Tichys Einblick
Ein kleines Adventswunder

Bei Illner: Ein magischer Hauch von zivilisierter Debatte

Ein AfD-Mann ist zu Gast - und er wird nicht in Grund und Boden geschimpft. Vielmehr erleben wir 60 Minuten harte Debatte mit bürgerlichen Umgangsformen. Das macht fassungslos und hoffnungsvoll.

Screenprint ZDF/Illner

Während und nach der gestrigen Illner-Sendung entlädt sich ein Shitstorm in den sozialen Netzwerken. Und zwar gegen Illner, und zwar von links. Da war man der Meinung, dass dort gestern einerseits ein Schulterschluss zwischen Sahra Wagenknecht und der AfD stattfand, andererseits sei es sowieso ein Skandal, dass man einen AfD-Mann eingeladen und noch dazu so wenig in die Mangel genommen habe. Den Vogel schießt die Bild ab, die titeltExtremisten-Talk bei Illner: AfD und Linke proben den Schulterschluss“. Diese Woche war etwas anders bei Illner, und Sie vermuten zurecht: Gutes. 

Das Thema an diesem Donnerstagabend war: „Rechts, links, quer – wer profitiert von Angst und Spaltung“. Mit im Studio ist tatsächlich ein AfD-Politiker. Aber ganz anders als erwartet, ist er nicht nur da, um vorgeführt zu werden. Tatsächlich darf er ausreden, seine Punkte machen, und ihm wird sogar manchmal zugebilligt, Recht zu haben. Die Debatte ist so zivilisiert, dass man sich gleich mehrmals vergewissern muss, ob man tatsächlich beim ZDF eingeschaltet hat.

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Er ist der Mittelpunkt des Abends: Tino Chrupalla, Mitglied des Deutschen Bundestages und AfD-Bundessprecher. Er ist ruhig, und wirkt entschlossen, sich weder blamieren noch provozieren zu lassen. Er verhaspelt sich vielleicht ein bisschen zu oft, gleitet zeitweise in Politikerphrasen ab, aber auch er lässt sich auf die Debatte ein. Es gehe noch nicht um eine „Corona-Diktatur“ sagt er, aber es gäbe Einschnitte in Freiheiten, die durch das Grundgesetz eigentlich geschützt sein sollten.

Mit dieser Einstellung ist er gar nicht so weit vom nächsten Gast entfernt, der ehemaligen Linken-Chefin Sahra Wagenknecht. Sie sieht die Corona-Maßnahmen vor allem als Gefahr für die unteren Schichten. Sie sagt ebenfalls: „Wir haben keine Corona-Diktatur, aber wir haben auch keine funktionierende Demokratie“. Sie führt den Erfolg der AfD auf Unzufriedenheit in der Bevölkerung zurück, die man durch bessere Politik lindern sollte – von Verbotsdiskussionen zur AfD hält sie nicht viel. Sie sagt, die linken Parteien hätten Fehler gemacht und die unteren Schichten teilweise verloren. Als ein Beispiel dieser Weltfremdheit führt sie Gendersternchnen an, die nennt sie „merkwürdige Ausgestaltungen der Sprache“.

Neben den Vertretern der Randparteien ist auch Herbert Reul zu Gast, der Innenminister von NRW. Der CDU-Mann ist zwischen den Covidiotenverstehern der einsame Krieger für Merkel. Stramm nach Parteilinie verweist er auf die guten Umfrageergebnisse der CDU und betont, „die allermeisten Menschen gehen nicht auf die Straße“, die allermeisten Menschen seien „vernünftig“. Auf die Frage, ob man die Kritiker zu schnell als Covidioten abgestempelt habe, antwortet er mit: „Glaub ich nicht.“ Positionen, für die er sowohl von Links, als auch von Rechts kritisiert wird. Und plötzlich findet der Vertreter der „Volkspartei“ sich in der Opposition wieder.

Und der Himmel stürzt nicht ein

Ebenfalls im Studio ist der Journalist Georg Mascolo. Er nutzte den Auftritt zur Selbstdarstellung und vermittelt mit einer Körpersprache, so als würde er gerade die Relativitätstheorie entdecken, relativ einfache, bekannte Inhalte (das ist zweifelsohne aber auch ein Talent). Doch eins muss man hervorheben: Dass die Politik im Umgang mit Corona definitiv Fehler gemacht hat, lässt er als Konsens erscheinen. Und während er einerseits kritisiert, dass die Demonstranten gucken sollten, mit wem sie demonstrieren, ist er bereit einzusehen, dass es viele normale Bürger sind, die dort auf die Straße gehen. Und zwar nicht nur in bekanntem „Die Sorgen der Bürger Ernst nehmen“-Geheuchle, sondern in dem Sinne, dass sie auch Recht haben.

Es sind ungewohnte Töne, die man im ZDF-Studio zu hören bekommt. Wagenknecht, Illner und auch Mascolo (auch wenn er es wohl nicht zugeben mag) beweisen live vor der Kamera, dass nicht sofort der Himmel einstürzt, wenn man mal ganz normal mit der AfD spricht.

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 Und das heißt nicht, dass man mit den Äußerungen des Abends übereinstimmen muss. Wagenknecht führt natürlich alle Probleme auf den Neoliberalismus und die Konzerninteressen zurück. Aber: Es wäre für sie einfacher und komfortabler, in allen Problemen die Schuld der AfD zu suchen. Trotzdem räumt sie ein, dass die AfD in vielem die Bedürfnisse der Bürger anspricht. Es seien nicht alles „verdorrte Rassisten“, die die AfD wählen, manche hätten bis vor kurzem noch links gewählt.

Maybrit Illner nimmt Tino Chrupalla definitiv härter und kritischer dran, als ihre anderen Gäste, doch auch sie bleibt weitestgehend fair. Chrupalla weist darauf hin, dass die Überfüllung der Intensivbetten nicht in erster Linie an Corona liege, sondern an dem Mangel an medizinischem Personal, das schon seit Jahren runtergespart wird. Und Illner? Stimmt ihm zu, sagt sogar „Absolut!“. Es sind kleine Momente wie diese. Als Mascolo gerade über den Verfassungsschutz und die AfD philosophiert und anmerkt, dass die AfD überall, wo sie nur kann, gegen eine Beobachtung prozessiert, sagt Chrupalla: „Das ist ja auch unser gutes Recht“ – und Mascolo hält inne, schaut Herrn Chrupalla an und gibt ihm Recht. So wie es normale Menschen eben machen würden.

Während die vier anderen hart aber gesittet debattieren, lehnt der zugeschaltete Herbert Reul Vorwürfe, die ihm nicht passen, ab mit: „Das hab ich ja noch nie gehört.“ Bei einem Mann seines Alters vielleicht nicht die beste Art zu argumentieren. Er scheint nicht wie die anderen an Argumenten, sondern ausschließlich an Anschuldigungen interessiert.

Die Sendung zeigt: Sollen sie doch die Überwindung des Kapitalismus und die proletarische Weltrevolution fordern – sie haben ein Recht auf eine Meinung, genau wie wir. Solange man das gegenseitig akzeptiert, herrscht Demokratie. Und so entlässt Illner uns in die Nacht – mit dem weihnachtlich wohligen Gefühl, dass vielleicht doch alles wieder gut werden kann.

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