Tichys Einblick
Mehr-Klassen-Medizin

Der Gesundheitskiosk – Medizin für Arme

Lauterbach will in armen Stadtteilen sogenannte Gesundheitskioske mit einfacher medizinischer Behandlung einrichten. Was sich auf den ersten Blick wie ein Fortschritt in Public Health anhören mag, wird sich als grausame Manifestierung einer Mehr-Klassen-Medizin herausstellen. Von Friedrich Pürner

IMAGO / ari

Vor vielen Jahren, umtriebig und neugierig, war ich einige Zeit in Griechenland tätig. In unmittelbarer Nähe zu meiner Wohnung gab es ein sogenanntes „Bakalikon“, ein kleines Lebensmittelgeschäft, in dem man so ziemlich alles erhielt, was für ein gutes Auskommen notwendig war. Dort gab es eine Besonderheit. Es war auch möglich, eine Kleinigkeit zu essen, zu trinken und mit Freunden zu verweilen. In dem „Bakalikon“ erlebte ich viele wunderbare Stunden bei guten Gesprächen und köstlichen Mahlzeiten. Bei uns in Deutschland kannte man zu dieser Zeit solche Geschäfte besser unter dem Namen Kiosk mit (Steh-)Imbiss – sicher auch sehr urig, bei Weitem aber nicht so gemütlich.

Wie ich nun darauf komme? Unser aktueller Gesundheitsminister Karl Lauterbach verkündete in einem Tweet, dass er beabsichtige, sogenannte Gesundheitskioske in armen Stadtteilen Deutschlands einzurichten. Es scheint, als habe er sich diese Idee auf seiner aktuellen Amerikareise abgeschaut. Auf Twitter hinterließ er hierzu ein Elaborat samt Bild, welches ihn in fragwürdiger Ausführung bei der Blutdruckmessung an einem Patienten zeigt. Nun gut. Lassen wir das Bild beiseite. Ebenso fragwürdig und zudem alarmierend war der dazugehörige Text.

Einfache Behandlungen und Untersuchungen im Kiosk

Geht es nach Lauterbach, so sollen in armen Stadtteilen in sogenannten Gesundheitskiosken – nach amerikanischem Vorbild – einfache medizinische Behandlungen und Untersuchungen erfolgen. Was sich auf den ersten Blick wie ein Fortschritt in Public Health anhören mag, wird sich als grausame Manifestierung einer Mehr-Klassen-Medizin herausstellen und den sozialen Abstieg von Menschen und ganzen Stadtteilen bereiten.

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Denkt man die Idee von Lauterbach weiter, so drängen sich unweigerlich Fragen auf, die zeigen, dass sich dieses Konzept für Deutschland nicht eignet. Welche Stadt wird sich derart offensichtlich eingestehen, dass sie bereits wirtschaftlich so schwach ist, dass nicht alle Stadtteile mit Arztpraxen ausreichend versorgt werden können?

Welche Stadt wird das Risiko eingehen, dass die Bodenpreise durch einen neuen Faktor beeinflusst werden? Weshalb sollten Gesundheitskioske für arme Menschen attraktiver als ordentliche Arztpraxen sein? Haben arme Menschen keine Ärzte und Praxen verdient? Wird man armen Menschen verbieten, eine Arztpraxis aufzusuchen und stattdessen an den Kiosk verweisen? Wie werden einfache Behandlungen oder Untersuchungen definiert? Schon eine Sprachbarriere oder die Unkenntnis über Gepflogenheiten in anderen Kulturen machen jede „einfache“ Blutdruckuntersuchung zu einer Untersuchung, die Fingerspitzengefühl und Erfahrung bedarf.

Wer wird diese Untersuchungen und Behandlungen übernehmen? Studenten? Angelernte Kräfte? Es ist nicht anzunehmen, dass in einem Gesundheitskiosk ein Arzt arbeiten wird. Wird es so ähnlich wie bei Corona? Als ungelernte Personen durch ein Kurzvideo zu zertifizierten Testanbietern wurden und mit Teststäbchen in den Nasen und Hälsen von Menschen herumfuhrwerkten. Für mich als Facharzt ein äußerst beunruhigender Gedanke. Jeder Mensch, ob arm oder reich, hat bestmögliche Behandlung und Untersuchung verdient. Das sind Ärzte den Kranken schuldig. Das muss unser Anspruch sein. Zu diesen Gedanken sollte vor allem ein Gesundheitsminister fähig sein – und sodann dementsprechend handeln. Vor allem, wenn er vorgibt, Arzt zu sein.

Lauterbach hat selbst die Saat gelegt

Lauterbach erntet nun das, was er vor Jahren selbst gesät hat – den Niedergang des Gesundheitssystems und das Aufkommen einer brutalen Mehr-Klassen-Medizin. Hilflos steht der Gesundheitsminister nun vor dem Scherbenhaufen seines eigenen Tuns. Ihm fällt nichts Besseres ein, als die in der Abwärtsspirale befindliche Gesundheitspolitik im schwindelerregenden Tempo noch weiter nach unten zu treiben.

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Es ist kaum anzunehmen, dass Privatpatienten einen Gesundheitskiosk aufsuchen werden. Wer geht als Patient freiwillig dorthin? Es werden die Ärmsten der Armen sein, die womöglich keine Versicherung haben. Damit vollzöge Lauterbach definitiv den Schritt in die Mehr-Klassen-Medizin. Sie wird noch deutlicher erkennbar werden. Lauterbach ist gewillt, dieses amerikanische Modell nach Deutschland zu bringen. Er verkennt dabei, dass das Gesundheitssystem der USA mit dem deutschen System nicht vergleichbar ist. In den USA gibt es viele Menschen, die sich eine Krankenversicherung nicht leisten können.

Oder ist das der nächste Schritt in Lauterbachs Plan? Soll mittels der Kioske ein Anreiz geschaffen werden, dass für eine bestimmte Gruppe von Menschen eine Krankenversicherung wenig rentabel wird, da für einfache Untersuchungen und Behandlungen künftig der Kiosk aufgesucht werden kann bzw. muss? Auch verkennt Lauterbach in seinem Tatendrang, dass das amerikanische Modell, welches er als „Vorbild“ ansieht, einer sozialen Entwicklung geschuldet ist, die wir in Deutschland weder in dieser Form erleben mussten, noch anstreben sollten.

Klug wäre es, wenn Lauterbach mehr Engagement hinsichtlich des Erhalts und der Neugründung von Arztpraxen für Allgemeinmedizin an den Tag legen würde. In den nächsten zehn Jahren werden zahlreiche niedergelassene Ärzte in ihren wohlverdienten Ruhestand gehen. Nachfolger sind schwer zu finden. Die Anreize für Praxisneugründungen sind gering. Die Bürokratie und Belastungen sind zu hoch. Zudem wird Medizin immer weiblicher. Viele Kolleginnen möchten kinderfreundlich in Teilzeit arbeiten. Das ist verständlich und muss Berücksichtigung finden.

Arme Stadtteile werden keine gut verdienende Klientel anlocken

Würden Sie mit Ihren Kindern in einen Stadtteil ziehen wollen, der keine hausärztliche und kinderärztliche Praxisversorgung bereithält? Eher nicht. Was also wird passieren? Es wird zu einer Ghettoisierung kommen. Ganze Stadtteile werden, wie in Amerika bereits üblich, verarmen und nur von bestimmten Bevölkerungsschichten bewohnt werden. Einmal in einem solchen Ghetto angekommen oder hineingeboren, wird ein Entkommen schwer. Eine belebende Infrastruktur mit neuen Geschäften und Arbeitsplätzen wird in diesen Stadtteilen ebenfalls nicht Einzug finden. Es wird dort weder neue Schulen noch Kindergärten geben. Ein Teufelskreis – zu Lasten der dort lebenden Menschen und der nachfolgenden Generationen.

Ein moderner Public-Health-Ansatz muss anders aussehen. Lauterbach sollte dies aufgrund seiner vorgegebenen Ausbildung bewusst sein. Weshalb braucht es Kioske? Staatliche Arztpraxen mit Fachärzten aus den Fachrichtungen Allgemeinmedizin, Kindermedizin, Geriatrie, Psychiatrie und Suchtmedizin wären von Nöten. Diese Ärzte könnten beim Staat angestellt sein und für diesen im Rahmen eines Angestelltenverhältnisses arbeiten. So entfiele für diese Ärzte das Risiko einer Selbstständigkeit und der Staat könnte qualifiziertes Personal für seine Bürger vorhalten. Eine Win-Win-Situation und Gleichbehandlung für alle. Medizin darf fachlich nicht abgespeckt werden. Geld darf nicht der Grund für eine gute medizinische Versorgung sein. Leider ist Lauterbach viel mehr Blender und Politiker als Arzt. Leider. Seine neuesten Pläne lassen nichts Gutes verheißen.

Meinem „Bakalikon“ wird dies in meiner Erinnerung keinen Abbruch tun. Noch immer kann ich das Flair und den freien Geist dieses besonderen „Tante-Emma-Ladens“ spüren. Es war eine schöne Zeit in Griechenland. Das Land des Urvaters der Medizin – Hippokrates.


Dr. med. Friedrich Pürner, MPH, Facharzt Öffentliches Gesundheitswesen und Epidemiologe