade wenigen Fällen einfach zu hoch sein. Als Neurologe und Psychiater bin ich seit 12 Jahren in eigener Praxis tätig. Wenn ich meine letzten drei Lehrerpatienten Revue passieren lasse, ist die Ursache für die psychische Symptomatik eindeutig „von oben verordneter Unsinn“. Beispiel Janet K., 32 Jahre, fing vor sieben Jahren noch hochmotiviert an, aber schon nach zwei Jahren entwickelten sich Schlafstörungen, Reizdarmsyndrom, Erschöpfung, Antriebsarmut sowie Lust- und Interesselosigkeit. Das nennt man Depression. Eine berufliche Neuorientierung ist für sie kein Gedankenspiel mehr, wahrscheinlich wird sie auch guten Gewissens auf den sicheren Beamtenstatus verzichten.

Das wird Monika K., 52 Jahre, zwar nicht, aber auf eine vorzeitige Dienstunfähigkeit wird es bei ihr wahrscheinlich hinauslaufen. Sie leidet seit Jahren unter Fibromyalgie, Übelkeit und Brechreiz ohne organische Ursache, Nervosität und Anspannung. Zusätzlich befindet sie sich bei einem Psychotherapeuten in Behandlung. Der habe gesagt: „Wenn Sie das Problem nicht lösen können, lösen Sie sich von dem Problem“. Ein weiser Ratschlag, der hier so hilfreich ist wie die Lektüre von Rainer Maria Rilke zur Reparatur einer Reifenpanne.

Und Norbert S., 62 Jahre, macht nur noch Dienst nach Vorschrift, hat resigniert und ist zum Zyniker geworden. Eine spezielle Verlaufsform der inneren Kündigung. Die ein bis zwei Jahre bis zur Pension halte er auch noch durch.

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Schulische Inklusion, ein weiterer Irrtum
Der verordnete Unsinn, unter den meine Patienten leiden, heißt Inklusion und ist die zunehmende Ursache für Depressionen bei Lehrern. Manchem hilft die Verordnung eines Antidepressivums. Diese Substanzgruppe bewirkt nicht nur eine Stimmungsaufhellung, in gar nicht so seltenen Fällen gehören Emotionslosigkeit und Gleichgültigkeit zum Nebenwirkungsspektrum. Gleichgültigkeit, um den Irrsinn der Inklusion besser zu ertragen. Kleiner historischer Exkurs. Als der Girondist Pierre Vergniaud 1793 während der französischen Revolution zum Schafott geführt wurde soll er gesagt haben: „Die Revolution frisst ihre Kinder“. Fast könnte man heute sagen: Die Inklusion frisst ihre Lehrer. Doch die Analogien zur französischen Revolution sind weit tiefgründiger, als es zunächst erscheint. Schon damals ging es um die Gleichheitsideologie, die nun dabei ist, alle Lebensbereiche zu erobern. Das Mantra der Unterschiedslosigkeit hat einen nicht unerheblichen Vorlauf von knapp 230 Jahren. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – so schallte es 1789 durch die Pariser Gassen. Das klappte schon damals nicht, denn Freiheit und Gleichheit sind kategorisch unvereinbar. Wenn alle Menschen nicht nur die gleichen Rechte haben (so war es ursprünglich gemeint, danach kam nur noch Verdünnung und Verwässerung dieser ursprünglich guten Idee), sondern ihnen in vermeintlicher aber eben falscher Analogie auch die gleichen Fähigkeiten und Bedürfnisse unterstellt und die entsprechend behandelt werden, dann sind sie nicht mehr frei.

Wenn alle ihre individuellen Anlagen, Bedürfnisse und Interessen ausleben, dann sind sie nicht mehr gleich. Die herrschende Doktrin soll aber in Richtung gleich gehen, womit sie gleichzeitig in Richtung einer fixen Idee marschiert. Hegels Satz „Und wenn eine Theorie mit der Realität nicht übereinstimmt, umso schlimmer für die Realität“, drängt sich da förmlich auf. Überhaupt, was interessieren schon Realitäten? Einmal in der Gleichheitspsychose angekommen, existiert auch keine Behinderung mehr. Schon das Wort ist eine Zumutung, eine Diskriminierung sowieso. Dementsprechend dürfen Kleinwüchsige nach der Vorstellung der amerikanischen Political correctness nicht mehr als solche bezeichnet werden, da dies eine Diskriminierung impliziere. Stattdessen wurde der Begriff „vertically challenged people“ vorgeschlagen, wegen der bei Kleinwüchsigen physiologischerweise häufiger auftretenden vertikalen Kopfbewegungen. Statt Behinderte soll es heißen „Menschen mit besonderen Eigenschaften“. So besonders, dass der Besuch in einer Regelschule als Rechtsanspruch quasi in der Luft liegt. Die betreuenden Lehrer haben oftmals keine sonderpädagogische Erfahrung und füllen zusehends die psychotherapeutischen und nervenärztlichen Sprechstunden. Die Diagnosen lauten nicht Demenz oder Paranoia, die psychischen Beschwerden im Sinne von Erschöpfung und Nervosität, Schlafstörungen und Reizbarkeit führen zu keiner Wahrnehmungsstörung, im Gegenteil, diese ist sehr gut erhalten.

Außerdem: teuer und kaum Nutzen
Ganztagsschule ist Entschulung von Schule und Verschulung von Freizeit
Als niedergelassener Nervenarzt habe ich schon zahlreiche Lehrer mit unterschiedlichsten Persönlichkeiten in der Sprechstunde gehabt. Aber wenn das Thema auf Inklusion kam, gab es immer nur eine uniforme Reaktion: Nach oben rollende Augen in Verbindung mit dem Satz: „Das geht doch gar nicht, ist einfach nicht zu schaffen“. Nicht nur die Mitbürger, auch die Schüler würden immer komplizierter. Ein allmählicher Niveauverlust mache sich breit. Unterstützt wird ihre Wahrnehmung durch Bernd Ahrbeck, Inklusionsforscher und Professor für Verhaltensgestörtenpädagogik an der Humboldt-Universität in Berlin: „Inklusion könnte das Bildungssystem langfristig ruinieren, wenn die Grenzen des Möglichen und Sinnvollen nicht gesehen werden“. Diese zu sehen, ist offensichtlich nicht gewünscht, genauso wie Unterschiede nicht gesehen werden sollen. Doch sie sind da. Schließlich ist es kein Zufall, dass es bspw. eine personalisierte Medizin gibt,wo zunehmend mit Gen- und Enzymanalysen genau das Medikament ausgesucht wird, das optimal auf die spezifischen biochemischen Eigenheiten des jeweiligen Patienten abgestimmt ist. Welches Antidepressivum für welchen depressiven Patienten, welches Zytostatikum für welchen onkologischen Patienten – diese Fragen können in Zukunft immer besser beantwortet werden. Die Frage, welche Lernbehinderung welcher spezifischen Fördermaßnahme bedarf, kann größtenteils schon lange gut beantwortet werden. Überhaupt nicht gut beantwortet werden kann die Frage, ob Inklusion hilft. Wenn die Studien wenigstens eine eindeutige positive Wirkung nachweisen könnten. Aber genau das tun sie eben nicht. Das Ergebnis insgesamt ist: Fragliche Wirkung. Unstrittig sind nur die enormen Kosten.

Im internationalen Vergleich hat Deutschland auch weiterhin ein gutes bis sehr gutes System der Förderschulen. Inklusion ist derzeit das Paradebeispiel für eine linksideologische Verzückung, die jenseits des Realitätsprinzips von oben nach unten durchgedrückt werden soll. Egal um welchen Preis.

Vernichtende neue Schulstudie
In der Grundschule Abgründe von Nichtkönnen
Was den Alltag der Inklusion angeht, so verirren sich manchmal linksideologisch verzauberte Politiker in diese Niederungen des pädagogischen Daseins. Konfrontiert mit der Kritik an der Inklusion lautet ihre häufigste Entgegnung an die Adresse der Lehrer: Sie müssen Ihre Einstellung ändern. Das ist die Arroganz der Macht. Die Hegel’sche Maxime von der abzustrafenden Realität und der betörenden Theorie wurde glänzend verinnerlicht. Aber wahrscheinlich liege ich völlig verkehrt und man wird bei mir demnächst eine Inklusionsphobie diagnostizieren. Mit Homo- und Islamophobie funktioniert das ja schon ganz gut, eine Debatte dadurch zu ersticken, in dem der Andersdenkende in subtiler bis offener Form als psychisch krank etikettiert wird. Doch durch Umetikettierung ist noch kein Problem gelöst worden. Goldstandard bleibt immer noch die Akzeptanz von Realitäten, die mit Unterschieden untrennbar verbunden sind. Wer in der Welt der Zukunft mit Unterschieden nicht klar kommt, ist erledigt.

Dr. Burkhard Voß, Autor von „Albtraum Grenzenlosigkeit“, ISBN 978-3-96079-031-0, Solibro Verlag