Tichys Einblick
Gesetzgeberisches Versäumen

„Cum-Ex“: Staatliches Versagen hinter dem Betrug

Bei der medialen Empörung über den "Cum-Ex"-Steuerbetrug bleiben mehrere Aspekte unbeleuchtet. Nicht zuletzt die Geschichte des staatlichen Versagens, die den Betrug geradezu anheizte. Von Dr. Stephan Salzmann

IMAGO / Steinach

Für die Politik handelt es sich bei „Cum-Ex“-Geschäften um eine besonders verwerfliche Art von Geschäften zu Lasten der Staatskasse. Sie kann sich dabei auf mediale Unterstützung verlassen, wo zum Beispiel vom „größten Steuerraubzug der Geschichte“ die Rede ist. Eine Darstellung der Ursachen für die Verbreitung dieser Gestaltungen bleibt im Hintergrund und die Frage, ob und – wenn ja – für welche Beteiligten die „Cum-Ex“-Geschäfte überhaupt illegal waren, unbeantwortet.

Vor allem die folgenden Aspekte kommen in der öffentlichen Berichterstattung zu Aktiengeschäften „rund um den Dividendentermin“ der ausschüttenden (deutschen) Gesellschaften zu kurz:

1. Wie sind „Cum-Ex“-Geschäfte zur Gefahr für die Staatskasse geworden?

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Es handelt sich um Aktiengeschäfte, die kurz vor dem Dividendenstichtag mit Anspruch auf die zu erwartende Dividende („Cum“) abgeschlossen, aber erst nach dem Dividendenstichtag mit Aktien ohne Dividende („Ex“) erfüllt werden. Diese Art von Geschäften ist typisch für sogenannte Leerverkäufer, die bei Abschluss des Kaufvertrags noch gar nicht über das Eigentum an den verkauften Aktien verfügen. Es entspricht aber der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) schon seit 1999, dass beim Aktienkauf über die Börse aufgrund der Usancen bei Börsengeschäften als anonymen Massengeschäften bereits mit Abschluss des Kaufvertrags – auch mit einem Leerverkäufer – der Erwerb des für die steuerliche Betrachtung maßgeblichen „wirtschaftlichen“ Eigentums stattfindet. Dadurch konnte die Zahl möglicher (steuerlicher) Aktieninhaber unabhängig von der Zahl der tatsächlichen (zivilrechtlichen) Aktionäre vervielfacht werden.
2. Eine Historie gesetzgeberischen Versagens

Damit bestand schon ab dem Jahr 2000 die Situation, dass am Dividendenstichtag mehrere Aktieninhaber – also neben dem tatsächlichen (zivilrechtlichen) auch ein oder mehrere „wirtschaftliche“ Eigentümer – vorhanden sein konnten, die den Anspruch auf Anrechnung (Gutschrift bzw. Erstattung) der nur einmal von der ausschüttenden Gesellschaft einbehaltenen und an den Fiskus abgeführten Kapitalertragsteuer geltend machen konnten. Auf diese Gefahr für die Staatskasse hat der Bundesverband deutscher Banken (BdB) das Bundesministerium der Finanzen (BMF) bereits mit Schreiben v. 20.12.2002 hingewiesen. Es war den Banken als Dienstleister der Abwicklung von Börsengeschäften also erkennbar daran gelegen, nicht zum – unwissenden – Erfüllungsgehilfen von Leerverkäufern und mit ihnen bewusst („kollusiv“) zusammenwirkenden Beteiligten zu werden, die abgestimmt darauf abzielten, eine einmal von der ausschüttenden Gesellschaft einbehaltene Kapitalertragsteuer mehrfach geltend zu machen.

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Es geschah dann erst einmal Jahre lang nichts, bis endlich Ende 2006 für Aktiengeschäfte ab dem Jahr 2007 ein vermeintlicher Lückenschluss vom Gesetzgeber verabschiedet wurde. Die neuen Bestimmungen verpflichteten aber nur inländische Depotbanken zu einem zusätzlichen Kapitalertragsteuereinbehalt auf Dividendenkompensationszahlungen des Leerverkäufers an den Käufer, weil eine Erstreckung auch auf ausländische Depotbanken wegen unzulässiger Exterritorialität deutschen Rechts von vorneherein nicht möglich gewesen wäre. Man wählte also ein erkennbar unzulängliches Instrument, von dem von Anfang an klar, dass es dazu einlud, den Ausweg über ausländische Kreditinstitute zu suchen, die nicht zu dem zusätzlichen Kapitalertragsteuereinbehalt verpflichtet waren. In der Fachliteratur wurde der Gesetzgeber auch frühzeitig darauf aufmerksam gemacht, „auf dem halben Wege stehengeblieben“ zu sein. Dieses gesetzgeberische Versagen heizte die „Cum-Ex“-Geschäfte bis einschließlich 2011 geradezu an. Erst mit Wirkung ab 2012 wurde durch den Übergang auf ein ausschließlich durch inländische Depotbanken umzusetzendes sogenanntes Zahlstellenprinzip den „Cum-Ex“-Geschäften mit dem Ziel mehrfacher Kapitalertragsteuer-Anrechnung wirksam ein Ende bereitet. Bis zu dieser Rechtsänderung hat der Gesetzgeber also den Fiskus wie einen lange Zeit verreisten Eigenheimbesitzer behandelt, der seine Haustür sperrangelweit offenlässt und damit die Diebe geradezu einlädt, hereinzukommen – ob damit auch das Einverständnis erteilt wurde, den Hausrat zu stehlen, ist bis heute umstritten.
3. Inwieweit waren „Cum-Ex“-Geschäfte bis 2011 rechtswidrig?

Entgegen der gängigen Behauptung in den Medien, bei „Cum-Ex“-Geschäften mit börsennotierten Aktien rund um den Dividendentermin handle es sich um durchweg kriminelles Handeln –auch ein Richter des Finanzgerichts Köln ließ sich 2019 dazu hinreißen, von „krimineller Glanzleistung“ zu sprechen-, ist bis heute nicht abschließend geklärt, ob und in welcher Form und für welche Beteiligten „Cum-Ex“ rechtswidrig war. Nach einer Entscheidung des Bundesfinanzchefs aus dem Jahr 2014 muss z.B. der Aktienkäufer in ein „modellhaft aufgelegtes Gesamtvertragskonzept“ eingebunden sein, um nicht als zur Anrechnung berechtigter „wirtschaftlicher“ Eigentümer zu qualifizieren. Andernfalls bleibt es also bei dem Grundsatz, dass der Aktienkäufer als Vertragspartner eines Leerverkäufers steuerlich als „wirtschaftlicher“ Eigentümer anzusehen ist. Davon musste sich das Finanzgericht Köln für die Zeit vor Schließung der Gesetzeslücke in einem viel beachteten Urteil v. 19.07.2019 grundsätzlich verabschieden. Andernfalls hätte das Gericht dem Kläger (einem US-Pensionsfonds) Kapitalertragsteuererstattungen für in der Dividendensaison 2011 erworbene Aktien deutscher Gesellschaften nicht vollständig versagen können. Ob diese Abweichung von Grundsätzen höchstrichterlicher Rechtsprechung zu Lasten der Käufer „leerverkaufter“ Aktien über deren Beteiligung an einem „modelhaften“ Zusammenwirken mit anderen hinaus Bestand hat, ist weiterhin offen, zumal nicht nur die Hamburger Privatbank M.M. Warburg, sondern erst recht jeder brave Privatanleger einwenden wird, nicht wissen zu können, ob er an der Börse von einem Leerverkäufer erworben hat.

4. Rechtmäßigkeit von „Cum-Cum“

Nachdem durch die Rechtsänderung seit 2012 das Thema „Cum-Ex“ als gesetzgeberisch erledigt angesehen werden kann, wird jetzt zunehmend gefordert, „Cum-Cum“-Geschäfte mit „Cum-Ex“-Geschäften „zusammen zu denken“, weil diese angeblich mindestens genauso hohe Steuerausfälle verursacht hätten. Dies ist schon deswegen abwegig, weil „Cum-Cum“-Geschäfte gerade darauf beruhen, dass sich der Aktienverkäufer nicht nur zur Aktienlieferung mit Dividendenanspruch („Cum“) verpflichtet, sondern auch so rechtzeitig liefert, dass der Anspruch noch vor dem Dividendenstichtag mit Dividende („Cum“) erfüllt wird. Eine mehrfache Steueranrechnung ist also weder beabsichtigt noch überhaupt denkbar. Diese Geschäfte, die auch der europa- und verfassungsrechtlich bedenklichen Diskriminierung von Steuerausländern, die als Aktieninhaber im Gegensatz zu Steuerinländern keinen vollständigen Anrechnungsanspruch für die einbehaltene Kapitalertragsteuer haben, entgegenwirken sollen, wurden außerdem von der Rechtsprechung unstrittig als rechtmäßig angesehen. Durch seit 2016 bzw. 2017 geltende Gesetzesergänzungen (u.a. werden Mindesthaltedauern von 45 Tagen vor und nach dem Dividendenstichtag verlangt) wurden sie deshalb signifikant erschwert. Die Klage im Zusammenhang mit „Cum-Cum“ lässt vermuten, dass nach abflauendem Interesse an der „Cum-Ex“-Problematik infolge der Gesetzesänderung ab 2012 und nach gerichtlicher Aufarbeitung der damit bis einschließlich 2011 verbundenen Geschäftsmodelle öffentliche Aufmerksamkeit auf angebliche weitere „Steuerraubzüge“ gelenkt werden soll.

5. Angeblicher Steuerschaden

Zur Schätzung des „Steuerschadens“ für den Fiskus durch „Cum-Ex“ und „Cum-Cum“-Geschäfte werden Zahlen im hohen zweistelligen Milliardenbereich in Umlauf gesetzt. Dafür fehlt bis heute jede wissenschaftliche Evidenz. Die Behauptung ist aber hilfreich dabei, weiterhin von „Deutschlands größten Steuerskandal“ sprechen zu können – ohne auf die Mitverantwortlichkeit des Gesetzgebers und damit der Politik hinweisen zu müssen.

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