Tichys Einblick
Eine der seltenen, gelungenen Runden

maybrit illner: Erkenntnisgewinn zu Syrien, Kurden und Türkei

Die Hälfte der Opposition sitzt mittlerweile im Gefängnis in der Türkei, die andere Hälfte wohnt in Berlin oder Köln.

Screenprint: ZDF/maybrit illner

Bei Maybrit Illner wird heute ein Thema verhandelt, das wohl zu den tragischsten Kapiteln dieser nicht enden wollenden Syrienkatastrophe gehört. Selbst Fachleute haben heute Schwierigkeiten, die unterschiedlichen Interessenlagen hinreichend zu analysieren oder wenigstens verlässlich aufzuzählen, wer da in welcher Stärke mit wem im Hintergrund eigentlich seit wann und gegen wen für welches Ziel auf das Schlachtfeld zieht. Mitten hinein in diese große blutige Unübersichtlichkeit dann friedliche Bilder von politischen Reisegruppen wie jener der AfD.

Und zu Hause in Deutschland hunderttausende geflüchtete Syrer, von denen man erstaunlich wenig erfährt. Werden sie nicht gefragt oder wollen sie nichts erzählen? Wenn jemand wissen müsste, was in Syrien vor sich geht, dann doch wohl diese Syrer. Funktionieren die Handy-Verbindungen noch? Gibt es Nachrichten von daheim? Gesprächspartner wären vorhanden, aber kaum etwas dringt an die Öffentlichkeit hier zu Lande.

Wer mehr wissen möchte, der vermisst längst spürbar einen Weltversteher, wie es beispielsweise Peter Scholl-Latour war. Die kriegerischen Auseinandersetzungen in Syrien waren schon länger im Gange, als Scholl-Latour im August 2014 verstarb. Fast genau zwölf Monate vor seinem Tod saß Scholl-Latour noch bei Maybrit Illner. Wird sich die 53jährige Moderatorin erinnern, wenn heute, fast fünf Jahre später immer noch Syrien in ihrer Talkshow mit Eisdielenkulisse verhandelt wird?

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Damals mahnte der zwar schon greise aber geistig agile Journalist vor weiteren Einmischungen in den damals irgendwie noch überschaubaren Konflikt: „es findet ein Kesseltreiben gegen Syrien statt.“ Sein eindringlicher Rat war es, das natürliche Ende des Konflikts abzuwarten. Also Assad seine vollständige Macht zurückerobern lassen? Wann gab es diesen Moment, als den Hintermännern des Aufstandes gegen Assad, der am Anfang stand, klar wurde, dass sich hier kein Sturz des Diktators erreichen lässt, also keine Machtneuverteilung möglich sein werde?

Der einzelne Syrer, ob nun für oder gegen Assad, ist längst außen vor. Aktuell bekriegen sich auf syrischem Staatsgebiet zusätzlich noch eine starke türkische Armee und die wohl zwar gut ausgerüsteten, aber vom Kampf gegen den IS ausgedünnten kurdischen Kämpfer um ihre angestammten Regionen. Schon 2012 hatte Peter Scholl-Latour dem Journalisten Ramon Schack zu diesem für sein Dafürhalten kommenden Konfliktherd zwischen Türken und syrischen Kurden ein Interview gegeben, das nachzulesen Pflichtlektüre sein soll, wer sich dazu eine Meinung bilden will. Auch Tomas Spahns aktueller Blick auf den Konflikt lohnt unbedingt, gelesen zu werden.

Maybrit Illner fragt heute: „Erdogans Kampf gegen die Kurden – kommt die Gewalt zu uns?“ Eingeladen sind Serap Güler (CDU), Staatssekretärin für Integration in NRW, Cem Özdemir von den Grünen, Ali Ertan Toprak, Vorsitzender der Kurdischen Gemeinschaft in Deutschland – Tomas Spahn hat seinen verzweifelten Hilferuf im Original abgebildet –, Burhan Kesici, Vorsitzender des Islamrates für Deutschland, Sebastian Fiedler, Kriminaler und stellv. Vorsitzender beim Bund Deutscher Kriminalbeamter und Elmar Theveßen, stellvertretender Chefredakteur des ZDF und uns langjährig als Terrorismusexperte vorgestellt.

Burhan Kesici warnt zunächst einmal angesichts der Anschläge auf Moscheen in Deutschland vor einer „Ethnisierung des Terrors“. Nicht Kurden sollen unter Generalverdacht gestellt werden, wenn einzelne noch nicht bekannte Gruppen, möglicherweise die PKK, hier so agieren.

Sebastian Fiedler warnt: „Wenn wir irgendetwas vom NSU gelernt haben, dann, das wir uns nicht zu früh festlegen sollten.“ Er bringt den deutschen Linksextremismus ins Spiel, der durchaus Bezüge zur PKK hätte. Also könnten die Angriffe auf Moscheen in Deutschland auch aus dieser Ecke kommen.

Erdogan führt seinen Dschihad gegen die Kurden und zugleich gegen Europa
Die Süddeutsche berichtete für 2017 von mindestens 950 Angriffen auf Muslime und Moscheen. Fast alle Täter sollen Rechtsextreme gewesen sein, allerdings wurden hier auch Straftaten wie Hetze gegen Muslime oder muslimische Flüchtlinge im Netz (sogenannte Hasskommentare) und Drohbriefe gezählt. Elmar Theveßen weiß aktuell von unter 40 Taten 2018, die wohl im Kontext der militärischen Intervention der Türkei gegen Kurden in Syrien einem linksextremistischen Spektrum zugeordnet werden müssten.

„Hier in Deutschland tragen wir die Konflikte mit dem Wort aus,“ erinnert Cem Özdemir. Ali Ertan Toprak von der Kurdischen Gemeinschaft in Deutschland beklagt die Interessenverschiebung auch in dieser Sendung: „Jetzt reden wir seit fast zwei Wochen über diese Anschläge. Dieser völkerrechtswidrige Angriffskrieg wird in den Hintergrund zurückgedrängt. Also was für ein Interesse soll die Mehrheit der Kurden daran haben, dass hier (in Deutschland) Gewalt in ihrem Namen passiert?“ Und damit richtet sich der Appell des Kurden auch gegen deutsche Linksextremisten.

„Wir sollten aber auch darüber reden, dass die Moscheen politisiert sind. Darüber, dass seit Wochen in Moscheen in Deutschland Kriegspropaganda und Kriegshetze betrieben wird.“ Das wäre ebenso ein Anschlag auf das friedliche Zusammenleben, mahnt Toprak, der emotional davon erzählt, dass im Kriegsgebiet mittlerweile 200.000 Kurden auf der Flucht seien, viele hätten Verwandte in Deutschland, die nun nicht wüssten, wo ihre vielen Angehörigen sind, wie es ihnen geht.

Burhan Kesici wird gefragt, wie das denn sein könne, dass in einigen Moscheen in Deutschland aufgefordert wurde, für den Sieg in Afrin zu beten. Kesici bittet darum, die Psychologie der Menschen zu verstehen, es gäbe viele Türken, die unter dem PKK-Terror leiden, man weiß, was Sterben bedeutet, man habe für ein Ende des Krieges gebetet. Das allerdings klingt beschönigend, wenn man als Deutscher selber türkische oder türkischstämmige Freunde hat und erlebt, mit welcher Begeisterung sie teilweise die militärische Intervention Erdogans feiern. Der Autor hier hat es selbst erlebt im Gespräch mit einem langjährigen türkischen Bekannten, der bisher als besonders zurückhaltend und besonnen bekannt war.

Sebastian Fiedler nennt türkische Rockergruppen, „türkische Nazis“ als verlängerten Arm der AKP Erdogans, die Drogenschmuggel und Prostitution betreiben und die hier „das gewalttätige Aktionspotenzial hochhalten.“ Cem Özdemir wird eingeblendet und man mag ihm fast ansehen, wie schwer ihm der Spagat fallen mag, zwischen innerer Überzeugung und einem Rest von Rücksicht auf die türkische Gemeinde, der er ja selbst entstammt.

Verraten immer wieder
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Elmar Theveßen erinnert daran, dass die Kurden als Verbündete der USA schon einmal in den 1990er Jahren im Stich gelassen worden sind, als sie im Irak- Konflikt auf der Seite der USA kämpften. Auch damals entlud sich die Wut auch auf deutschen Straßen bis hin zu Blockaden und Selbstverbrennungen – auch deshalb, weil parallel die Türkei Offensiven gegen kurdische Gebiete fuhr – noch dazu mit deutschen Militärfahrzeugen, die dem Nato-Verbündeten Türkei geliefert wurden.

Cem Özdemir fordert, dass Druck auf die türkische Regierung ausgeübt werden müsse. Beispielsweise, indem die deutsche Regierung die Hermes-Bürgschaften für Unternehmen, die in der Türkei tätig sind, in Frage stellt. Dieses Druckmittel wäre schon einmal erfolgreich eingesetzt worden. „Erdogan versteht eine Sprache, das ist die des wirtschaftlichen Drucks.“ Die Kanzlerin agiere eher verbal, wo sie Taten folgen lassen müsste. Es könne nicht angehen, dass Erdogan hier in Deutschland Parallelgesellschaften aufbauen würde. „In vielen Moscheegemeinden werden die Vorstände ausgeschaltet und ersetzt durch neue, die nicht so integrationsfreundlich sind.“

Ali Ertan Toprak hat noch nie gehört, dass in Moscheen Erdogan kritisiert worden wäre, sagt er in Richtung des Vorsitzenden des Islamrates für Deutschland, Burhan Kesici. Serap Güler (CDU) wird gefragt, ob sie denn glaubt, wie Herr Toprak, das Erdogan die Kurden auch hier zu Lande verfolgt. „Zu einem Teil würde das schon zutreffen“, antwortet Güler etwas merkwürdig konjunktivistisch. Sie findet aber viel skurriler, dass hier der Kurde am Tisch als Vertreter der kurdischen Gemeinde spreche, aber der türkische Moscheevertreter merkwürdigerweise als Vertreter der Politik Erdogans. „Das ist unser politisches Problem mit den islamischen Verbänden.“, so die Staatssekretärin für Integration in NRW.

Nein, deutlicher kann man den politischen Islam als solchen ja kaum benennen, wie es hier die Christdemokratin mit türkischen Wurzeln tut. „Ihnen muss es hier darum gehen, sich um die Belange der Muslime zu kümmern und nicht darum, die Propaganda Erdogans zu rechtfertigen.“ Wenn stimmt, was der Kriminologe vorher über die Bedrohungspotentiale erzählt hat, dann ist diese Staatssekretärin tatsächlich eine mutige Frau, diese Vorwürfe so glasklar zu erheben. Aber unter welchem Druck steht der Vorsitzende des Islamrates? Man kann es nur erahnen.

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Serap Güler muss leider konstatieren, dass sich DITIB, die türkisch-islamische Union der Anstalt für Religion, zunehmend als kein Partner in der Integration herausstellt. Das allerdings ist keine überraschende Neuigkeit, wenn man bedenkt, dass diese religiöse Organisation in Deutschland direkt Erdogan untersteht, also quasi eine religiöse Zweigstelle der türkischen Regierung in Deutschland ist. Was in den 1960er Jahren noch Sinn gemacht haben mag, um die geplante Rückführung der Gastarbeiter zu erleichtern, wird heute, wo sie geblieben sind, zunehmend zum Integrationshindernis.

Sebastian Fiedler findet, dass Innenpolitik und Außenpolitik nicht mehr zu trennen sind aus polizeilicher Perspektive. Das müsse auch der Außenminister bedenken. Hier kann man jetzt als Zuschauer nur hoffen, dass Heiko Maas nicht zugehört hat, womöglich leitet er nun Rechte ab, dem neuen Innenminister Seehofer ins Geschäft zu pfuschen. Deshalb wollen wir auch hier nicht weiter darauf eingehen, um keine schlafenden Hunde zu wecken.

Cem Özdemir erinnert daran, dass der Begriff „Terrorist“ in der Lesart Erdogans nicht mehr ernst zu nehmen sei. Danach wäre auch Maybrit Illner mit ihren kritischen Fragen Terroristin. „Berufskollegen von Ihnen sitzen in der Türkei in irgendwelchen Kerkern.“ Die Hälfte der Opposition sitze mittlerweile im Gefängnis in der Türkei, die andere Hälfte wohne in Berlin oder Köln.

Cem Özdemir und Serap Güler wirken hier wie Vertreter eines modernen Deutschlands, während Ali Ertan Toprak und Burhan Kesici verfangen sind in den Konflikten, die außerhalb Deutschlands stattfinden. Der eine aus der Perspektive des kurdischen so genannten Freiheitskampfes, der andere als religiöser Vertreter des Islam mit der Faust Erdogans im Nacken. Keine leichten Rollen. Und trotz der perfekten deutschen Sprache wenigstens vom Eindruck her in diesem Moment meilenweit entfernt von einer Identifikation mit den Werten und kulturellen Befindlichkeiten des Landes, in dem sie leben. Es macht leider auch keinen Sinn, einer letztlich gescheiterten Islamkonferenz hinterher zu trauern, wenn doch jeder weiß, dass diese eben auch daran scheiterte, dass Erdogan mit am Tisch saß.

Sebastian Fiedler wendet sich an Burhan Kesici: „Ich habe jetzt einfach Mal eine simple Frage. Wäre es Ihnen jetzt nicht ein Leichtes gewesen, hier und heute einfach mal zu sagen, ich distanziere mich davon, dass in Moscheen Türkeipolitik gemacht wird?“ Burhan Kesici erwidert ihm – nachvollziehbar – das er sich in Bezug auf die Imame die von der Türkei bezahlt werden, auch nicht äußern kann. Nun untersteht Burhan Kesici nicht DITIB, trotzdem fällt es ihm sichtbar schwer, eine Position zu beziehen.

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Immerhin lobt Theveßen den demokratischen Diskurs, der hier bei Illner gerade stattfände. Und Recht hat er. Denn selten noch hat eine der fünf großen Talkshows, fünf, wenn wir die neue des Bundespräsidenten unter der Regie der Bertelsmann Stiftung im Schloss Bellevue dazu zählen, selten also noch hat eine der Talkshows so viele Ansätze angeboten, Wissen zu vermehren und Positionen in einem Konflikt zu verstehen, der uns alle angeht. Dass das nun allerdings in spürbarer Weise den Menschen in Afrin und Umgebung nützen könnte, glaubt sicher keiner am aufgeschlitzten runden Tisch bei Illner. Und man muss hier sogar mal eine Lanze brechen für den oft gescholtenen Elmar Theveßen. Hier kommt er auf den Punkt. Sagt, was ist. Fasst perfekt zusammen, was war und darf hier als echte Unterstützung der Moderation angesehen werden. Gut gemacht.

Cem Özdemir gießt dann aber doch noch mal Öl ins von Theveßen fast schon ausgetretene Feuer der Runde, als er von Besuchen bei seiner Mutter erzählt, wo er regelmäßig türkisches Fernsehen schaue, wo ihm dann Politiker mit türkischen Wurzeln aus Deutschland begegneten aus SPD und CDU, die im türkischen TV das genaue Gegenteil davon sagten, was sie hier in Deutschland sagen. Sein Wunsch wäre, dass man an allen Orten dasselbe sage. Das wäre doch wichtig für den Diskurs.

Mit diesem Aufruf, nicht mit gespaltener Zunge zu reden, können wir zufrieden eine Sendung beenden, die sich für alle Zuschauer mit und ohne Migrationshintergrund gelohnt haben sollte. Cem Özdemir kennt man bereits, Serap Güler hat sich als echte Talkshow-Bereicherung vorgestellt. Und nun aber mit diesen positiven Eindrücken schnell den Fernseher abschalten, denn gleich kommt Lanz. Und der hat ausgerechnet Katrin Göring-Eckardt bei sich zu Gast.