Tichys Einblick
Vereinte Leidenschaft zur Küchenpsychologie

Bei Illner: Das psychische Innenleben von Wladimir Putin

Norbert Röttgen sagt: „Wenn Russland irgendwie auch gewinnt, wird die Welt die Erfahrung machen, dass sich Krieg lohnt. Dann wird Putin weitermachen. Deshalb muss Russland verlieren und die Ukraine gewinnen.“ Selbst Nietzsche müsste staunen – ob so einer haarscharfen Analyse.

Screenprint ZDF / Maybrit Illner

Putin hat schon wieder eine Rede gehalten. Rund 300.000 Reservisten hat er darin zu den Waffen gerufen und mit einem Atomkrieg gedroht – „Das ist kein Bluff“. Nun könnten diejenigen, die in unserem Land dafür zuständig sind, so etwas zur Kenntnis nehmen, dies tun und alle anderen Kräfte sich um die akuten Probleme kümmern, die es in Deutschland gerade zu bewältigen gibt – was ja auch nur die Lebensmittel- und Stromversorgung des ganzen Landes ist.

Doch dürfte schon seit Donald Trump spätestens klar sein: Unsere Außenpolitikexperten haben alle den Beruf verfehlt. Die Großmächte dieser Welt sind nur ihre zweite Passion, denn ihre wahre Leidenschaft liegt darin, Ferndiagnosen auf Basis des Liebeshoroskops der Brigitte und dem überflogenen Wikipedia-Artikel über die Biographie Freuds (immer abwechselnd intensivere Lektüre, wenn es wieder um Sex geht) zu erstellen. Und deshalb war die gestrige Illner-Sendung auch zu einem Thema, das Deutschland wirklich bewegt: „Der Krieg eskaliert – wie gefährlich ist Putins Schwäche?“

Es ist eine außerordentlich volle Runde an diesem Abend, an jeder Seite hat Illner gleich drei Gäste sitzen, der Tisch wirkt beinahe überfüllt. Besetzt wird der von dem altbekannten Norbert Röttgen, Lars Klingbeil, Parteivorsitzender der SPD, Rüdiger von Fritsch, der ehemalige deutsche Botschafter in Moskau, Sabine Adler, langjährige Osteuropa-Korrespondentin, dem Militärexperten Carlos Masala und der ZDF-Auslandsreporterin Katrin Eigendorf.

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„Es ist eine Eskalation und man sollte sie ernst nehmen“, beginnt Illner die Sendung. Aber keine Sorge: Diese Sendung läuft nicht auf das Fazit hinaus, dass die deutsche Armee sich jetzt einschalten sollte. Denken Sie daran, wofür alle hier sind: ihre vereinte Leidenschaft zur Küchenpsychologie. Und ob da Wunschdenken reinspielt, womit wir wieder irgendwie bei Freud wären, oder nicht: Jedenfalls hat von den anwesenden Gästen keiner mehr so wirklich Angst vor Putin. „Ich glaube, die Gefahr eines Einsatzes von Nuklearwaffen hat sich nicht erhöht durch diese Rede“, sagt Masala ganz trocken dazu.

Es sind sich alle einig, dass Putin sehr schwach ist. Damit ist die siebenköpfige Runde im Studio nicht allein. Schon dass Aserbaidschan erneut Armenien angegriffen hat, lässt sich auf den Gedanken zurückführen, dass der armenische Verbündete Russland aktuell schwer zur Hilfe eilen kann. Da obendrauf kommt jetzt die ominöse Rede Putins. Die von ihm ausgerufene Teilmobilmachung hat den Krieg erst so richtig in seine Bevölkerung gebracht. Bisher scheinen viele in Russland nicht mehr mit dem Ukraine-Konflikt zu tun gehabt zu haben als wir, die ja eigentlich unbeteiligt sind. Der Ruf nach Hunderttausenden Reservisten hat vielen Angst gemacht, einige beginnen bereits, das Land zu verlassen, um dem Krieg, in dem es aktuell nicht gut zu laufen scheint, zu entkommen. Und dann auch noch ein Krieg, der – wenn man Putin glaubt – in einen Atomkrieg ausarten kann.

„Putin wird 300.000 schlecht ausgebildete Männer an die Front schicken und damit jede Menge Kanonenfutter“, ist die Einschätzung des Militärexperten Masala. Eine Aussicht, die kein Russe sich wünschen dürfte. Masala glaubt, dass Putin sich daher mit dieser Aktion ein Eigentor geschossen hat. Nicht nur zeigt er damit, dass seine Mission in der Ukraine nicht so glimpflich verläuft, wie zunächst propagiert wurde, andererseits verspielt er damit Sympathie und Rückhalt in der Bevölkerung.

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Der ehemalige Botschafter Rüdiger von Fritsch diagnostiziert: „Putin war noch nie so unter Druck wie jetzt. International wie auch innenpolitisch. Das führt zu dem tragischen Schluss, dass Putin diesen Krieg nicht verlieren darf, denn er kämpft um seine eigene Macht.“ Aber während bei von Fritsch wieder die Angst vor dem in die Enge getriebenen Irren mit dem Atomknopf durchscheint, sieht Kollege Röttgen das Ganze gelassener: „Ich glaube, dass seine Schwäche weniger gefährlich ist als seine Stärke.“ Die Stärke ist gefährlicher als die Schwäche – ein Gedankengang, der auf so vielen Ebenen gleichzeitig geschieht, dass wir die Sphäre des Freud eigentlich schon längst überschritten haben und uns eher schon auf Kant zubewegen.

Doch er setzt sogar noch einen drauf: „Wenn Russland irgendwie auch gewinnt, wird die Welt die Erfahrung machen, dass sich Krieg lohnt. Dann wird Putin weitermachen. Deshalb muss Russland verlieren und die Ukraine gewinnen.“ Nietzsche kann nur staunen – ob so einer haarscharfen Analyse. Ach, was rede ich – Sätze wie solche hörten wir so zweifellos zuletzt bei Sokrates und sie suchen heutzutage vergeblich ihresgleichen. Niemand hat eine Lage jemals so psychologisch, strategisch und philosophisch brillant zugleich durchschaut und auf den Punkt gebracht.

Was daraufhin folgte, war ein Duell für die Geschichtsbücher. SPD und CDU – jahrelang vereint unter der großen Angela Merkel, nun in der Opposition gegenübergestellt. Stromkrise, Wärmekrise, Inflationskrise und ein Krieg, der gerade viel interessanter ist, lassen sich mehr oder weniger direkt auf ihr gemeinsames Handeln zurückführen. Wie werden sie reagieren? Die Antwort ist klar: Keiner war es. So wälzen Röttgen und Klingbeil die Verantwortung ab, bis Letzterer die Hand zur Versöhnung ausstreckt und schlussendlich sagt: Wir waren das beide.

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So viel Verantwortung hat zuletzt nur Julius Caesar übernommen, als er unverhofft zum Bundeskanzler gewählt wurde, nachdem er bereits totgeglaubt war – durch seine Skandale ermordet. Und obwohl man den ehemaligen Vizekanzler zum Staatsoberhaupt ernannt hatte, erhofften sich die Römer eine neue Regierung, Caesar wollte sich völlig neu erfinden. Doch er gestand seine Fehler in seiner berühmten Ansprache bei Waterloo ein und wir alle wissen, wie das für ihn endete. Klingbeil ist somit zweifellos in große Fußstapfen getreten.

Diese wird er auch hervorragend füllen, denn er fährt nach dem Motto direkt fort: „Wir müssen eine neue Ost-Politik entwickeln, in der wir beispielsweise Polen und das Baltikum mehr mit einbeziehen.“ Ein Vordenker, der sich kaum vergleichen lässt. Warum nicht schon längst die Zusammenarbeit mit Polen? Was sollte dem im Weg stehen, die deutsche Politik ist der polnischen Regierung schon lange engstens verbunden, seit dem Kniefall von Olaf Scholz in Warschau, das muss man wissen. Niemand hat jemals ein schlechtes Wort über Polen oder die dortige Regierung verloren, keiner hat etwa die dortige Rechtsstaatlichkeit in Frage gestellt und tut jetzt so, als wäre nichts gewesen, weil man zufällig die gleichen Verbündeten hat. Dass Klingbeil nun also für noch engere Zusammenarbeit plädiert, ist längst überfällig.

Rüdiger von Fritsch sieht derweil bei seinem Fernpatienten Putin noch Heilungs- und Therapiemöglichkeiten: „Es war und es bleibt grundsätzlich richtig, zu versuchen, gemeinsam mit Russland Zukunft auf der eurasischen Landmasse zu gestalten.“ Zuvor hatte er eine These auf- und Diagnose gestellt, die nicht nur nachträglich den Zweiten Weltkrieg gleich nochmal beendet, sondern auch den Welthunger ungeschehen gemacht und der NASA ermöglicht hat, Kontakt zu Außerirdischen aufzunehmen: „Putin ist nicht verrückt oder irrational. Er handelt nach einer anderen Rationalität und in dieser ist er sehr rational. Und dazu gehört auch die mögliche Nutzung von Nuklearwaffen.“

Lesen Sie bald sein großes Werk: „Niemand hat von sich jemals geglaubt, der Böse in der Geschichte zu sein“, er könnte da etwas ganz Heißem auf der Spur sein. Auch Sie werden froh sein, Ihre Zeit mit dem Innenleben von Putin verbracht, statt von unseren Politikern gar eine Lösungsmöglichkeit für Ihre immer weiter steigenden Stromrechnungen vorgelegt bekommen zu haben.