Tichys Einblick
Debatte: Ein Jahr Krieg in der Ukraine

Den deutschen Medien fehlt ein gutes Bild vom Krieg in der Ukraine 

Die Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine hat vor allem in Talkshows stattgefunden. Entsprechend verzerrt war das Bild, das die Deutschen gezeichnet bekamen. Mit der Lage vor Ort hatte es wenig zu tun.  

Panzer-Wrack aus der Anfangsphase des Krieges in der Nähe von Kiew

IMAGO / ZUMA Wire

„Der Krieg ist zu Ende. Ich hab’s im Fernsehen gesehen.“ Mit diesen Worten beendet Conrad Brean, Berater des US-Präsidenten, den albanisch-amerikanischen Krieg von 1997. Diesen Krieg hat es eigentlich nicht gegeben. Brean hat ihn lediglich mit der Hilfe eines Hollywood-Produzenten inszeniert, um von einem Skandal abzulenken: Der amerikanische Präsident war wenige Tage vor der Wahl beim Sex mit einer minderjährigen Besucherin des Weißen Hauses erwischt worden.

Das ist die Handlung des Films „Wag the Dog“ aus dem Jahr 1997. Der Film geht von der Idee aus, dass der Krieg für die allermeisten Menschen nur aus den Bildern besteht, die sie im Fernsehen zu sehen bekommen. Gib ihnen Bilder vom Krieg, dann gibt es auch einen Krieg. Etwa Bilder von einem Mädchen (Kirsten Dunst), das mit einem Kätzchen über eine brennende Brücke aus einer zerbombten Stadt flieht. Erklärt der Gegner des Präsidenten im Fernsehen, er wisse von der CIA, dass der Krieg beendet worden sei, muss auch der hart gesottene Berater Brean (Robert De Niro) einsehen: „Der Krieg ist zu Ende. Ich hab’s im Fernsehen gesehen.“

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Nun ist „Wag the Dog“ fiktiv. Eine Satire, zu deren Mittel es gehört, zu überzeichnen. Doch an der These, die Robert de Niro alias Brean im Film vertritt, ist etwas dran: Was bleibt für die Menschen von den Kriegen im Bewusstsein, die nicht direkt ins Kriegsgeschehen einbezogen sind? Die Bilder im Fernsehen. Oder heute, 26 Jahre nach „Wag the Dog“, die Bilder im Internet. So haben die Bilder, die den Zuschauer erreichen, weniger einen deskriptiven Charakter – eher einen normativen. Sprich: Die Bilder zeigen dem Zuschauer nicht, was ist, sondern was er sehen soll.

Deswegen gehört das Lenken der gesendeten Bilder zu den wichtigsten Aufgaben der militärischen Führung. Senden Medien aus Sicht der Generäle die falschen Bilder, wirkt sich das aufs Kriegsgeschehen aus. Wie in Vietnam. Der letzte Krieg, in dem sich Journalisten verhältnismäßig frei bewegen und eigenständig Bilder produzieren und Geschichten erzählen konnten: Der Polizeichef von Saigon, Nguyễn Ngọc Loan, erschießt auf der Straße ohne Not einen wehrlosen Vietcong-Anhänger. Die vermeintlich geschlagenen Vietcong erobern in Saigon das Gelände um die amerikanische Botschaft. Das neunjährige Mädchen Phan Thị Kim Phúc flieht nackt, schreiend und von Napalm gezeichnet aus ihrem Dorf. Diese Bilder haben dazu geführt, dass die Stimmung in der amerikanischen Heimat kippte und in der Folge die Armee der Supermacht USA die Aufständischen der Reisanbaunation Vietnam nicht besiegen konnte.

Aus Vietnam haben die Armeen weltweit gelernt. Seitdem bestimmen nicht journalistische, sondern militärische Standards darüber, was über einen Krieg berichtet wird. Der erste perfekt inszenierte Krieg war der Golfkrieg von 1991. Das US-Militär bestimmte, was gezeigt werden durfte: Der Zuschauer zu Hause bekam Bilder zu sehen, wie aus einem Computerspiel. Ein grün-silbernes Wirrwarr am Himmel oder Raketen, die präzise genau das Ziel trafen, ohne die zivile Bevölkerung zu treffen. Erst als der Krieg längt entschieden war, bekamen amerikanische und andere Zuschauer die Bilder von hoffnungslos schlecht bewaffneten irakischen Soldaten zu sehen, die von der amerikanischen Militärmaschinerie buchstäblich überrollt wurden.

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Für den deutschen Zuschauer begann der Krieg in der Ukraine mit Sondersendungen des Frühstücksfernsehens. RTL zeigte schon vorab ukrainische Soldaten, die sich für den russischen Angriff wappneten. Für den Zuschauer, der die Bilder nicht kritisch bewerten konnte, sah das allerdings mitunter aus wie ostdeutsche Dorfjugend, die sich auf dem Parkplatz des Baumarkts in paramilitärischen Spielchen übt.

Nur zeigt sich daran das Kernproblem dieser Bilder: Wer kann sie schon kritisch bewerten, wenn er nicht selbst an der Front war? Um das ehrlich einzuräumen: TE kann das nicht. Uns fehlen die Mittel, um selbst in die Ukraine zu fahren und uns ein Bild von der Lage zu machen. Unabhängig von der Frage, ob und wie uns die kriegstreibenden Parteien das erlauben würden. Wir gehen grundsätzlich davon aus, dass auf RTL oder im öffentlich-rechtlichen Fernsehen keine gefakten Bilder laufen. Allerdings können wir auch nicht den Satz unterschreiben, dass wir ausschließen, dass auf RTL oder im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gefakte Bilder laufen können. Denn dieser Satz ließe sich durch Gegenbeispiele als falsch beweisen. Auf RTL liefen die inszenierten Reportagen des Fälschers Michael Born. ARD und ZDF versuchen selbst bei viel harmloseren Themen regelmäßig ihre Zuschauer zu foppen – etwa, wenn es um Berliner Verkehrspolitik geht und sie grüne Politiker als vermeintlich zufällig vorbeikommende Passanten verkaufen.

Die Wahrheit stirbt im Krieg zuerst, wird als Zitat dem preußischen Militärhistoriker Carl von Clausewitz zugeschrieben. Sicher ist, dass er gesagt hat: „Drei Viertel derjenigen Dinge, worauf das Handeln im Kriege gebaut wird, liegen im Nebel einer mehr oder weniger großen Ungewissheit.“ Die gezielte Falsch-Information dient nicht nur und nicht erst seit Vietnam dazu, die Heimatfront zu manipulieren. Sie soll vor allem auch den Feind irritieren. Es gehört schon zum Einmaleins von Soldaten, Verkehrsschilder abzuschlagen oder in die falsche Richtung zu drehen, wenn feindliche Armeen auf dem Vormarsch sind. Als Israel im Sechs-Tage-Krieg dabei war, Ägypten vernichtend zu schlagen, verbreitete die ägyptische Führung Siegesmeldungen. Israel ließ das zu, um Ägyptens Verbündete zu irritieren. Der jordanische König Hussein glaubte seinem Verbündeten, griff in der Hoffnung auf einen schnellen Sieg in den Krieg gegen Israel ein – und erlebte eine bittere Niederlage.

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Die Erzählung des aktuellen Krieges lautet im Westen, die Ukrainer sind die Guten und die Russen die Bösen. Nachweislich ist: Russland ist in die Ukraine einmarschiert, das ist ein Bruch des Völkerrechts und stellt einen Angriffskrieg dar. Damit ist Russland der Aggressor und die Ukraine die Nation, der andere Nationen zurecht zu Hilfe kommen. Aber gäbe es ehrliche Bilder aus dem Krieg, würde schnell klar: Die Ukrainer sind auch nicht die Guten. Können sie auch nicht sein. Im Krieg gibt es keine Guten. Gute im Krieg nennen sich in der Regel Opfer.

Obwohl die Ukrainer in diesem Sinne gar nicht die Guten sein können, braucht es in Deutschland eine Erzählung vom Krieg, die Menschen an der Heimatfront davon überzeugt, Entscheidungen mitzutragen: der Verzicht auf unmittelbar geliefertes russisches Gas, obwohl Atomausstieg und Energiewende auch so schon die Strompreise nach oben getrieben haben. Die Lieferung von immer mehr und immer schwereren Waffen. Die Aufnahme von einer Million Flüchtlingen.

Also hat auch Deutschland seine Inszenierung des Krieges bekommen. Die war allerdings sehr wenig militärisch. Denn – Hand aufs Herz – wer könnte aus dem Stand sagen, wo genau gerade die Front verläuft? Als es um die Verteidigung von Mariupol ging, wussten vielleicht noch nennenswert viele Menschen, wo gerade wer steht. Aber seitdem schaffen es Sendungen wie Anne Will, eine Stunde lang den Krieg zu behandeln, ohne nur einmal auf Details wie Frontstellungen, militärische Strategien oder Ausgangslagen einzugehen.

ARD und ZDF haben Berichterstatter vor Ort. Die berichten aber aus dem Studio oder – um Authentizität ringend – auf dem Bürgersteig vor dem Studio. Wie viel Mehrwert und tatsächliche Nähe das bringt, ist fraglich. Richtig vor Ort berichtet nur die Bild. Das ist als Projekt grundsätzlich einerseits bewundernswert mutig, andererseits in der Praxis anekdotisch und einseitig. Wer seine Informationen nur aus der Bild bezieht, muss am 24. Februar 2023 davon ausgehen, dass Wladimir Putin abgesetzt und die russische Armee kollabiert ist – so oft, wie die Bild das schon angekündigt hat.

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Neben dem Frühstücksfernsehen mit seinen Bildern, die aussehen, als ob sie auf ostdeutschen Baumarkt-Parkplätzen entstanden seien, findet der Krieg für den deutschen Fernsehzuschauer vor allem in Talkshows statt. Dort geht es aber kaum um den Krieg selbst, sondern meist um die deutsche Befindlichkeit zum Krieg. Allein die abstrakte Frage, ob Kanzler Olaf Scholz (SPD) für einen ukrainischen Sieg oder nur gegen eine ukrainische Niederlage sei, beschäftigte die Deutschen über Monate.

In „Wag the Dog“ beendet der Gegenkandidat des Präsidenten nach der Hälfte des Films den Krieg. Selbst Präsidenten-Berater Brean will jetzt aufgeben. Aber nicht der Hollywood-Produzent Stanley Motss (Dustin Hoffman). Er brauche keinen Krieg, nicht einmal einen fiktiven, um einen Krieg zu inszenieren. Schließlich gebe es noch die Geschichten drum herum und die Mobilisierung der Heimatfront, die sich ins Bild setzen lässt: Und so erfinden sie Gesten und Symbole für den Krieg, womit sich dieser dann sogar finanzieren lässt. Zur Krönung schreibt Willie Nelson alias Johnny Dean noch den patriotischen Rührsong „Good old shoe“.

Solche Gesten und Symbole hat es auch in Deutschland gegeben. Zumindest am Anfang des Krieges: Ein großes Solidaritätskonzert mit rührenden Reden, etwa von TV-Komiker Oliver Kalkofe. Radiosender, die „Give peace a chance“ spielen. Gelb-blaue Fahnen überall. Auch in den Profilfotos auf den sozialen Netzwerken. Doch das hat nicht lange gehalten, müssen sich auch die überzeugtesten Unterstützer der Ukraine eingestehen. Die blau-gelben Fahnen werden zwar heute zum Jahrestag des russischen Überfalls noch einmal herausgeholt, auch auf dem Reichstagsgebäude in Berlin wehen sie heute. Aber eine Erzählung, die für eine breite Mobilisierung sorgt, gibt es so recht nicht mehr.

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Deswegen waren die Reaktionen auf einen Friedensappell im Frühjahr 2022 vergleichsweise entspannt. Und deswegen sind die Reaktionen auf den jüngsten Friedensappell so hysterisch – inklusive der Beschimpfung der Unterzeichner als „Lumpenpazifisten“ und „Nationalpazifisten“. Es gibt keine Begeisterung. Nicht in der Unterstützung der Ukraine. Nicht einmal in der Vorbereitung auf die eigene Verteidigung. Von Scholz’ – als „Wort des Jahres“ aufgepumpter – „Zeitenwende“ ist wenig übriggeblieben, außer einem „Sondervermögen“ von 100 Milliarden Euro – das aber von der Bundeswehr bisher kaum abgerufen wird.

Vielleicht sind die Deutschen nach „Sender Gleiwitz“ und „ab 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen“ noch misstrauischer gegenüber Bildern und Geschichten aus dem Krieg als andere. Etwa als sich Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) in der Ukraine vor einem Autowrack in Pose stellte. Wrackteile in unterschiedlicher Lackfarbe, vermeintlich weggesprengte Teile und ebenso blitzsauber weggeschraubte Teile. Faktenfinder verteidigten das Bild als echt. Als ob sie das von Deutschland aus könnten.

Und als ob es darauf ankäme. Im Krieg wird gelogen. Darüber sind sich mittlerweile viele Menschen einig. So viele, dass einer Kriegsberichterstattung kaum noch geglaubt wird, egal wie glaubwürdig sie ist. Angesichts dessen ist die deutsche Berichterstattung nach nur einem Jahr Krieg längst abgekühlt: keine Sondersendungen des Frühstücksfernsehens, kaum noch Brennpunkte und schon gar keine Festivals. Das muss aber nichts Schlechtes sein. Im Idealfall kann es zu einem sachlichen Umgang mit dem Thema Krieg führen. Aber vorerst haben wir uns dafür entschieden, die Kritiker zu attackieren, mundtot zu machen oder existenziell zu vernichten. Der deutsche Weg sei der Flüchtlingskrieg.

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