Tichys Einblick
"Weltspiegel"-Dokumentation

Chance vertan – Die ARD prangert Hass im Netz an. Mit einer Doku voller Einseitigkeit

Fehlerhaft, manipulativ, einseitig – Mit einer Doku über „Hass und Hetze“ in Zeiten der Corona-Pandemie hätte die ARD zur Deeskalation beitragen können. Stattdessen befeuert die Sendung die Spaltung der Gesellschaft. Von Michael Plog

Screenshot ARD / Weltspiegel

Bereits der Titel lässt nichts Gutes ahnen: „Tod durch Hass im Netz – Der Fall Dr. Kellermayr“ nennt die ARD ihre jüngste „Weltspiegel-Dokumentation“. Der Selbstmord der österreichischen Ärztin wird hier implizit allein dem Hass zugeschrieben, der sie im Internet erreichte. Den gab es zweifellos. Aber die Dokumentation verliert kein Wort darüber, dass vielleicht auch andere Faktoren zu ihrem tragischen Suizid beigetragen haben könnten, etwa ihre psychische Verfassung und Schulden.

Kurzer Rückblick: Am 29. Juli 2022 nahm sich Lisa-Maria Kellermayr das Leben. Vorausgegangen waren widerwärtige Hassnachrichten, mit denen Impfgegner sie bombardierten. Und mindestens eine Todesdrohung, die in ihrer detaillierten Beschreibung des möglichen Szenarios kaum zu ertragen ist.

Was in der Doku jedoch unterschlagen wird: Kellermayr war mehr als eine „selbstbewusste, junge Frau“. Sie machte, das muss bei aller Ehrfurcht vor der Totenruhe angemerkt werden, Stimmung gegen Impfgegner, forderte etwa die Streichung des Arbeitslosengeldes und andere Zwangsmaßnahmen. Mit Fake News agitierte sie regelmäßig gegen Corona-Demonstranten – in einem Fall so extrem, dass sogar die Polizei Oberösterreich in einem Twitter-Tweet reagieren und diese „Falschmeldungen“ richtigstellen musste. In der Doku hingegen heißt es lapidar: „Sie impfte gegen Covid 19. Damit wurde sie zur Hassfigur für Impfgegner.“ Vorsichtig gesagt, ist dies eine recht verkürzte Darstellung.

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Damit keine Missverständnisse aufkommen: Niemand kann und will Gewalttaten rechtfertigen oder auch nur billigen. Nichts und niemand kann Hass und Hetze legitimieren. Aber zum einen muss festgehalten werden: Dies war keine Gewalttat Fremder. Die Doku-Autorin Anna Tillack sagt es: „Es war Selbstmord.“ Doch sie hängt eilig hinten dran: „Oder doch Mord? Immer wieder höre ich diese Frage.“

Tillack ist Österreich-Korrespondentin, deshalb spielt ihre Doku im Nachbarland. Dem Land, in dem kürzlich auch ein Impf-Kritiker zu Tode gekommen ist. Der Biologe Clemens G. Arvay nahm sich am 18. Februar 2023 das Leben, nachdem er jahrelang diskreditiert und öffentlich demontiert worden war. Jeder, der seine Veröffentlichungen verfolgte, weiß, wie sehr der Mann unter den Hass-Angriffen gelitten hat. Sie fanden öffentlich statt, in Zeitungen und im TV. Und auf Wikipedia, wo die Autoren seinen Eintrag über die Jahre zu einem Pamphlet der Propaganda und Fehlinformation umgeschrieben haben. Anonym, selbstverständlich. Auch dies ist Hass im Netz. Auch dieses Beispiel hätte in eine solche Dokumentation gehört. Allein, für Tillack zeigt es die falsche Seite. Die andere Seite, jene der vermeintlich Guten.

In diesem Film ist die Welt schwarzweiß. „Seit Corona ist die Stimmung in diesem Land kälter geworden“, sagt Tillack, aber eben nur auf der Seite der Maßnahmenkritiker. Sie nennt sie „rechte Verschwörungstheoretiker“, und wenn sie friedlich demonstrieren, dann „kapern sie Innenstädte“. Tillack zeigt Bilder solcher Demonstrationen. Friedlich, das erkennt selbst der schläfrigste ARD-Zuschauer. Alles ist ruhig, zu ruhig offenbar für die Kamera. Dann eine Szene, die sogar üble Polizeigewalt gegen einen Senioren zeigt. Der Mann liegt am Boden, Polizisten schlagen auf ihn ein. Das Bild bleibt unkommentiert. Stattdessen zeigt Tillack marschierende Stiefel. Nur wer genau hinsieht, erkennt: Es sind die Stiefel der Polizisten.

Als in Steyr ein Autokorso demonstrierend durch die Stadt fährt, schlägt sich Tillack klar auf die Seite des fassungslosen Bürgermeisters. „Aus meiner Sicht haben die auf dem Stadtplatz nix verloren“, stöhnt der, und: „Wir sind eigentlich eine linke Stadt.“ Dumm nur, dass auch hier alles ruhig bleibt. Selbst die Polizei ist entspannt. Tillack spricht dennoch von Kritik. Die „Guten“ werfen dem Bürgermeister nämlich vor, er habe es den „Neurechten“ nicht schwer genug gemacht.

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Dann nimmt sie sich die neuen, erfolgreichen Alternativmedien vor. Der österreichische Sender Auf1 etwa verbreite „Fake News über das Sterben der Geimpften, die Asyl-Lawine“. Zweifel kommen auf. Diese Doku kann unmöglich von 2023 sein. Und doch: Sie ist es. Nur sind die Nachrichten des Jahres 2022 bis zu Frau Tillack tatsächlich noch immer nicht durchgedrungen. In diesem Film wird weiter geimpft, als sei nichts geschehen. Mehr noch: Den „Great Reset“ nennt Tillack allen Ernstes „ein wirres Gedankenkonstrukt über eine angeblich neue Weltordnung“. Ein Blick auf die Website des Weltwirtschaftsforums sei ihr mit kollegialen Grüßen dringend empfohlen. Tillack aber sagt nur: „Ich frage mich, ob die Menschen das hier alles wirklich ernsthaft glauben?“ Als hätten Fakten irgendetwas mit Glauben zu tun.

Es wird eine einseitige, ausgrenzende Weltsicht vermittelt in dieser Dokumentation, die mit gezielt ausgesuchten „guten“ Protagonisten komplett aus der Zeit gefallen wirkt. Die österreichische „Impfluenzerin“ Natascha Strobl ist eben so dabei wie Anwalt Chan-jo Jun, der als Kritiker der Corona-Kritiker auch kein unbeschriebenes Blatt ist. Eine Ärztin kommt zu Wort, die Selbsthilfekurse für medizinisches Personal anbietet, die – selbstverständlich – von Impfgegnern bedroht werden. Zum Fall Kellermayr sagt die Ärztin: „Es war ja Selbstmord. Ich finde, die Definition passt nicht. War es nicht doch Mord?“

Und dann ist da die Staatsanwältin Theresa Ott aus München. Sie ermittelt gegen einen 59-jährigen Internet-Hetzer „aus der Verschwörungstheoretiker Szene“. Das Verfahren hat sie „zur Chefsache“ gemacht. Mit angsteinflößendem Schmunzeln erzählt Ott, „dass das ja auch die Nachbarn mitkriegen“, wenn morgens um 5 die Polizei die Tür eintritt. Gleich danach darf sie für ein neues Denunzianten-Portal werben, das es so herrlich einfach macht, Hate Speech online zu melden. Wo bleibt der Wunsch nach Deeskalation?

„Einen der Hetzer werde ich selbst suchen gehen. Und meinen Augen nicht trauen“, hatte Autorin Tillack zu Beginn des Films vollmundig versprochen. Der Zuschauer ist gespannt, doch am Ende stellt sich heraus: Beim ersten Versuch ist der Hetzer nicht daheim. Beim Zweiten sagt er durch die Türsprechanlage, er war es gar nicht.

Schließlich kommt noch die Justizministerin Österreichs, Alma Zadić, zu Wort. Hass im Netz „ist eine Bedrohung für unsere Demokratie“, sagt sie. Seltsam, genau die Formulierung, die seit Jahren von Moderatoren aller globalen etablierten Medien wortwörtlich verbreitet wurde: „This is extremely dangerous to our democracy“… Zu diesem weltweiten „Chor“ gibt es erschreckende Memes.

Fazit: Dieser Film hätte zur Deeskalation beitragen können. Stattdessen befeuert er die Spaltung der Gesellschaft. Sogar den Polizei-Tweet zu den Kellermayr-Fake-News kritisiert Tillack. Es sei „ein Tweet mit Folgen“ gewesen. „Denn ab diesem Augenblick entstand eine gefährliche Dynamik.“ Ganz schlimm findet sie, dass etwa die ehemalige Tagesschau-Sprecherin Eva Herman den Tweet auf Telegram geteilt habe. Für Tillack ganz klar: Da wurde „Kellermayr zum Abschuss freigegeben“.

Übrigens ist die Demontage des Clemens Arvay auf Wikipedia nach wie vor online …

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