Tichys Einblick
Merkels Bonapartismus am Ende

Demokratie-Frühling im November

In der Absage der FDP an Jamaika steckt eine Zusage an die Demokratie. Wir möchten die Herzkammer der Demokratie wieder schlagen hören.

© Odd Andersen/AFP/Getty Images

Auch wenn manche Kommentatoren das momentan menetekeln: Wir haben kein politisches Erdbeben, auch keine Staatskrise. Wir haben Demokratie, sie scheinen das vergessen zu haben. Sondierungsgespräche haben stattgefunden, sie sind gescheitert – mehr nicht.

Allerdings nehme ich seit gestern Abend die FDP ernst. Sie hat sich zwischen der Verführung durch Regierungsämter und der Wahrnehmung ihres Wählerauftrages entschieden, für die Wünsche und das Wollen der Bürger einzustehen, die ihr ihre Stimme gegeben haben. Das hat man lange nicht mehr erlebt. Demokratie lebt vom Kampf der Richtungen und vom Meinungsstreit, davon, dass in einer fairen argumentativen Auseinandersetzung die Rahmenbedingungen gesellschaftlicher Entwicklung bestimmt werden und eben nicht von der Raison der Alternativlosigkeit.

Der Stil der Alternativlosigkeit, übrigens eine kraftvolle Geste, die darüber hinweg täuschen soll, dass man selbst keine Argumente besitzt, ist vordemokratisch, historisch gesehen: bonapartistisch. Nicht auf die Kanzlerin kommt es an, wie Patrick Bahners 2016 in unfassbarer Servilität geschrieben hatte, sondern auf das Parlament. Norbert Lammert ist zuzustimmen, als er in seiner Abschiedsrede deutlich formulierte: „Hier im Deutschen Bundestag schlägt das Herz der Demokratie oder es schlägt nicht.“

Der Ausstieg der FDP aus einer spätbyzantinischen Veranstaltung namens Jamaika-Sondierung ist ein Votum für die Demokratie, für das Parlament. Wer versuchte, den Bürgern einzureden, dass sie den Wählerauftrag für Jamaika erteilt hätten, sprach bestenfalls demagogisch, denn die Bürger wählten Parteien, deren Aussagen zur Entwicklung Deutschlands sie unterstützten und in die Tat umgesetzt sehen wollten. Dass Koalitionen zu einer Demokratie gehören, ist selbstverständlich, auch dass in Koalitionsverhandlungen Kompromisse gesucht und gefunden werden müssen, nur endet der Kompromiss bei der Aufgabe von Grundaussagen, genau dort, wo die Parteien den Wählerauftrag preisgeben.

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Deshalb stimmt die gegenteilige Aussage: für Jamaika bestand kein Wählerauftrag, sondern nur der Wunsch der Kanzlerin irgendwie weiterzuregieren, am liebsten mit den Grünen, deren Politik sie in den letzten Jahren verwirklicht hatte, und der Wille der Grünen, endlich wieder in der Regierung zu sein. Die FDP hat es sich nicht leicht gemacht, denn eigentlich hätte sie nicht in Sondierungsgespräche eintreten dürfen. Aus der Sicht der Kanzlerin und der Grünen war ihr ohnehin nur die Rolle zugedacht, die fehlenden Stimmen dazu zu bringen.

Die Resultate der gestern beendeten Sondierungen lassen sich in vier Punkten  zusammenfassen:

  1. Die Demokratie und das Parlament wurden gestärkt, weil es wieder die wichtigen Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition geben kann, die in der Ära der Alternativlosigkeit ausgeblieben sind.
  2. Die Grünen haben in den Sondierungsgesprächen vorgeführt, dass sie keine Politik für Deutschland machen wollen, dass sie eine Partei der Gestrigen sind.
  3. Merkels Bonapartismus ist gescheitert. Allerdings hat sie in das Scheitern die jüngeren CDU-Politiker, die sogenannten Hoffnungsträger Spahn, Klöckner und Günther, mithineingerissen
  4. Für die CSU war es am Ende ein Nullsummenspiel, weil die Bühne nicht in Berlin, sondern in München stand.

Winfried Kretschmann irrt sich grundsätzlich, wenn er meint, dass Jamaika den gesellschaftlichen Zusammenhalt gestärkt, weil es die Pole der Gesellschaft zusammengebunden hätte. Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg scheint inzwischen zu glauben, dass die Bürger für die Parteien da sind: das Gegenteil ist der Fall. Jamaika hätte dazu geführt, dass weitere 11 % der Wähler, die der FDP, nicht mehr von der Politik repräsentiert worden wären. Jamaika ist bekanntlich eine Insel, nomen est omen, dorthin hätte sich die Regierung zurückgezogen – auf eine ferne Insel, entfernt von den Bürgern. Ohnehin wäre Jamaika zum Konjunkturprogramm für die AfD geraten.

Die CDU hat die Aufgabe, eine Regierung im Interesse des Landes zu bilden. Hierfür bleibt ihr nur eine Option, auch wenn sie anstrengend ist: eine Minderheitsregierung mit der FDP. Seit gestern geht das nicht mehr mit Angela Merkel. Es wird Zeit, dass sie die Verantwortung für das Wahlergebnis übernimmt und den Weg freimacht. Den Übergang von Merkel zu einer neuen Führungsriege in der CDU, ihre Erneuerung und Vitalisierung in der Regierung wird Wolfgang Schäuble gestalten müssen, weil er der einzige ist, der die entsprechende Erfahrung und Autorität besitzt. Es hat schon einmal ein CDU-Politiker, reif an Jahren, der Republik und dem Land viel gegeben, Konrad Adenauer. Es war nicht das schlechteste. Schäuble muss nun beweisen, dass er in die großen Schuhe passt.

In der Absage der FDP an Jamaika steckt eine Zusage an die Demokratie. Wir möchten die Herzkammer der Demokratie wieder schlagen hören.

Klaus-Rüdiger Mai ist Dramaturg, Regisseur und Schriftsteller.