Tichys Einblick
Übergriffig und von bedingtem Nutzen:

Ist die EU-Mitgliedschaft noch im deutschen Interesse? Und ist die EU noch reformierbar? (Teil 2)

Ist die EU-Mitgliedschaft, in Deutschland fast schon als unumstößliche Tatsache und – wie so vieles in der aktuellen deutschen Politik – als „alternativlos“ gehandelt, tatsächlich noch von Vorteil und den enormen finanziellen Aufwand wert? Von Professor Dr. Georg Menz

IMAGO / NurPhoto
Eine übergriffige EU, die entweder keinen erkennbaren Nutzen oder aber geradezu anti-deutsche Politik generiert, braucht wohl niemand in Deutschland. Zu denken geben sollte indes, dass die SPD wie auch die beiden anderen Parteien am harten linken Rand, also die umlackierte SED und die andere sich derzeit stramm olivgrün gebende Gruppierung, geradezu fanatisch auf ein „Weiter so“ in Sachen Europapolitik pochen. Bedenkt man die dahinterstehende Position der Selbstverneinung und Selbstverzwergung, so nimmt dies auch nicht weiter Wunder. Gewiss: Noch in den 90er Jahren wurde das angebliche Europa der Bonzen und Banken von links kritisiert. Nur hat eben seitdem auch die deutsche Linke in Sachen politische Ökonomie weitgehend das Feld geräumt und ergeht sich lieber in Sachen Identitätspolitik, gleich ob in Fragen Gender oder Nationalität. Kritik an der vorgeblich neoliberalen Ausrichtung der EU? Schnee von vorgestern.

Übergriffig und von bedingtem Nutzen:
Ist die EU-Mitgliedschaft noch im deutschen Interesse? Und ist die EU noch reformierbar? (Teil 1)
Tatsächlich wäre eine Kritik an einer überzogen wirtschaftsfreundlichen Positionierung der EU heute aber insofern nicht mehr zeitgemäß, als sich derzeit eher das umgekehrte Problem stellt: Die EU hat eine wirre vulgärkeynesianistische Haltung entdeckt, mit allem, was dazu gehört. Ausdruck davon sind nebst anderem eine de facto Kapitulation vor den tiefsitzenden strukturellen wirtschafts- und wettbewerbspolitischen Problemen Südeuropas, der Weg in die Transfer- und Schuldenunion (also genau das, was Kanzler Kohl stets betont ausgeschlossen hatte und zwar dauerhaft), Staatsfinanzierung, üppige Gelddruckprogramme seit 2020 und wahnwitzige „Wiederaufbauprogramme“, ganz so, als sei in Europa gerade ein Krieg vorbeigegangen statt einer schlecht angegangenen Infektionskrankheit.

Einer der gebetsmühlenhaft wiederholten Behauptungen der EU-Apologeten ist, dass die Gemeinschaftswährung Deutschland wirtschaftlich hilft, weil die tendenziell darin enthaltene Deutsche Mark eher unterbewertet im Euro aufgegangen ist und die praktisch auf Null reduzierten Transaktionskosten in der Eurozone einer exportorientierten Nation das Leben stark vereinfachen. Nur ist dieses Argument eigentlich eine Milchmädchenrechnung sondergleichen, denn es berücksichtigt ja weder die enormen finanziellen Belastungen durch die Eskapaden der Europäischen Zentralbank, sei es durch eine Niedrigzinspolitik zuungunsten der Sparer, sei es durch de facto Staatsfinanzierung mittels des Aufkaufs praktisch wertloser mediterraner Staatsanleihen, oder die jahrelange Lohnzurückhaltung in Deutschland.

Der angebliche Vorteil des Euro ist also in mehrfacher Hinsicht teuer erkauft: Enteignung durch Niedrigzinsen, explosionsartige Entwicklung der Immobilienpreise, die zumindest teilweise das Verschulden der EZB sind, finanzielle Verbindlichkeiten für realistischerweise nicht mehr eintreibbare Verpflichtungen Südeuropas inklusive Frankreichs, und eine Mitbeteiligung an Staatsfinanzierungen durch die EZB. Grosso modo wird das Pendel in der EZB nie wieder Richtung ordoliberaler Ausrichtung ausschlagen, weil die Mehrheiten dort ganz klar einen mediterranen Ausschlag haben. Perspektivisch ist zwar mittelfristig ein Beitritt Polens oder Ungarns zur Eurozone nicht unmöglich, aber diese Länder können die Balance ebenfalls nicht kippen. Es ginge darum, die Fraktion um Deutschland, die Niederlande, Finnland und Österreich zu stärken, aber Kandidaten dafür sind in Mitteleuropa nicht zu erkennen.

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Der Euro ist aber nur ein Teil der Misere. Aus der eigentlich sinnvollen Idee, eine Zollunion, dann eine Freihandelszone und letztlich einen Binnenmarkt zu konstruieren, ist stattdessen eine Art dysfunktionaler Föderalstaat geworden, den wohl nur die wenigsten wollten und der aus deutscher Sicht eine völlig unsinnige Wegverirrung darstellt. Halten wir kurz inne: Für all diejenigen, die voll von Selbstverneinung dem deutschen Staat, ja der Nation jegliche Daseinsberechtigung absprechen wollen, ist ein Aufgehen Deutschlands als subalterne Einheit in einem monströsen Mega-Staat, der den Vereinigten Staaten von Europa nahekäme, erstrebenswert.

Wer in gar nicht so jungen Jahren unter und hinter einem Transparent herlief, in dem Deutschland als „mieses Stück Scheiße“ bezeichnet wird, weil ihm nichts anderes zur Wiedervereinigung einfiel als Fäkalsprache und Selbsthass und dafür Jahre später nicht etwa vereinsamt und auf „Bürgergeld“ in der Kreuzberger Hinterhofwohnung sitzt, sondern im Regierungsamt, der steht eben beispielhaft für den in der Linken tiefsitzenden Selbsthass. Man findet auf der Linken weitverbreitet die Narrative, dass ein eigenständiges Deutschland gar nicht wünschenswert oder erstrebenswert ist und dass die Zeit der Nationalstaaten ohnehin vorüber wäre. „Europäisch“ ist diese Haltung nebenbei bemerkt eigentlich gar nicht, sondern sehr deutsch; auch auf der Linken denkt man so in Frankreich oder Italien ganz sicher nicht.

Für alle anderen und vor allem für die deutschen Konservativen aber stellt sich die Frage: Warum genau gehört denn nun Deutschland abgeschafft und warum soll es in einer dysfunktionalen und letztlich sehr undemokratischen Frankenstein-Föderation aufgehen? Im ersten Teil haben wir gesehen, wie in zentralen Politikfeldern (also: Sozial-. Umwelt- und Einwanderungspolitik) der Mehrwert der EU für die nordeuropäischen Länder nur begrenzt, teilweise sogar negativ ist.

Statt auf immer mehr Zentralisierung und Kastrierung der Einzelstaaten zu setzen, gibt es aber noch eine logische und einfache Alternative. Ihr wollen wir uns im Folgenden zuwenden. Die Alternativ-EU ist zwar verstaubt, auf dem Papier existiert sie aber immer noch.

Ursprünglich als Gegen-EU von den Briten 1960 ersonnen, verschrieb sich die Europäische Freihandelsassoziation der engeren wirtschaftlichen Zusammenarbeit nebst dem Freihandel. Bewusst klammerte man aber die Errichtung eines megalomanischen Wasserkopfes à la Brüssel aus. Der Abbau von internen Handelsschranken – aber ohne gemeinsame Zollaußengrenze – genoss zentrale Priorität. Ein aggressiver Abbau der einzelstaatlichen Kompetenz in Fragen Wirtschafts- und Währungspolitik, Einwanderung, Umwelt- oder Sozialpolitik fand nie statt und war auch nicht vorgesehen. Die Assoziation hat ein kleines Sekretariat, aber weder Fahne noch Präsident, noch Entsorgungs- und Versorgungsstation für in Ungnade gefallene oder schlicht inkompetente nationale Politiker, zu der das sogenannte Europäische „Parlament“ ja längst mutiert ist. Kühle nordeuropäische Sachlichkeit also statt staatlich alimentiertem mediterranem Brimborium.

Die Liberalisierung des Handels verlief auch erfolgreich und verlangte keineswegs die angeblich notwendigen „flankierenden“ Maßnahmen, mit der die EU den Aufbau ihrer komplexen Regulierungsinstrumente, beispielsweise in Sachen Umwelt, zu legitimieren (oder: zu kaschieren?) suchte. Dass der Assoziation letztlich die Mitglieder davonliefen und die Briten selbst ihrer Kreation den Rücken zukehrten, kann und sollte nicht als Scheitern missverstanden werden. Damals winkte das mit der Europäischen Gemeinschaft assoziierte stärkere Wirtschaftswachstum als Anreiz, heute wird genau umgekehrt ein Schuh draus. In der EU stagniert das Wachstum, Norwegen und die Schweiz hingegen fahren nicht schlecht. Braucht Europa denn wirklich vergemeinschaftete Politik in zentralen Politkbereichen? Wäre es nicht sogar sinnvoller, eine gewisse Form des gegenseitigen Konkurrierens und Lernens voneinander zu fördern?

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Untersuchen wir kurz die Gegenargumente, die gegen die Zerschlagung der milliardenteuren Brüsseler Bürokratie und ihrem Regulierungswahn sprechen. Dass die synergetischen Effekte im Detail oft heillos überbewertet und überschätzt sind, haben wir ja bereits im ersten Teil gesehen. Um das Beispiel Umweltpolitik aufzugreifen, bestünde nicht im Falle der Abwicklung der EU in der jetzigen Form die Gefahr einer Abwärtsspirale in Sachen Umweltschutzpolitik? Im Klartext: Würde die deutsche Industrie nicht abwandern, und zwar nicht nach China, so wie sie es jetzt ohnehin schon tut, sondern in die Slowakei? Es war genau diese Form der Standortkonkurrenz, vor der sich die westdeutsche Großindustrie in den 80er Jahren zu Recht ängstigte. Nur: Ohne EU gibt es auch keinen sklavisch umzusetzenden Binnenmarkt, sondern nationale Produktbestimmungen können weiter aufrechterhalten werden. So müssen mexikanische Importe in die USA ja ebenfalls US-amerikanische Mindeststandards erreichen.

Einem Umwelt- und auch Sozialdumping sind also durchaus Grenzen auferlegt, es herrscht kein wirres und permissives Chaos. Ohne EU gibt es weiter keine millionenfache Einwanderung in die Sozialsysteme aus Südosteuropa, wo sich Rumänien und Bulgarien dankbar ihrer ungeliebten Roma entledigen und ihrer niedrigqualifizierten Arbeiterschicht gleich obendrauf. Dass trotz des Getöses um den angeblichen Facharbeitermangel sich osteuropäische Arbeitnehmer vornehmlich in niedrigqualifizierten Arbeitsmarktsegmenten konzentrieren, sollte zu denken geben. Von den auch für die Entsendeländer negativen Konsequenzen von Massenabwanderung wie „brain drain“ und Verödung ganzer Landstriche im Baltikum liest und hört man wenig in der deutschen linksliberalen Presse. Es war letztlich nicht zuletzt die Frage der Kontrolle über die EU-Einwanderung, die den britischen Cameron dazu bewegte, einen Volksentscheid zur EU-Mitgliedschaft abzuhalten, und viele Briten hielten die über 2 Millionen Bruttozuwanderer vom Festland seit 2004 schlicht für zu zahlreich.

Eine derart auf den Kern zurückgestutzte EU würde also mit einem Schlag viele der Verwerfungen und Probleme, die sie ja selbst geschaffen hat, wieder aus der Welt schaffen. Gleichzeitig kann der regulatorische Wettbewerb ja durchaus auch eine Aufwärtsspirale auslösen und nationale Mindeststandards lassen sich in der jetzigen EU ja eben gerade nicht aufrechterhalten, in einer Freihandelszone hingegen schon. Eine Freihandelszone ohne die sinistre Absicht, eine „ever closer union“ zu erreichen, hätte keinerlei Ambitionen, die nationale Souveränität mittels Salamitaktik stetig zu untergraben. Die toxische anti-demokratische Mentalität der derzeitigen EU, die der dubiose und grotesk inkompetente Ex-Präsident der EU-Kommission Juncker verkörperte, manifestiert sich etwa in seinem Ausspruch: „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, ob was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter.“ Genau damit hat es dann ein Ende – und dies kann der Demokratie in ganz Europa nur gut tun.

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Statt der diffusen Straßburger und Brüsseler Mischung aus Glücksrittern, nach oben Gescheiterten und verkorksten pro-Superstaat-Ideologen wie dem Belgier Verhofstadt oder dem geradezu parasitären deutschen Spesenritter Scholz, fänden sich im Sekretariat der Assoziation allenfalls eine kleine gutgeölte Verwaltung, die aber sich von Großmachtsträumen und Arroganz wohlweislich fernhielte. Die Verwaltung der Einhaltung der Feinhandelsbestimmungen benötigt nun mal keinen Wasserkopf und kein lachhaftes „Parlament“ mit drei Standorten. Freihandel statt überbordendem Etatismus – eine verlockende Vorstellung. Dass eine solche Freihandelszone keine gemeinsame Währung braucht, die unterm Strich mehr Probleme geschaffen als gelöst hat und viel böses Blut schuf, statt zu intermenschlicher paneuropäischer Zusammenarbeit beizutragen, liegt auf der Hand.

Ohne grotesk aufgedunsener EU braucht man auch kein überfrachtetes „Symbol“ dieser Integration und kann den Euro getrost abwickeln. Dass diese Währung langfristig gesehen ohnehin auf tönernen Füßen steht, dürfte in den letzten zehn Jahren überdeutlich geworden sein. Eine pragmatischere Aufteilung des Euro in Nord- und Süd-Eurozonen wäre freilich weiterhin denkbar. Der Zugewinn an nationalstaatlicher Gestaltungsmacht und Re-etablierung der Demokratie allein wäre die Sache allemal wert.

Ist die Freihandelszone realistisch? Nochmals: Dass die deutsche vom Selbsthass gezeichnete Linke mit Hand an der Hosennaht nach immer mehr Europa krakeelt, sollte zum Nachdenken anregen. Einfach sind solche Reformbestrebungen nicht und man würde sich zunächst ganz sicher nicht nur Freunde machen, auch und gerade in Südeuropa, aber auch, um es deutlich zu sagen in Mitteleuropa, wo der warme Subventionsregen viel zur Modernisierung und Renovation der Infrastruktur beigetragen hat. Ein Versiegen dieser üppigen Transferzahlungen würde ganz sicher keine Begeisterungsstürme auslösen: weder in Warschau noch in Rom. Aber langfristig wäre es durchaus auch für diese Länder von Vorteil, politisch wie wirtschaftlich auf eigenen Beinen zu stehen und neue Spielräume hinzuzugewinnen. Dass außerhalb Deutschlands die EU-Skepsis teilweise nicht nur konjunkturell, sondern richtiggehend verfestigt ist – und zwar oft in einer rechten wie linken Spielart – dürfte in diesem Zusammenhang relevant sein.

Die EU hatte vielleicht in der Nachkriegsära und im Kalten Krieg eine gewisse Daseinsberechtigung, heute ist sie zu einer unreformierbaren Monströsität verkommen. Wer ausscheren möchte aus der Einbahnstraße, sollte dies also bald tun. Es gibt aber sehr wohl eine gangbare Alternative. Die Neuadjustierung der Europa-Politik liegt also im ureigenen Interesse des deutschen citoyen, also des Staatsbürgers statt des Untertans. Zum Abtragen des Schutthaufens der düsteren Merkel-Ära gehört auch eine Neuausrichtung hin zu einem demokratieschonenden, freiheitlicheren und liberaleren Europa. Eine gangbare Alternative wurde in diesem Artikel aufgezeigt.


Georg Menz ist Professor für Internationale Politik an der Old Dominion University in Norfolk, Virginia, USA. Der Band „The Resistible Corrosion of Europe’s Center-Left after 2008“ ist in diesem Jahr bei Routledge in London erschienen.

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