Tichys Einblick
Thema Krieg bei Anne Will

Kampfpanzer für die Ukraine: Baerbock ist dafür

Die Diskussion über den Ukraine-Krieg hat sich bei Anne Will verändert. Sie ist sachlicher geworden, aber nicht konkreter. Die Frage, warum Deutschland keine Kampfpanzer liefert, bleibt offen – dafür wird Überforderung greifbar.

Screenprint ARD / Anne Will

„Charkiw hat die Natur des Krieges verändert“, sagt Anne Applebaum bei Anne Will. Die amerikanische Journalistin meint die militärische Natur des Krieges: Während die ukrainische Armee weiterhin hoch motiviert wäre, sei die russische Armee demoralisiert. Nach der verlorenen Schlacht seien Szenen zu sehen gewesen, in denen russische Soldaten in zivile Kleidung wechselten und förmlich wegliefen. Jetzt könne die Ukraine gegenhalten und sich in eine Verhandlungsposition bringen, an deren Ende der russische Abzug aus ihrem Gebiet stünde.

Aber Charkiw hat auch die deutsche Debatte verändert. Zumindest in dieser Ausgabe von Anne Will. Vorbei die Zeit, in der echte und selbst ernannte Experten erklärten, dass die ukrainische Armee keine Chance habe und die Niederlage nur eine Frage der Zeit sei. Vergangenheit das Argument, dass der Kampf nicht zu einem ukrainischen Sieg führen könne, sondern nur zur Verlängerung des ukrainischen Leids.

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Medial ist die Debatte damit allerdings auch in ein schwierigeres Stadium gewechselt: „Wir wollen interne Belange nicht öffentlich machen“, sagt der CDU-Bundestagsabgeordnete Roderich Kiesewetter. Sprich: Die Öffentlichkeit soll nicht alles erfahren und trotzdem durch Sendungen wie Anne Will an der Debatte teilhaben. Das bedeutet für die Zuschauer, dass sie mehr deuten als zuhören müssen, um aus dem Gesagten ein eigenes Verständnis zu erarbeiten.

Das ist mühsam, wie schon die Schalte am Anfang zeigt. Darin erklärt Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), warum sie Dinge anders sieht als Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), aber trotzdem mit ihm einer Meinung sei. Die Frage der Stunde lautet, ob Deutschland moderne Kampfpanzer an die Ukraine liefert. Scholz ist dagegen, weil er keinen „Alleingang“ wolle. Also nur gemeinsam mit den Verbündeten handeln will. Und scheinbar fürchtet er eine Ausweitung des Konflikts, wie Michael Müller (SPD) sagt. Der Bundestagsabgeordnete war Regierender Bürgermeister von Berlin und dürfte nicht gänzlich außerhalb der Bezugsgruppen des Kanzlers stehen.

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Ob sie Scholz widerspreche, ob sie sich für Lieferungen von Kampfpanzern ausspreche, bohrt Will bei Baerbock nach. Die antwortet durch die Blume: „Der Schmerz ist bei mir“, das Leid der Ukraine sei groß und deshalb „wissen wir, wie die Zeit drängt“. In weniger diplomatischem Deutsch bedeutet das: Ja, sie will die Lieferungen und sie will sie schnell. Es solle im Einklang mit den Partnern passieren – aber es soll passieren.

Dass der Alleingang ein Schutzargument ist, zeigt sich in der Runde. Kiesewetter und der General außer Dienst Egon Ramms erzählen, dass Spanien Panzer an die Ukraine liefern wollte, aber diese Lieferung sei am deutschen Veto gescheitert. Müller widerspricht dieser Geschichte nicht, stellt sie aber in den Zusammenhang der Furcht vor der Ausweitung des Konflikts. Das belegt die These, dass der nicht gewollte „Alleingang“ nur ein Schutzargument ist.

Wie ernst ist indes die Furcht vor der Ausweitung des Konflikts zu nehmen? Die Runde in der ARD-Talkshow ist sich einig, dass – wenn überhaupt – eine solche Eskalation von Wladimir Putin ausgehen würde. Dass der russische Präsident chemische oder gar nukleare Waffen einsetzen könnte. Applebaum hält diese Möglichkeit für unrealistisch. Es sei eine Drohkulisse, um Deutschland einzuschüchtern und über dieses die Nato auszubremsen. Müller erklärt die Eskalation für ein ernst zu nehmendes Szenario.

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Allerdings gibt es auch eine Möglichkeit der Eskalation, die in der deutschen Talkshow nicht thematisiert wird: nämlich die, wenn die Ukraine eine weitere Gegenoffensive nicht an der russischen Grenze stoppt, sondern sich für den russischen Angriff revanchiert. Immerhin weigern sich selbst die USA, der Ukraine Raketensysteme zu liefern, die in den russischen Raum hinein wirken können – obwohl die Staaten die Ukraine deutlich entschlossener unterstützen, als es Deutschland tut. Ob Scholz eine russische Reaktion fürchtet – persönlich –, müsste er aber schon selbst sagen. Über diese Frage orakelt die Will-Runde nur.

Neben der Weigerung, Kampfpanzer zu liefern, ist die deutsche Führungsrolle ein weiteres wichtiges Thema in der Talkshow. Viel zitiert wurde diese Woche die Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD), die eine deutsche Führungsrolle beanspruchte. Untergegangen ist ein entscheidender Zusatz, den die Ministerin machte: „Deutschland führt auch dann, wenn es nicht will.“ Das tue es schon aufgrund seiner Größe. Wenn es das nicht tut, führt es zur europäischen Handlungsunfähigkeit. Das spricht Lambrecht nicht aus. Aber das ist der logische Schluss aus ihrer Äußerung. Es sind Zeiten, in denen Politiker gedeutet werden müssen.

In der Schlussrunde sind sich die Teilnehmer einig, dass Deutschland aufgrund seiner Geschichte in den letzten 70 Jahren in Europa nicht geführt habe – aber das jetzt schnell aufholen müsse. Und werde, wie Müller verspricht. Nur ist das Pfeifen im Walde. Denn die Führungs-Aufgabe kommt zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt: Das Land befindet sich vor einem potenziellen Kollaps seines Stromnetzes und in der Folge vor einem Kollaps seiner Wirtschaft. Die Vertrauenswerte der Bevölkerung gegenüber den Regierenden sind verheerend schlecht.

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Die Bundeswehr ist in einem – vorsichtig ausgedrückt – schlechten Zustand. So schlecht, dass der Bund 100 Milliarden Euro „Sondervermögen“ genannte Schulden aufnehmen muss, um nachzurüsten. Wobei es noch nicht einmal um Kampfpanzer geht, sondern um Elementares wie warme Unterwäsche für die Soldaten. Gleichzeitig erfolgt diese auf Schulden basierte Investition zu einer Zeit, in der der Bundesrechnungshof die Regierung vor finanzieller Handlungsunfähigkeit warnt und sich durch die Erhöhung des Leitzinses staatliches Schuldenmachen härter rächt als in den vergangenen zehn Jahren.

Die Runde verlangt von Scholz, dass er offensiver kommuniziert. Selbst Müller verteidigt ihn da bestenfalls halbherzig. Nur: Wie soll diese Kommunikation aussehen? Ehrlich kann sie nicht sein. Denn dann müsste der Kanzler die deutsche Überforderung mit Armee, Staats-Finanzen sowie Energie- und Wirtschaftsnot eingestehen. Einer gewollten oder nicht gewollten deutschen Führungsrolle wäre das nicht förderlich. Blieben Scholz noch Durchhalteparolen. Die klingen beim Hanseaten allerdings bisher nicht sonderlich überzeugend: „You’ll never walk alone.“ Ziemlich bald wäre er dann bei: „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“