Tichys Einblick
Ohne Politiker kommt mehr raus

Maischberger: Obdachlosigkeit als Sozialromantik

Bundeskanzlerin Angela Merkel, die erst nach 1990 Kontakt mit der alten Bundesrepublik bekam, sagte gerade in Davos, es ginge uns heute so gut wie nie. Jeder aus der alten Bundesrepublik weiß: ein mantrahaftes Geschwätz, um ihre Katastrophenpolitik irgendwie schön zu reden.

Screenprint: ARD/maischberger

Obdachlos in Deutschland, was bedeutet das überhaupt? Zunächst einmal, dass Menschen das Elend dort leben, wo heute über eine Million außereuropäische Ausländer aus dem Elend kommend ein besseres Zuhause suchen. Das Paradies Deutschland ist also nicht für jeden Einheimischen eines. Darüber wollte Sandra Maischberger mit ihren Gästen sprechen.

Über – man will es kaum glauben – fast eine Million, die ohne Wohnung hierzulande auf der Straße leben. Die Zahl ist in den letzten Jahren dramatisch angestiegen. Die Hälfte von ihnen sind heute Migranten. Unter diesen Obdachlosen auch viele Osteuropäer, die hier gestrandet sind. Die offensichtlich nicht ausreichend darüber informiert waren, dass es in Deutschland zwei Dinge nicht gibt: Unmengen hoch bezahlter Hilfsarbeiterjobs und ein üppiges soziales Netz, das auch Osteuropäern deutsche Euros ohne Arbeit garantiert. Denn in Deutschland gilt zumindest theoretisch: Kein Hartz IV und keine Sozialhilfe ohne vorherige Arbeit.

Also wächst auch die Konkurrenz beim Flaschen- und Dosensammeln. Jürgen Trittins grüne Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Hunderttausende ist heiß umkämpft. Bei Maischberger konnte man erfahren, dass hier schon mal tägliche zwanzig Euro zusammenkommen können. Was so wenig ist, dass es früher den immer noch oft abwertend „Penner“ genannten deutschen Obdachlosen alleine gehörte, ist mehr, als man beispielsweise in Rumänien am Tag mit regulärer einfacher Arbeit verdienen kann, wenn dort der monatliche Arbeitslohn bei 200 oder dreihundert Euro liegt.

Möglicherweise auch wegen der harschen Kritik an der letzten Maischberger-Sendung, probierte die Münchnerin etwas Neues aus: Keine Politiker im Wettstreit, also auch keine dieser regelmäßig schon zwanghaft politischen Positionierung der Moderatorin selbst. Eingeladen waren zwei ehemalige Obdachlose: ein älterer trockener Alkoholiker, der heute für Wohlstandsdeutsche ein bisschen Gruselstimmung veranstaltet, wenn er sie zu seinen ehemaligen Outdoor- Schlafstätten führt und eine jüngere ehemalige Obdachlose, die heute Hundesitterin ist, aber ihre drei Kinder abgeben musste, weil sie sich nicht in der Lage fühlte, diese vernünftig zu betreuen.

Eine dritte Obdachlose in der Sendung ist Judith Deborah Rakers-Pfaff (kurz: Judith Rakers), ihres Zeichens Tagesschausprecherin. Aber natürlich nicht wirklich ohne Dach über dem Kopf. Sie hatte nur vor kurzem mal 24 Stunden lang Obdachlose „gespielt“ und glaubt nun tatsächlich, sich damit Mitrede-Kompetenz erworben zu haben. Ein Einspieler zeigt sie in Berber-Klamotten unter einer Brücke. Sogar abgeschminkt. Aber auch dann bleibt alles glatt und profillos.

Aber wenn schon Obdachlose spielen, dann besser wie der US-amerikanische Superstar Will Smith in „Das Streben nach Glück“. Eine herzzerreißende schauspielerische Leistung in einer geradezu unerträglichen Vom-Penner-zum-Millionär-Neokapitalismus-Story.

Weiter mit dabei bei Maischberger der Linke Christoph Butterwegge, der sich auch als „Armutsforscher“ einen Namen gemacht hat. Also definitiv kein Armutsromantiker, auch wenn die Sendung über die Geschichten der „geretteten“ Obdachlosen immer dann in Gefahr gerät, wegzudriften, wenn das Einzelschicksal per Einspieler allzu sehr penetriert wird. Aber dafür können die Beiden ja nichts. Auch kratzt man hier an der Oberfläche, das wahre Elend wäre für die Masse der Fernsehzuschauer sicher unerträglich. Nein, brutale Saufexzesse mit Billigfusel, fehlende Hygiene, üble Armuts-Krankheiten, Mangelernährung, sexuellen Übergriffe – permanente Angst und tiefe Hoffnungslosigkeit sind nicht TV-kompatibel.

Ebenfalls mit dabei in der Sendung ist Dorothea Siems. Sie ist Wirtschaftsredakteurin der „Welt“ und wurde auf dem Sofa neben Butterwegge platziert. Eine gute Wahl, denn da fliegen im Verlaufe der Sendung schon mal die Fetzen. Siems kann bei all dem nicht lächeln. Und sie erinnert dabei an diese wunderbare Fassbinder-Schauspielerin Irm Hermann. Die Journalistin ist als ein echter Lichtblick direkt gegenüber dieser Ponyhof-Bewohnerin Judith Rakers platziert. Die höhere Tochter einer Innenarchitektin und eines Physiotherapeuten und Ehefrau des Immobilienökonom Andreas Pfaff, besitzt bei Hamburg drei Pferde und reitet aktiv in den Kategorien „Springen, Dressur und Gelände“. Nun hat sie immerhin mit der Berufswahl Tagesschausprecherin eine gute Wahl getroffen. Da darf man nett ausschauen und verkündet Nachrichten, die meistens andere aufgeschrieben haben. Also zukünftig bitte nicht mehr auf einem Meinungssofa Platz nehmen. Bitte nicht Slomka sein wollen. Schusterin bleib bei Deinen Leisten.

Der Star der Sendung ist sowieso ein anderer. Klaus Seilwinder (61) ist trockener Alkoholiker, er hängt da in Stonewashed-Jeans und Olaf-Schubert- Acryl-Pullover im Sessel oder besser in den Seilen wie ein – kein Widerspruch! – lächelndes Häufchen Elend. Gehalten nur noch von irgendetwas, das wohl zu Tage tritt, wenn der Mensch ganz unten angekommen ist und sich nun herausstellt, wer davon unbeeindruckt diese innere Kraft hat, den Schrecken noch irgendwie zum Guten zu wenden und wer brutal daran zerbricht. Seilwinder hat heute eine Wohnung und bekommt mit seinen Führungen zu den Obdachlosenplätzen regelmäßige Anerkennung von den Ponyhof-Menschen. Ein toller Typ. Sein Gesicht schwer gezeichnet vom Erlebten. Ein Faltenwurf wie bei einem jungen Shar-Pei. Aber weniger zum Knuddeln, mehr so als Mahnung an die, die immer nur gut wohnen und arbeiten.

Das Beste: der Junge hat sich im Griff. In allerbestem Hauptmann-von-Köpenick-Slang erzählt er seine Geschichte. Und er lässt sich Zeit dabei. Maischberger weiß ausnahmsweise mal instinktiv: Hier zu unterbrechen wäre der Supergau für sie. Also lässt sie Seilwinder reden. Der erzählt, dass der schwerste Schritt aus der Obdachlosigkeit die deutsche Bürokratie gewesen sei, wenn man keinen Ausweis hätte, bekäme man nichts. Und als Obdachloser einen Ausweis zu beantragen, ist fast unmöglich. Der passionierte Flaschenspecht bekam aber irgendwann Hilfe von einem Ehemaligen und es gelang nach vielen Anläufen. Unsere Dame vom Ponyhof feilt während des Seilwinder-Vortrags noch an ihrem Betroffenheitsgesicht, was nicht sofort gelingen will und phasenweise nur wie dicke Backen ausschaut. Aber wollen wir nicht zu gemein sein.

Die WELT-Journalistin Dorothea Siems zeigt eindrucksvoll, warum mit der Springer-Presse nach dieser bleiernen Kai-Dieckmann-Zeit wieder langsam zu rechnen ist. Nicht nur Stefan Aust ändert den Kurs wieder weg von Dieckmanns Refugees-Welcome-Feldzug, auch das „einfache“ Personal darf wieder was, wenn Siems die Maischberger-Runde daran erinnert, dass Osteuropäer eben kein Anrecht auf die deutschen Sozialleistungen hätten. Die dürften hier drei Monate Arbeit suchen. Aber wenn keine gefunden wird, müssten sie umgehend wieder in ihre Heimat zurück. Betroffene Gesichter.

Wohnungsnot produziert Elend
Dramatischer Anstieg der Obdachlosigkeit durch Zuwanderung
Siems war es auch, die Maischberger darauf aufmerksam macht – machen musste! – dass die Hälfte der Obdachlosen heute Migranten sind. Da wurde die Moderatorin einen Moment lang hektisch. Und sie musste die panische Angst unterdrücken, dass nun auch diese Runde wieder in die falsche Richtung abdriftet. Sie unterbrach, stammelte gar ein wenig, aber dann rettete sie der Ex-Obdachlose Seilwinder, der sich streckenweise köstlich zu amüsieren schien, wenn es mal etwas hektischer wurde. Hier wirkte wohl im positivsten Sinne der Spruch: „Ist der Ruf erst ruiniert …“

Nun haben wie hier beim Aufschreiben den Vorteil, uns nicht an die Dramaturgie der Sendung halten zu müssen. Wir können abschweifen. Der Autor hier hat Ende der 1980er Jahre mal zwei Jahre lang auf dem Sozialamt Helmstadt gearbeitet. Damals, als die Welt noch in Ordnung war. Ganz basisch ausgedrückt und wirklich ohne despektierlich sein zu wollen: Damals konnten wir uns unsere Penner noch leisten. Es gab tägliche Auszahlungen für die Berber und Obdachlosen – irgendwas um 14,50 Mark und am Freitag etwas mehr, um übers Wochenende zu kommen.

Aber vor allem gab es so etwas wie eine Fürsorgepflicht. Da waren auch Sozialarbeiter tätig, die den unbedingten Auftrag hatten, eigeninitiativ zu schauen. Immer in der Annahme, dass das Hilfsangebot auch zu Jenen kommen muss, die selbst nicht mehr in der Lage sind, es einzufordern oder zu erbitten. Sanktionen oder ähnliches: Fehlanzeige. Betrug ja, der wurde geahndet. Aber am Minimum wurde nicht geschraubt. Klar war vielen Deutschen der alten Bundesrepublik somit eines: Ja, wir haben diese Grundsicherung auf niedrigem Niveau. Und ja, sie kostete viele Millionen Mark. Aber wir leisten es uns auch aus einem wichtigen Grund: Es beruhigt uns in zweierlei Hinsicht. Zum einen zeigen wird damit unseren Humanität, unseren christlichen Geist, unser Gemeinschaftsgefühl oder was immer, aber viel wichtiger: Wir bekämpfen damit erfolgreich unsere eigene Angst. Denn Abstiegsängste gab es schon damals. Auch deutliche Fallhöhen. Aber der Boden, auf den man fiel, war lebensrettend gepolstert. Und genau das gehört zum Sicherheitsgefühl dazu: Die Gewissheit, dass, was ich heute gebe, mir morgen auch gegeben werden wird. Dieses Gefühl ist 2018 in diesem Maße nicht mehr vorhanden.

Bundeskanzlerin Angela Merkel, die das alles nicht erlebt hat, die erst nach 1990 Kontakt mit der alten Bundesrepublik bekam, sagte gerade in Davos in etwa, es ginge uns heute nie so gut wie heute. Wer es aus der alten Bundesrepublik besser weiß, weiß nun automatisch: ein mantrahaftes Geschwätz im Davoser Schneeressort, um ihre Katastrophenpolitik irgendwie noch schön zu reden.

Aber nun haben wir kein einziges Zitat aus dieser Maischberger-Sendung mitgenommen. Vielleicht ist das aber auch gar nicht nötig. Auffallend war Dorothea Siems, engagiert betroffen war Christoph Butterwegge, Klaus Seilwinder hat Herz gezeigt, Judith Rakers eines simuliert und eine junge Obdachlose weckte ambivalente Gefühle, während für Maischberger alles etwas glatter lief als sonst, dafür waren die Quoten auch nicht so doll. Nun gut, dankbar darf man sein, dass der Maischberger-Nervfaktor geringer war als sonst und sich fast nur noch auf „Maischberger an sich“ beschränkte. Danke immerhin dafür.

(Bilder: Screenprints: ARD/Maischberger)