Tichys Einblick
Gesundbeter allewege

Der merkwürdige Sieg von „Europa“

Die klassischen Großparteien (Sozialdemokraten und Christdemokraten) sind in den Niederlanden nicht mehr Regierungskräfte, sondern Mehrheitsbeschaffer. Ein Trend, der in Europa immer offensichtlicher geworden ist.

Dutch Prime Minister Mark Rutte shakes hands with Party for Freedom (PVV) leader Geert Wilders during a meeting of Dutch political party leaders at the House of Representatives to express their views on the formation of the cabinet, on March 16, 2017 in The Hague, Netherlands.

© Carl Court/Getty Images

Bereits am Tag vor der Wahl in den Niederlanden las ich Zeilen wie „Europa bangt“, oder Mahnungen von Twitteranten mit höchstens hundert Followern, welche die Nachbarn dazu aufriefen, „richtig zu wählen“. Nicht erst seit der US-Wahl existiert eine merkwürdige Stimmung in den Medien und mittlerweile auch in der gewöhnlichen Bevölkerung, anderen Ländern vorzuschreiben, was diese zu wählen oder nicht zu wählen haben. Als Italiener kennt man das Leid ja schon seit zwei Jahrzehnten („Wie kann ein Land nur Berlusconi wählen!“). Einige scheinen Nationalwahlen mit internationalen Fußballturnieren zu verwechseln, bei welchen man für sein Favoritenteam die Daumen drückt. Der Lärm ähnelt jedoch weniger den Chören der Enthusiasmierten, als dem unsäglichen Getröte der südafrikanischen Vuvuzelas.

Ich gebe offen zu: bei den ersten Prognosen erlag ich dieses Mal auch für einen Moment lang diesem Schauer aus „Pulse of Europe“-Euphorie – deren Anhänger wohl immer noch nicht verstehen, dass sie nicht etwa die „Freiheit und Demokratie“ Europas verteidigen, sondern eben jene als Linsengericht an die EU verschachern – und dem allgegenwärtigen Medienschwall, der seinen Sieg auskostete und feierte. Wilders hat verloren, Rutte hat gewonnen. Das war die alltönende Botschaft.

Mit etwas Abstand schätze ich jedoch das Resultat etwas anders ein. Während einige bereits von der Wende träumen, ist doch die Wahl in den Niederlanden etwas ganz anderes. Sehen wir uns die Zahlen genauer an, dabei zuerst die beiden Regierungsparteien:

Ruttes „rechtsliberale“ Partei für Freiheit und Demokratie fällt von 26,6 % auf 21,2 %, das sind ca. 5 Prozentpunkte Verlust. Der sozialdemokratische Partner von der Arbeitspartei kollabiert sogar nahezu komplett: von fast 25 % bei der letzten Parlamentswahl bleiben nicht einmal 6 % übrig. Nahezu 20 Prozentpunkte Verlust. In Parlamentssitzen ausgedrückt:

2012
VVD: 41 Sitze
PvdA: 38 Sitze

2017
VVD: 33 Sitze (-8)
PvdA: 9 Sitze (-29)

Wir sehen daher eben keine Wende, sondern grundsätzlich Kontinuitätslinien. Zwar keine so starken wie bei der Trump-Wahl in den Vereinigten Staaten, aber zumindest vergleichbare Konstellationen wie im restlichen Europa. Die Regierungskoalition aus den beiden Großparteien wird abgestraft und das demonstrativ. Auch der „Gewinner“ Rutte hat deutliche Verluste zu verzeichnen; einzig der Umstand, dass die VVD 2012 ein Ausnahmeergebnis erzielte, lässt diese leicht erscheinen. Die Koalition kann ihre Regierungsarbeit nicht fortsetzen, Rutte braucht jetzt mehrere Partner: nach derzeitigem Stand mindestens vier! Ein „deutlicher Sieg“ von Rutte? Ein Triumph der Demokratie? Der von Weimar, käme da schlagartig in den Sinn …

Totalabsturz der Sozialdemokraten
Niederlande: Faszinierend falscher Fokus
Die Pulverisierung der Sozialdemokratie war schon seit Monaten prognostiziert worden – man hatte mit den „Rechtsliberalen“ paktiert und der eigenen Wahlklientel unpopuläre Reformmaßnahmen aufgedrückt. Auch hier ein Trend, der mehrfach beobachtet wurde: die klassische Sozialdemokratie blutet aus, da ihr das typische Milieu wegläuft. In den Niederlanden schlossen sich die Wähler jedoch nicht so sehr „populistischen“ Strömungen an, sondern bevorzugten anscheinend Grünlinks (von 4 auf 14 Sitze). Die Sozialisten konnten von dem Kollaps kaum profitieren, stattdessen verloren auch diese Wähler. Die klassische Linke ist in der Krise. Fraglich daher, ob Schulz in Deutschland eine europäische Wende einleitet.

Zweitstärkste Kraft im neuen Parlament wird Geert Wilders mit seiner PVV, der fünf Sitze „dazuverloren“ hat (jetzt 20 Sitze). Dahinter kommen direkt die „Linksliberalen“ und die Christdemokraten (jeweils 19 Sitze). Es sei dabei erwähnt, dass die Christdemokraten das Pendant zur Union sind und jahrelang stärkste Kraft im Königreich waren. 2003 erlangte die Partei noch 43 Sitze, 2012 waren diese auf nur noch 13 zusammengeschmolzen. Ob die Christdemokraten sich tatsächlich regenerieren, oder hier nur von der Schwäche der Regierungsparteien profitieren, ist unsicher. Wir halten fest: die klassischen Großparteien (Sozialdemokraten und Christdemokraten) sind in den Niederlanden nicht mehr Regierungskräfte, sondern Mehrheitsbeschaffer. Auch das ein Trend, der in Europa immer offensichtlicher geworden ist. Ruttes VVD ist zwar schon seit der Nachkriegszeit im Geschäft, war aber jahrelang eine liberale Kraft, die man „rechts“ von der FDP verorten könnte, und ist weniger „ausgelaugt“. Auch das ein Grund, warum die Niederländer Rutte nicht komplett abstrafen: die „Rechtsliberalen“ von der „Freiheit und Demokratie“ waren selbst jahrzehntelang eine Oppositionspartei, die erst seit 1994 in der niederländischen Regierung mitwirkt und vorher ausgeschlossen wurde. Wilders war im Übrigen früher Mitglied der VVD, die PVV ist demnach eine Neugründung vom Fleische der „Rechtsliberalen“.

Demnach haben die Niederländer wohl auch die letzte Konfrontation gegenüber Erdogan für glaubwürdig gehalten und Ruttes „Kante“ honoriert. Offiziell gibt sich die VVD einwanderungskritisch, im Gegensatz zu vielen liberalen Alliierten im Europäischen Parlament. Anscheinend hat man jedoch in den Niederlanden nicht so ganz mitbekommen, dass es neben Merkel nur Rutte war, der vom Türkei-Deal mit Erdogan wusste, dass die EU jährlich 150.000 bis 250.000 Asylanten aufzunehmen habe. Mittlerweile sehnt sich Rutte wieder nach „Versöhnung“ mit der Türkei.

Weshalb eine Ironie der Geschichte hier hervorgehoben werden sollte: nämlich der Einzug der „DENK“, einer muslimisch-türkischen Partei, die mit 3 Sitzen nunmehr auch im niederländischen Parlament sitzt …

Insofern, liebes „Europa“: noch ein, zwei solcher Siege, und du bist verloren.

Dieser Beitrag von Marco Gallina ist zuerst hier erschienen.